Subsidiarität

  1. I. Sozialethik
  2. II. Wirtschaftswissenschaften
  3. III. Politikwissenschaft
  4. IV. Rechtswissenschaft

I. Sozialethik

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1. Anliegen und Leitidee

Das Konzept der S. (von lat. subsidium, militärische Hilfs- oder Reservetruppe) speist sich aus verschiedenen Traditionslinien und entfaltet vielfältige Bezüge. Klassischer Bezugspunkt in der katholischen Soziallehre ist die Enzyklika „Quadragesimo anno“: 79 von Pius XI. (1931) (Sozialenzykliken). Dieser zufolge dürfen übergeordnete oder größere soziale Einheiten die Handlungsfähigkeit kleinerer Einheiten und von Individuen nicht beeinträchtigen und müssen diese bei Bedarf unterstützen.

Als ethisches Strukturprinzip formuliert das S.s-Prinzip eine normative Leitidee für den Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung. In der katholischen Gesellschaftslehre bzw. Sozialethik (Christliche Sozialethik) ist der Grundsatz der S. in der Lehre von den Sozialprinzipien angesiedelt und bildet zusammen mit den Prinzipien der Personalität (Personprinzip) und der Solidarität die klassische ordnungsethische Trias. Während die ersten beiden inhaltlich ausgerichtet sind, klassisch gesprochen die Individual- und die Sozialnatur des Menschen in den Blick nehmen, richtet das S.s-Prinzip sein Augenmerk auf das Wie, auf die Ausgestaltung des institutionellen Gefüges der Gesellschaft. Diesbezüglich sind die Gesellschaftsvorstellung sowie der normative Anspruch näher zu beleuchten:

a) Die Enzyklika geht vom Bild eines stufenförmigen Aufbaus der Gesellschaft aus. Aus Einzelpersonen setzen sich die kleineren und aus diesen die größeren Gemeinschaften zusammen. An der Spitze des pyramidenförmig gedachten gesellschaftlichen Gefüges steht der Staat als umfassende soziale Größe und mächtigste Hilfsinstanz. In einem ähnlichen Bild liegen um die Person als Mittelpunkt in konzentrischen Kreisen die immer größer werdenden Gemeinschaften, d. h. die Lebensbereiche oder „Lebenskreise“, in denen sich das Individuum bewegt. Der Staat bildet den äußeren Rahmen des Sozialen; aus der „Rahmennatur“ ergeben sich seine Aufgaben und Grenzen.

Das sozialtheoretische Konzept des hierarchisch gestuften gesellschaftlichen Aufbaus, das kontrovers diskutiert wird, hat Implikationen für den Anwendungsbereich des S.s-Prinzips. Subsidiäre Verpflichtungen bestehen nach diesem Modell nur zwischen einander über- bzw. untergeordneten sozialen Einheiten mit einem gemeinsamen Aufgabenkreis (konkurrierende Kompetenz), etwa zwischen Kreis- und Orts- oder zwischen Gesamt- und Fachverband.

b) Das S.s-Prinzip formuliert Forderungen mit verschiedener Modalität. In negativer Hinsicht stellt es ein doppeltes Verbot auf. Die Handlungsfelder des Individuums sind vor dem Eingriff von Gruppen und Organisationen zu schützen. Übergeordnete Instanzen dürfen nicht in den Aufgabenbereich der untergeordneten eingreifen und deren Angelegenheiten an sich ziehen. Kleinere soziale Einheiten agieren aus eigenem Recht und nicht aufgrund einer Delegation von Aufgaben und Befugnissen.

Dieses Kompetenzanmaßungsverbot wird von einem Unterstützungsgebot begleitet. Im Sinn der allgemeinen Idee der Befähigung sollen übergeordnete soziale Gebilde bei kleineren Instanzen wie auch bei den einzelnen Menschen Kräfte wecken und Entwicklung ermöglichen, weshalb das S.s-Prinzip z. T. auch als ein allgemeines pädagogisches Prinzip angesehen wird. Erforderliche Unterstützung soll über die Bewältigung des akuten Problems hinaus als Hilfe zur Selbsthilfe den jeweiligen Akteur in die Lage versetzen, seinen Aufgaben nachzukommen. Dazu sollen die intermediären Instanzen, deren weitgehendes Wegbrechen im Zuge der Modernisierung „Quadragesimo anno“ beklagt, geschützt bzw. wieder eingerichtet und die Staatstätigkeit begrenzt werden. Das S.s-Prinzip ist in diesem Sinn ein „Strukturgesetz der gesellschaftlichen Vielfalt“ (Utz 1956: 79). Allerdings ist stets im Einzelfall zu bestimmen, welche Instanz über die adäquate Handlungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz verfügt. Getragen werden diese Forderungen von einer impliziten Metanorm, der zufolge alle gesellschaftliche Tätigkeit dem Einzelnen dienen muss.

In dieser doppelten Ausrichtung von Schutz und Unterstützung, Kompetenzverteilung und -begrenzung zielt das S.s-Prinzip auf die Bewahrung von Eigenständigkeit und Kompetenz der Einzelnen wie der partikulären sozialen Gebilde. Zur Begründung werden zwei Argumente vorgebracht, die sich auf das Verhältnis zwischen verschiedenen sozialen Einheiten beziehen, während das Eigenrecht des Individuums axiomatisch vorausgesetzt wird. Dem ersten, genuin ethischen Zugang zufolge stellt es einen Verstoß gegen die Gerechtigkeit dar, den untergeordneten Instanzen ihre Zuständigkeiten zu nehmen. Ideengeschichtlich bildet der scholastisch-metaphysische Grundsatz „omne agens agendo perficitur“ den anthropologischen Hintergrund: Jedes auf Betätigung hin angelegte Wesen entfaltet und vervollkommnet sich, indem es sich betätigt. Es bietet sich aber auch eine sozialanthropologische Auslegung an: Kleinere soziale Einheiten sind dem Einzelnen näher, er kann sie leichter mitgestalten, sich in ihnen besser entfalten und gelingende Sozialbeziehungen pflegen. Damit weist dieser Begründungsansatz, der sozialen Gruppen oder Institutionen ein genuines, auch gegenüber dem Individuum durchzusetzendes Eigenrecht zuerkennt, jeglichen Kollektivismus zurück und entspricht den methodischen Erfordernissen des legitimatorischen Individualismus.

Der zweite, im weiteren Sinne sozialwissenschaftliche Begründungszugang legt dar, dass ein solch übergriffiges Vorgehen nachteilig ist, und appelliert an das kollektive Eigeninteresse. Lokale Akteure können aufgrund gewachsener Sozialbeziehungen und eines passgenauen Wissens viele Probleme besser bewältigen oder bereits in ihrer Entstehung verhindern. Die Stärken einer im Instanzenzug niedrigeren Einheit sind Problemnähe, Lösungskompetenz, Effizienz, Flexibilität, Lernfähigkeit, Bürgernähe, Weckung bürgerschaftlicher Verantwortung sowie Entlastung des Staates.

Beide Begründungen sind nicht von einer spezifisch religiösen Weltanschauung abhängig; auch die Enzyklika nennt das S.s-Prinzip ausdrücklich einen „sozialphilosophischen“ Grundsatz.

2. Das Doppelgebot der Subsidiarität

Die Rede von S. ist zu einem Gemeingut geworden. Doch dieser Erfolg zieht auch Kritik nach sich. Neben inhaltlich begründeter Zurückweisung sowie Skepsis gegenüber der Erforderlichkeit des S.s-Prinzips angesichts allgemein anerkannter alternativer Grundsätze wird die begriffliche Unklarheit des Prinzips bzw. vieler Bezugnahmen auf S. bemängelt, die häufig jeweils nur einen Aspekt herausgreifen.

Das S.s-Prinzip ist interpretatorisch offen, weil es mit mehreren Zielen in Verbindung gebracht werden kann, die jeweils eine ähnliche Ausrichtung aufweisen: Freiheit, Personalität und Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen bzw. partikulärer sozialer Gruppen und Organisationen, ferner Gemeinwohl mit den Aspekten des Schutzes des soziokulturellen Nahbereichs und der kulturellen Vielfalt, der Funktionsfähigkeit, Effektivität und Effizienz der Staatsverwaltung (Verwaltung) und von Innovation und Fortschritt durch Wettbewerb sowie schließlich gesellschaftlicher Zusammenhalt insb. der Regionen in einem Bundesstaat.

Die Interpretationsvielfalt resultiert auch aus einer semantischen Zweideutigkeit. „Subsidiär“ kann zum einen mit „hilfebringend“ übersetzt werden, zum anderen mit „aushilfsweise“, „ergänzend“, „nachrangig“. In der Tradition der katholischen Soziallehre und Sozialethik werden beide Aspekte zusammen gesehen. Das S.s-Prinzip ist weder ein Gegen- noch ein Begrenzungskonzept zum Solidaritätsprinzip, sondern thematisiert die Gestaltung gesellschaftlicher Solidarbeziehungen. Es fordert nicht nur die Achtung, sondern ebenso die Förderung der Eigenständigkeit der Einzelnen wie auch der mannigfaltigen Gemeinschaften.

Im Unterschied dazu steht in liberalen und v. a. libertären wie auch in konservativen S.s-Konzepten oft der Aspekt der Eigenverantwortung (Veranwortung) isoliert und ohne ausreichende Beachtung ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen im Mittelpunkt. Damit verbunden wird zuweilen eine pauschale Kompetenzvermutung zugunsten deregulierter Marktprozesse, sodass das S.s-Prinzip als „Riegelprinzip“ und „Funktionssperre“ für staatliches Handeln ausgelegt wird. Sozialpolitisch kann eine solche „neosoziale Wende“ dazu führen, dass Eigenverantwortung entgegen dem Anspruch individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität vollständig in den Dienst der Sozialverantwortung gestellt wird.

3. Entwicklungsgeschichtliche Bezüge

In unterschiedlichen Traditionen finden sich vielfältige Vorläufer zum S.s-Prinzip wie auch ähnliche Konzepte. Gleichwohl dürfen die Unterschiede in Geltungsanspruch, Reichweite, Begründung und Denkrahmen nicht übergangen werden. Bezüge bestehen zum Liberalismus, mit dem die katholische Soziallehre das Anliegen teilt, die Staatstätigkeit zugunsten der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ordnungspolitisch zu begrenzen und berechenbar zu machen, sowie zum Föderalismus (z. B. Johannes Althusius, Samuel Freiher von Pufendorf, Alexis de Tocqueville, Abraham Lincoln). Ferner gibt es Verbindungen zur politischen Anthropologie von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin, der zufolge der Mensch aufgrund seiner Vernunftnatur auf freie Selbsttätigkeit angelegt ist, aufgrund seiner Sozialnatur aber erst in der Gesellschaft seine Wesensbestimmung zu erreichen vermag. Nicht zuletzt weist der deutsche staats- und verfassungsrechtliche Diskurs zahlreiche Berührpunkte zum S.s-Konzept auf.

Im historischen Überblick über die vergangenen 200 Jahre erscheint das Konzept der S. v. a. in zwei Zusammenhängen: im begrenzten Diskurs über die Ausgestaltung der Wohlfahrtspflege sowie im allgemeinen Diskurs über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Einen entscheidenden ideen- und sozialgeschichtlichen Hintergrund von „Quadragesimo anno“ bildet die soziale Frage des 19. Jh. Die um die Jahrhundertmitte entstehende sozialreformerische Richtung des sozialen Katholizismus (Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Franz Hitze) verband ähnlich wie die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (Leo XIII., 1891) die Forderung nach Selbsthilfe der Arbeiter mit der Forderung nach staatlichen Schutzgesetzen. Ein weiterer entstehungsgeschichtlicher Kontext ist die Ausbreitung des eher staatsfernen katholischen Vereinswesens im Kaiserreich, das durch das S.s-Prinzips geschützt werden sollte. Das konkrete Anliegen von „Quadragesimo anno“ war die doppelte Zurückweisung des Totalitarismus der damaligen Zeit, der zunehmenden Verbreitung der modernen Massenorganisationen mit ihren Merkmalen der Bürokratisierung, der Verrechtlichung, der Funktionärselite und der Anonymisierung sowie des oft als Individualismus bezeichneten Liberalismus. Das S.s-Prinzip wurde seit seiner expliziten Formulierung in „Quadragesimo anno“ in zahlreichen lehramtlichen Texten aufgegriffen, so etwa in „Mater et magistra“ (Johannes XXIII., 1961, Nr. 53), „Pacem in terris“ (Johannes XXIII., 1963, Nr. 74), „Octogesima adveniens“ (Paul VI., 1971, Nr. 46), „Centesimus annus“ (Johannes Paul II., 1981, Nr. 48), „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (EKD/DBK, 1997, Nr. 221) oder „Deus caritas est“ (Benedikt XVI., 2005, Nr. 28).

Die sogenannten neuen Debatten um das S.s-Prinzip in den 1950er/60er sowie in den 1980er/90er Jahren hatten zum einen politisch-praktische Auslöser wie Reformen der Sozialpolitik oder die Gründung der EU, zum anderen wurden Veränderungen in der Gesellschaftstheorie berücksichtigt. In einer funktional differenzierten Gesellschaft sind anders als in einer noch ständisch konzipierten Gesellschaft „Lebenskreise“ nicht mehr konzentrisch zu denken, sondern als Vielfalt sich überlappender, interdependenter Handlungsfelder mit je eigenen soziokulturellen Gesetzmäßigkeiten. S. wird in dieser Hinsicht auf die Sicherung des Gemeinwohls bezogen als Prinzip der „Koordination der Funktionserfüllung und funktionalen Zuständigkeit zwischen Kultursachbereichen“ (Koslowski 1997: 46). Dadurch wird der Anspruch des S.s-Prinzips beträchtlich ausgeweitet. Dies entspricht dem strukturellen Gefüge der entwickelten Industriegesellschaft deutlich besser, erhöht allerdings die Begründungslast und verlangt eine genauere Analyse des Modus der Hilfeleistung bei der Funktionserfüllung.

Diese steuerungstheoretische Rekonstruktion (Steuerung) von S. problematisiert das Verhältnis der sozialpolitischen bzw. der gesellschaftlichen Steuerungsinstanzen Staat, Markt und Zivilgesellschaft sowie der Steuerungsformen und -medien. S. wird unter dem Blickwinkel von Kontextsteuerung oder aktivierter Selbststeuerung der sozialen Akteure gesehen. Dabei kann wiederum die Bedeutung des Individuums als sozialethische Metanorm in die Diskussion eingebracht werden. Der Einzelne muss nämlich seine Mitverantwortung und seinen Mitgestaltungsanspruch nicht allein gegen den Staat, sondern ebenso gegenüber den systemischen gesellschaftlichen Mächten wie Markt, Medien oder Wissenschaft behaupten. Das S.s-Prinzip erhebt angesichts dieser Konstellation die Forderung, die gesellschaftlichen Strukturen so zu gestalten, dass das Individuum gesellschaftliche Verantwortung übernehmen kann.

Weitergeführt wird dieser Gedanke oft mit Bezug auf das Konzept der Zivilgesellschaft. Zwischen Staat und Wirtschaft eröffnet sich mit der Zivilgesellschaft ein Zwischenraum für individuelle und kollektive Betätigungen, der genutzt wie auch geschützt, gestärkt und bei Bedarf ausgeweitet werden soll, wie bereits „Quadragesimo anno“ anmahnte. Das S.s-Prinzip nimmt in dieser Hinsicht den Staat, Unternehmen und die gesellschaftlichen Gruppierungen und Initiativen in die Pflicht, ein lebendiges und plurales gesellschaftliches Miteinander zu entfalten, um so dem Einzelnen in seiner Individualität möglichst viele Betätigungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Von evangelischer Seite wird das S.s-Prinzip teils skeptisch gesehen, insb. wegen seiner entstehungsgeschichtlich gegebenen naturrechtlichen (Naturrecht) Einbindung sowie der möglichen Nutzung als Rechtfertigungsgrundlage für Gruppenegoismen, etwa die Bevorzugung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände bei der Neufassung des BSHG 1961. Verschiedene EKD-Denkschriften erachten es zwar als sinnvolles Prinzip, ohne ihm jedoch einen systematisch zentralen Stellenwert zuzuschreiben. Nicht zuletzt lässt sich auch die synodale Verfassung in der Tradition der reformierten Kirchen konzeptuell mit dem S.s-Prinzip in Verbindung bringen.

4. Gesellschaftliche Relevanz

Die gesellschaftspolitische Relevanz des S.s-Prinzips lässt sich insb. in Deutschland aufzeigen. Neben einem direkten Einfluss auf das Sozialrecht zeigt sich eine ideelle Beeinflussung des GG, wobei nach mehrheitlicher Auffassung dem S.s-Prinzip kein Verfassungsrang zukommt. Das S.s-Prinzip ist an verschiedenen Stellen unmittelbar in einfaches Gesetzesrecht umgesetzt oder entfaltet seine Bedeutung als Strukturprinzip eines gesetzlichen Regelungsbereichs, u. a. in der Kommunalverfassung, im Gesundheitswesen, im Erziehungs- und Bildungsbereich, in der Selbstverwaltung im Berufswesen oder in der Universitätsverwaltung. In Österreich findet sich das S.s-Prinzip in der Landesverfassung von Vorarlberg (Art. 7 Abs. I). Die direkte Demokratie und die große Eigenständigkeit der Kantone in der Schweiz entsprechen ebenfalls dem S.s-Prinzip, ohne dass sie aber auf dieses zurückgeführt werden.

a) Sozialpolitik: Der Einfluss des S.s-Prinzips auf die Sozialpolitik und die Struktur des Sozialstaats während der Weimarer Republik und daran anknüpfend in der BRD ist unverkennbar, insb. im JWG von 1953 und im BSHG von 1961, das den freien Trägern der Sozialhilfe bzw. der Jugendhilfe einen 1967 auch vom BVerfG bestätigten Vorrang vor staatlichen Trägern einräumt. Ebenso favorisiert das 1990 verabschiedete KJHG eine plurale Trägerlandschaft. Im Tarifvertragsrecht zeigt sich das S.s-Prinzip insb. in der Tarifautonomie der Sozialpartner (Sozialpartnerschaft).

Das S.s-Prinzip wird als „Zuständigkeitsgesetz der konkurrierenden Leistungsträger in Staat und Gesellschaft“ (Isensee 1968: 122) gefasst. Eine verbändeorientierte Interpretation räumt im Rahmen einer neo-korporatistischen Organisation von Wohlfahrtspflege (Korporatismus) frei-gemeinnützigen oder inzwischen auch privat-gewinnorientierten Organisationen einen Vorrang vor staatlichen Instanzen ein. Dementsprechend dient im sozialpolitischen Diskurs die Rede von S. auch der Durchsetzung spezifischer Gruppeninteressen (Interesse), seit den 1950er Jahren v. a. der großen Wohlfahrtsverbände gegenüber den Kommunen (Gemeinde), in den 1970ern neu entstandener kleiner Selbsthilfegruppen und Initiativen gegenüber den etablierten Verbänden, schließlich seit den 2000er Jahren marktförmiger und gewinnorientierter Akteure gegenüber dem herkömmlichen Solidargedanken und dem Umlageverfahren der Sozialversicherungen.

b) Föderalismus und Europa: Oftmals wird S. als Föderalismus gedeutet, was insofern seine Berechtigung hat, als das Verhältnis von über- und untergeordneten sozialen Einheiten mit Blick auf Bestands- und Kompetenzbewahrung sowie Zuständigkeiten und Unterstützungsleistungen geregelt wird. Dezentralisierung (Dezentralisation) und föderale Gliederung mit der Leitidee der Einheit in Vielfalt sind gleichsam eine räumliche Konkretisierung von S., erfassen aber nicht deren gesamte Bedeutungsbreite.

Die europarechtliche Bedeutung des S.s-Prinzips wird kontrovers diskutiert. In den Auslegungen schwankt sein Status zwischen Strukturprinzip und Formelkompromiss. Es dient in den Dokumenten und Diskussionen gleichermaßen zur Legitimation, zur Ausgestaltung und zur Begrenzung des europäischen Erweiterungs- und Vertiefungsprozesses (Europäischer Integrationsprozess), wobei sich diese Zielsetzungen durchaus ergänzen können.

Die Bildung einer supranationalen Einheit (Supranationalität) wie der EU ist grundsätzlich vom sozialethischen S.s-Prinzip gedeckt. Die Forderung nach einer gestuften Zuständigkeit im Instanzenzug enthält unausgesprochen auch die Möglichkeit, eine neue oberste Instanz zu schaffen, wenn die bestehende Höchstinstanz für eine neue Herausforderung nicht ausreichend gerüstet ist. Ähnlich spricht die Friedensenzyklika „Pacem in terris“ (Johannes XXIII., 1963, Nr. 74) von der Anwendung des S.s-Prinzips auf internationale Beziehungen. Ein Vorläufer dieser Idee ist die Forderung nach Etablierung eines Völkerbunds in Immanuel Kants Friedensschrift von 1795. Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege erweist sich die EU als ein Projekt, das den Frieden zumindest in Europa besser zu sichern vermag als nationalstaatliche Akteure. Auch die zunehmende ökonomische Globalisierung sowie die globalen Umweltprobleme überfordern den einzelnen Staat.

Ausgehend vom S.s-Prinzip lassen sich Kriterien für die inhaltliche Zuständigkeit der EU formulieren. Sie sollte grundsätzlich nur in den Bereichen tätig werden, die einer einheitlichen Regelung bedürfen. Dies trifft in unterschiedlichem Maß auf Bereiche der Außen-, Friedens- und Sicherheits-, der Wirtschafts-, Sozial- und Verbraucherschutz- oder der Umweltpolitik zu. Im Bildungs- oder Kultursektor könnte eine EU-Zuständigkeit hingegen zu einer Verarmung der kulturellen Vielfalt führen.

II. Wirtschaftswissenschaften

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1. Ökonomisches Begriffsverständnis

Im ökonomischen Kontext dient S. als normatives Kriterium zur Legitimation staatlicher Eingriffe ins Marktgeschehen, zur Bestimmung der dafür zuständigen staatlichen Instanz und zur Wahl des eingesetzten politischen Instruments. Nach ökonomischem Verständnis ist S. dabei in erster Linie als normatives Prinzip zur Vermeidung von Zwang zu interpretieren. Es soll demnach nur so viel kollektiver Zwang, wie zur Problemlösung im Interesse aller Akteure nötig ist, aber so wenig kollektiver Zwang wie möglich ausgeübt werden.

Als idealtypischer Bezugspunkt der ökonomischen Sicht auf S. dient die freiwillige, informierte und wechselseitig vorteilhafte Markttransaktion, die es jedem Transaktionspartner selbst überlässt, mit wem er zu welchen Bedingungen kooperiert. Der Staat soll dementsprechend ins frei ablaufende Marktgeschehen „nur da eingreifen, wo seine Mithilfe in keiner Weise zu entbehren ist“ (Eucken 2004: 348). Dies ist aus ökonomischer Sicht insb. dann der Fall, wenn Marktversagen, etwa in Form von Kartellabsprachen, Betrug oder unkompensierten Umweltschäden, vorliegt. Ist ein Staat wie Deutschland föderal organisiert oder Teil eines organisierten Staatenverbundes wie der EU, sollen nach dem S.s-Prinzip möglichst viele Kompetenzen auf der untersten, d. h. z. B. auf der kommunalen Ebene, angesiedelt sein. Höhere Ebenen, wie die supranationale Ebene (Supranationalität), sollen nur eingeschaltet werden, insoweit sich ein gemeinsames Problem auf der nächstniedrigeren Ebene, also in den EU-Mitgliedstaaten, nicht lösen lässt. Stehen dem zuständigen politischen Akteur mehrere erfolgversprechende Lösungsansätze zur Verfügung, erfordert S. außerdem die Wahl desjenigen Ansatzes, der mit dem geringstmöglichen Maß an Zwang auskommt.

Da selbstgetroffene Entscheidungen die eigenen Interessen i. d. R. zuverlässiger abbilden dürften als durch eine dritte Instanz getroffene Entscheidungen, kann das S.s-Prinzip auch als Effizienzkriterium verstanden werden. Je mehr Entscheidungen in den Händen der unmittelbar von den Folgen betroffenen Personen verbleiben, desto weniger Reibungsverluste, z. B. in Form von Fehlentscheidungen oder Machtmissbrauch durch politische Repräsentanten oder das Management eines Unternehmens, dürften zu verzeichnen sein.

2. Anwendungsbereiche des Subsidiaritätsprinzips aus ökonomischer Sicht

Im ökonomischen Kontext wird S. als Prinzip zur Bestimmung legitimer staatlicher Eingriffe ins Marktgeschehen herangezogen. Darüber hinaus dient es zur Verortung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten in föderalen Systemen sowie zur Wahl des minimalinvasivsten Ansatzes aus einer Vielzahl verfügbarer Konzeptionen zur Verfolgung politischer Ziele.

2.1 Grenzziehung zwischen Markt und Staat

Nach dem S.s-Prinzip ist die marktliche Zuteilung (Allokation) knapper, sogenannter privater Güter, wie bspw. Lebensmittel, die sich durch die Möglichkeit auszeichnen, exklusive Eigentumsrechte (Eigentum) zu definieren (Ausschließbarkeit von der Nutzung) und die im Extremfall nur von einer Person gleichzeitig konsumiert werden können (Rivalität in der Nutzung), allen anderen bekannten Zuteilungsverfahren vorzuziehen. Dies ist der Fall, weil der idealtypische Markt jedem einzelnen Marktteilnehmer das größtmögliche Maß an Entscheidungsfreiheit überlässt und er keinem von ihnen erlaubt, anderen ein Tauschgeschäft oder dessen Bedingungen aufzunötigen. Staatliche Eingriffe ins frei ablaufende Marktgeschehen sind, nach der ökonomischen Interpretation des S.s-Prinzips, demzufolge nur zur Verhinderung oder Beseitigung von Marktversagen zulässig, also in Fällen, in denen die Funktionsbedingungen theoretisch vollkommener Märkte nicht erfüllt sind. Dies gilt insb. für die Bereitstellung von öffentlichen Gütern, wie öffentlicher Sicherheit, und Allmendegütern, wie gemeinschaftlich genutzten natürlichen Ressourcen, die sich u. a. dadurch auszeichnen, dass niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen wird. Unter dieser Bedingung ist es für jeden Nutzer rational, das Gut zwar in Anspruch zu nehmen, die Kosten seiner Bereitstellung bzw. Erhaltung aber anderen zu überlassen. Im Falle einer marktlichen Organisation kann dies zu einer systematischen Unterversorgung mit dem entsprechenden Gut führen. Da die Nutzer eigentlich ein höheres Bereitstellungsniveau bevorzugen, dazu aber aufgrund einer Trittbrettfahrerproblematik auf Basis dezentraler Koordination nicht in der Lage sind, gestattet das S.s-Prinzip eine Bereitstellung durch die nächsthöhere Instanz wie z. B. den Staat. Durch die Erhebung von Steuern zur Finanzierung des öffentlichen Gutes kann dieser für ein ausreichendes Bereitstellungsniveau sorgen. Diese Form von Zwang ist mit dem S.s-Prinzip vereinbar, weil sie im Interesse aller betroffenen Individuen erfolgt und den Einzelnen lediglich vor der Ausbeutung durch die jeweils anderen schützt. Allerdings darf der entsprechende staatliche Eingriff höchstens in dem Umfang geschehen, der zur Versorgung mit der gewünschten Menge nötig ist, da andernfalls die Freiheit der Betroffenen über das durch sie gebilligte Maß hinaus beschnitten würde.

2.2 Kompetenzverteilung in föderalen Systemen

In der ökonomischen Theorie wird das S.s-Prinzip auch zur Bestimmung der Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen föderaler Staaten (Föderalismus) genutzt. Auch hier sollen i. S. d. Vermeidung von Zwang möglichst viele Kompetenzen auf der niedrigsten Ebene verbleiben. Bei Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb der Föderation führt dies zu einem Standortwettbewerb zwischen den einzelnen territorial definierten Verwaltungseinheiten (Gebietskörperschaften) wie bspw. den Kommunen (Gemeinde). Dieser Wettbewerb erlaubt es Arbeitnehmern, Haushalten oder Unternehmen, den Arbeits-, Wohn- und Standort zu wählen, der für sie im Gegenzug für die zu entrichtenden Steuern die beste Kombination aus öffentlichen Dienstleistungen anbietet. Nach einem zentralen Theorem der Föderalismustheorie gewährleistet dieser Standortwettbewerb innerhalb der Föderation, dass sich die lokalen Institutionen strikt(er) an den Interessen der Bürger orientieren, da diese im Falle eines für sie unattraktiven Bündels öffentlicher Dienstleistungen, einer übermäßigen Besteuerung oder von Steuerverschwendung in eine andere Gebietskörperschaft abwandern würden.

Bewegungsfreiheit ermöglicht es den Bürgern jedoch auch, die öffentlichen Dienstleistungen anderer Gebietskörperschaften mitzunutzen, ohne sie mitzufinanzieren. Den Bewohnern der Nachbargemeinde kann z. B. die kostenfreie Durchfahrt durch die eigene Gemeinde oder der Wochenendausflug in die aufwändig restaurierte historische Altstadt nicht ohne Weiteres verwehrt werden. In solchen Fällen kann die Konkurrenz zwischen den Gebietskörperschaften innerhalb einer Föderation zu einem ruinösen Abwärtswettbewerb führen, der sich dadurch auszeichnet, dass diese jeweils versuchen, durch wechselseitige Senkungen des Pro-Kopf-Steuerpreises zusätzliche Bewohner anzulocken, bis dieser unterhalb der Bereitstellungskosten für die angebotenen öffentlichen Güter liegt. Aufgrund des damit verbundenen Finanzierungsdefizits kann es überall zu einer Unterversorgung mit dem entsprechenden Gut kommen. Da die Nutzer eigentlich ein höheres Bereitstellungsniveau präferieren würden, als es im beschriebenen Abwärtswettbewerb angeboten wird, verlangt das S.s-Prinzip die Bereitstellung durch die nächsthöhere föderale Instanz, also z. B. das Bundesland. Als konkurrenzloser Anbieter im entsprechenden Gebiet kann diese das überkommunale öffentliche Gut durch die zwangsweise Erhebung der erforderlichen Steuern und Abgaben kostendeckend bereitstellen. Gemäß S.s-Prinzip ist auch hier der entsprechende Zwang gerechtfertigt, insoweit er in Übereinstimmung mit den Interessen aller betroffenen Individuen ausgeübt wird und lediglich der Vermeidung des ruinösen Abwärtswettbewerbs dient. Allerdings darf die Besteuerung nur soweit gehen wie zur Bereitstellung des präferierten Niveaus nötig, da die Betroffenen andernfalls über das von ihnen gewünschte Maß hinaus besteuert würden.

2.3 Abwägung zwischen Konzeptionen zur Verfolgung politischer Ziele

Das S.s-Prinzip hilft auch bei der Abwägung zwischen konkurrierenden Konzeptionen zur Realisierung politischer Ziele. Es soll erneut der Ansatz gewählt werden, der mit dem geringstmöglichen Maß an Zwang auskommt und möglichst viele Entscheidungen in den Händen der betroffenen Individuen belässt. Gilt es bspw. zu verhindern, dass Raucher die Gesundheitskosten infolge ihres Zigarettenkonsums auf Nichtraucher abwälzen, wären nach dem S.s-Prinzip anstelle eines gesetzlichen Zigarettenverbots eher höhere Sozialversicherungsbeiträge für Raucher zu erheben, da diese das Finanzierungsproblem lösen, ohne gleichzeitig allen Rauchern den Tabakkonsum vorzuenthalten.

Das S.s-Prinzip liefert auch Gründe für den Politikansatz des liberalen Paternalismus, der davon ausgeht, dass Menschen aufgrund beschränkter Rationalität, z. B. in Form unvollständiger Informationen, Willensschwäche oder kognitiver Leistungsgrenzen, nicht immer die aus ihrer Sicht besten Entscheidungen treffen. Durch sogenannte „Schubser“ (nudges) sollen sie subtil zu den richtigen Entscheidungen motiviert werden, ohne dass ihnen, wie bei einem gesetzlichen Verbot, Optionen verwehrt oder, wie bei einer Steuer, die mit den Optionen verbundenen wirtschaftlichen Anreize stark verändert werden. Durch abschreckende Bilder und Warnhinweise auf Zigarettenschachteln sowie durch ihre Platzierung in abgelegeneren Ladenbereichen kann so u. U. mit einem geringeren Maß an Freiheitseinschränkung im Interesse der Betroffenen und der negativ beeinträchtigten Dritten ein Rückgang des gesundheitsschädlichen Tabakkonsums erreicht werden als etwa durch einen steuerlichen Eingriff.

3. Grenzen des ökonomischen Subsidiaritätsprinzips

Die Umsetzung des S.s-Prinzips kann in der Realität dadurch erschwert werden, dass sich die Bewohner eines Gebiets nicht oder nur im Rahmen eines kostspieligen Entscheidungsfindungsprozesses auf die Art und den Umfang der dort notwendigerweise einheitlich bereitgestellten öffentlichen Güter einigen können. Im Falle einer Bereitstellung der entsprechenden Güter hat dies zur Folge, dass einige Bewohner sie trotz ihrer Ablehnung mitfinanzieren oder zumindest dulden müssen. Werden die Güter nicht bereitgestellt, müssen wiederum einige auf etwas verzichten, das sie sich eigentlich wünschen. In beiden Fällen muss sich ein Teil der Bevölkerung dem Willen des anderen Teils fügen.

Auch die Risiken bei der Beauftragung Dritter können die Realisierung des S.s-Prinzips erschweren, z. B. wenn die Repräsentanten der beauftragten (staatlichen) Institutionen ihre Aufgaben nicht sorgfältig erfüllen oder ihre Machtposition auftragswidrig und zum Schaden der Auftraggeber zur Verfolgung persönlicher Ziele nutzen.

Darüber hinaus ist auch eine Überdehnung des ökonomischen S.s-Prinzips möglich. So verlieren bestimmte Güter, wie Wählerstimmen, akademische Titel oder Orden, ihre moralische Qualität, wenn sie im Einklang mit dem S.s-Prinzip auf Basis wechselseitiger Zustimmung verkauft werden. Einige Geschäfte wie Wetten auf den Tod anderer oder der Verkauf eigener Organe können sogar als moralisch verwerflich betrachtet werden, obwohl sie mit dem S.s-Prinzip vereinbar sind.

Schließlich muss auch beachtet werden, dass S. bei Weitem nicht das einzig denkbare Kriterium zur Legitimation, Zuständigkeitsbestimmung und Konkretisierung der Form kollektiven Zwangs ist. Dieser kann z. B. auch als Bedingung zur Ermöglichung eines Mindestmaßes an gleicher individueller Freiheit für alle begründet werden, auf Grundlage von Gerechtigkeitsprinzipien (Gerechtigkeit) verteilungspolitisch motiviert sein oder auf Basis meritorischer Güterklassifikationen bestimmt werden.

III. Politikwissenschaft

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In der Politikwissenschaft fand das S.s-Prinzip lange Zeit wenig Beachtung. Es galt als „katholisch“, mit ständestaatlichen Vorstellungen (Ständestaat) verbunden, für pluralistische Gesellschaft und freiheitliche Demokratie ungeeignet. Politisch wurde es in den 1950/60er Jahren von den christlichen Parteien vertreten, z. B. zur Begründung eines Vorrangs freier Träger vor der öffentlichen Hand in der Jugendwohlfahrt und der Sozialhilfe. Der Streit darüber gelangte bis zum BVerfG. Er trug nicht zur allgemeinen Akzeptanz des Prinzips bei. Das änderte sich in den 1980er Jahren. Bürgergesellschaft, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen rückten ins Blickfeld. In der politischen Ethik fanden die amerikanischen Kommunitaristen Aufmerksamkeit mit ihrer Fundierung von Gemeinsinn und Sozialmoral in tradierten Gemeinschaften (Kommunitarismus). Die SPD übernahm das Prinzip 1989 in ihr Berliner Grundsatzprogramm.

Die breitere Akzeptanz wurde durch Klärungen im politisch-ethischen Diskurs gestützt. Die katholische Soziallehre nahm im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils die Idee des Naturrechts zurück auf die Begründung einer personalen Menschenrechtsethik (Menschenrechte), verbunden mit der Einsicht, dass man profane Ordnungen nicht aus metaphysischen Prinzipien deduzieren kann. Das S.s-Prinzip konnte so begriffen werden als Leitregel, die den geschichtlichen Bedingtheiten und dem politischen Ermessen Raum lässt. In der Verfassungsrechtsdiskussion entsprach dem das Verständnis von S. nicht als lex, sondern als ratio legis, die im politischen Ermessen als Klugheitsregel und als freiheitssicherndes Kompetenzregulativ fungiert. Der Nachweis der Idee von S. auch im älteren evangelisch geprägten Staatsrecht (Johannes Althusius, Samuel Freiherr von Pufendorf) und in der liberalen politischen Philosophie Amerikas („Federalist Papers“, Abraham Lincoln) widerlegte ihre angeblich katholische Herkunft. So kann Politiktheorie heute nach Bedeutung, Reichweite und Grenzen des S.s-Prinzips für einzelne Handlungsfelder fragen.

1. Subsidiärer Staat

Kritiker befürchten, das S.s-Prinzip mache den Staat zum Lückenbüßer für das Versagen gesellschaftlicher Kräfte. Das ist ein Missverständnis. Die Sozialität der Person impliziert Gemeinwohlaufgaben, die vom Staat immer wahrgenommen werden müssen. Das S.s-Prinzip legitimiert und limitiert die politische Ordnung gleichermaßen. Darin besteht Übereinstimmung mit dem liberalen Menschenrechtsdenken: Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht umgekehrt.

Die staatliche Souveränität wird damit nicht verneint, aber modifiziert. Der Souverän, im demokratischen Sinn das Volk (Staatsvolk), ist als pouvoir constituant frei, aber das S.s-Prinzip fordert eine freiheitliche Verfassung. Innerhalb dieser gelten für alle Gewalten, auch für den Souverän, begrenzte Zuständigkeiten. Es besteht auch kein Gegensatz zwischen S. und Demokratie, sofern diese nicht als unumschränkte Befugnis des Volkes verstanden wird, sondern als dessen Selbstbindung an eine freiheitliche Ordnung. Nach außen ist der freiheitliche Verfassungsstaat souverän. Im Inneren heißt Souveränität Allzuständigkeit für die Regelung der Erfordernisse des Gemeinwohls. Sie kommt in der Kompetenz-Kompetenz des Gesetzgebers zum Ausdruck. Das S.s-Prinzip verlangt nur, diese so wahrzunehmen, dass alle Regelungen subsidiären Charakter haben. In der Findung und Normierung des Gemeinwohls gibt es ein weites politisches Ermessen.

In diesem Sinn kann man vom subsidiären Charakter des GG sprechen, auch wenn es das Prinzip, abgesehen von dem 1992 eingefügten Art. 23 GG, nicht nennt. Es bindet alle staatlichen Gewalten an unmittelbar geltende Freiheitsrechte der Person, die auch korporativ gelten. Es garantiert die kommunale Selbstverwaltung; es schreibt horizontale und vertikale Gewaltenteilung mit geteilten und koordinierten Zuständigkeiten vor.

2. Pluralistische Gesellschaft im subsidiären Staat

Das S.s-Prinzip ist kompatibel mit einer pluralistischen Gesellschaft, weil es auf der Freiheit und dem Recht intermediärer Gruppen und Institutionen besteht und so die Bedeutung der Bürgergesellschaft unterstreicht. Wie der Neopluralismus (Pluralismus) fordert es die Verbindung der freien gesellschaftlichen Kräfte mit einer normativen Rahmenordnung.

In den Feldern der Erziehung, des Sozialen, der Bildung, der Wissenschaft und Kultur sind gesellschaftliche Kräfte vielfältig tätig. Dazu bedarf es normativer Regelungen. Politische Praxis und die Rechtsprechung des BVerfG haben darin zu einem gewissen Konsens geführt. Der Staat setzt verbindliche Standards und wacht über ihre Einhaltung. Er muss aber die personalen und korporativen Grundrechte achten, z. B. die Erstzuständigkeit der Eltern in der Kindererziehung, und die Tätigkeit freier Einrichtungen ermöglichen und fördern. Die finanzielle Unterstützung „freigemeinnütziger Träger“ durch die öffentliche Hand ist als subsidium begründet, da sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen, für die sonst die öffentliche Hand im Maß des Bedarfs selbst tätig werden muss.

Freie Träger genießen keinen Vorrang, sondern nehmen ihre Rechte im Rahmen gesetzlicher Vorgaben wahr. Innerhalb dieses Rahmens muss die Politik unterschiedliche Kräfte koordinieren. Sie muss dabei neben dem S.s-Prinzip auch geschichtlich-kulturelle Gegebenheiten, Effizienz- und Kostenaspekte, in weltanschaulichen Fragen auch staatliche Neutralität, Toleranz und Minderheitenschutz (Minderheiten) beachten. Das S.s-Prinzip ist also eine Leitregel, schreibt aber die konkreten Regelungen nicht vor.

3. Subsidiäre Wirtschafts- und Sozialordnung

Das GG schreibt keine wirtschaftlich-soziale Ordnung vor, favorisiert aber in der Verbindung von Grundrechtsgarantien mit Sozialstaatlichkeit eine sozial temperierte Marktwirtschaft. Das entspricht subsidiärem Denken.

So haben Ordoliberale das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft auch mit dem S.s-Prinzip begründet. Es spricht für die Freiheit der wirtschaftenden Akteure, für Markt und Wettbewerb als Institutionen einer freien Gesellschaft und als Mittel zur Mobilisierung ihrer Kräfte. Es fordert aber zugleich das subsidium des Staates in Form der Ordnung und Sicherung von Markt, Wettbewerb und sozialen Mindeststandards. Als Grundregel dafür kann gelten: Die Gesellschaft wirtschaftet, der Staat ordnet; darin ist einbegriffen, dass auch die öffentliche Hand wirtschaften muss, um die nicht marktfähigen öffentlichen Güter bereitzustellen. Die sozioökonomische Realität ist komplex und entspricht nicht durchweg dieser Regel. Politik sollte sie aber als Leitregel immer im Blick haben.

Das muss auch für das Verständnis von Sozialstaatlichkeit gelten. Der Markt bedarf der Korrektur seiner Ergebnisse für alle, die selbst keine oder zu geringe Marktleistungen erbringen können. Das ist im Prinzip gesamtgesellschaftlicher Solidarität begründet. Aber Solidarität soll subsidiär realisiert werden. Die tradierten Sicherungssysteme des deutschen Sozialstaates waren als genossenschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen mit Selbstverwaltung angelegt, vom Staat gesetzlich gesichert und wo nötig auch materiell zusätzlich gestützt. Heute ist ihre genossenschaftliche Struktur (Genossenschaften) kaum noch erkennbar. Kriege, Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Umwälzungen haben vielfältige politische Eingriffe, Korrekturen, Erweiterungen veranlasst. Die Systeme erscheinen so fast als Staatsorgane, ihre Beiträge und Leistungen werden politisch bestimmt, ihre „Reform“ ist ständiges politisches Streitfeld.

Der Sozialstaat gilt mit Recht als große Leistung von Politik und Gesellschaft. Dennoch ist das Nachdenken über seine subsidiäre Ordnung nötig; denn die Bürger einer freien Gesellschaft sollen nicht Objekte staatlicher Fürsorge sein, sondern Mitglieder, Leistungsträger und Leistungsempfänger einer Solidargemeinschaft auf Gegenseitigkeit. Transparenz der Systeme und subsidiäre Strukturen sind dazu Voraussetzungen.

4. Subsidiarität und Föderalismus

Der Föderalismus gilt als spezifischer Ausdruck subsidiären Denkens. Aber eine bundesstaatliche Ordnung hat in aller Regel geschichtliche Gründe, und auch Zentralstaaten können ihre Verwaltung subsidiär ordnen. Der deutsche Föderalismus hat seine W…urzeln im vormodernen Reich, die in der Nationbildung im 19. Jh. wirksam blieben. Nach 1945 war er sowohl von den Siegermächten als auch von den maßgeblichen deutschen politischen Kräften gewollt. Das S.s-Prinzip diente manchen zu einer zusätzlichen Begründung, wirkte aber keineswegs durchgehend strukturbildend. Das GG normiert für Gesetzgebung und Verwaltung einen kooperativen Föderalismus mit unitarischem Grundzug. Dieser wurde in der weiteren Entwicklung erheblich verstärkt.

Wachsende Kritik in Wissenschaft und Politik an der daraus resultierenden „Politikverflechtung“ führte in den letzten Jahrzehnten zu mehreren Föderalismusreformen. Sie stärkten die Mitwirkungsrechte der Länderregierungen auf Bundesebene (Exekutivföderalismus), aber nicht die Eigenstaatlichkeit der Länder. Diese wäre nur durch mehr Steuerhoheit der Länder und durch eine länderfreundlichere Finanzverfassung erreichbar. Die jüngste Reform (2016/17) hat aber eher den Bund und seine Umverteilungsmöglichkeiten gestärkt.

Der deutsche Föderalismus ist auf Kooperation, Kompromiss- und Konsenssuche ausgelegt, was im Ganzen stabilisierend wirkt. Seine vorherrschend unitarische Tendenz wird getragen von Gleichheits-, Modernisierungs- und Effizienzvorstellungen in Politik und Wählerschaft. Ein länderspezifisches Selbstbewusstsein ist nur schwach ausgeprägt, ebenso die Einsicht in den Wert von Unterschieden und in das Partizipationspotential des Föderalismus. Wahlen in den Ländern werden stark durch bundespolitische Aspekte beherrscht, eine Folge auch der zentralen Rolle politischer Parteien im Parteienstaat. Von einer aus subsidiärem Denken gespeisten politischen Kultur des Föderalismus kann man in Deutschland kaum sprechen.

5. Subsidiarität in der EU

Die Weiterentwicklung der EWG zur EU seit den 1980er Jahren führte zu einer intensiven Diskussion über die Regelung der Zuständigkeiten zwischen dem dichter werdenden Staatenverbund und den souverän bleibenden Mitgliedstaaten. Über eine zunehmende Kritik an der „Regelungswut“ der Brüsseler Behörden hinaus stellte sich in manchen Staaten die Frage nach ihrer nationalen Identität bei zunehmender Integration in eine übergeordnete Rechtsgemeinschaft. In dieser Diskussion schien das S.s-Prinzip eine hilfreiche Orientierung zu bieten.

Die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Lissabon (2007) setzen übereinstimmend fest, dass die Gemeinschaft bei konkurrierenden Zuständigkeiten nach dem S.s-Prinzip tätig wird, sofern die angestrebten Ziele von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Ein dem Amsterdamer Vertrag beigegebenes Protokoll schärft ein, es handele sich um eine verbindliche Norm, die auch im Blick auf die Gebietskörperschaften der Mitgliedstaaten gelte, in Deutschland also für die Länder. Entspr. gibt der neugefasste Art. 23 GG den Ländern ein Mitwirkungsrecht in Fragen der Übertragung von Rechten auf die EU. Der Lissabon-Vertrag normiert zudem eine S.s-Kontrolle durch die nationalen Parlamente und eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle durch den EuGH. Erstmals scheint damit das S.s-Prinzip rechtlich verbindlich und politisch wirksam gemacht zu sein.

Die Realität rät jedoch zu Skepsis. Die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeiten der EU werden von der Regelung nicht erfasst, v. a. ihre Kompetenzen im Europäischen Binnenmarkt. Sie eröffnen der EU ein weites Handlungsfeld, und die Rechtsprechung des EuGH spricht den Organen der EU einen weiten Ermessensspielraum zu. Ferner ist die Interpretation des S.s-Prinzips auf europäischer Ebene politisch umstritten. Es kann als Argument sowohl für als auch gegen die Verstärkung der EU-Kompetenzen dienen. Es wird bei manchen EU-Kritikern sogar zu einem regional oder national aufgeladenen Kampfbegriff. Die vorgesehene S.s-Kontrolle ist ein schwerfälliges Instrument.

Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Mangel im politischen Umgang mit dem S.s-Prinzip. Ein Prinzip ist eine Leitregel, keine Rechtsnorm, juristisch ein unbestimmter Rechtsbegriff. Es gibt eine Richtung vor, normiert aber nicht die Wege zu den Zielen. Um es für die Gestaltung politischer Ordnungen wirksam zu machen, muss es in konkrete Rechtsnormen „übersetzt“ werden, in denen Kompetenzen und deren Grenzen festgelegt werden. Dabei sind Kompromisse und Auslegungsfragen unvermeidlich. Entscheidend für die Wirksamkeit des Prinzips ist ein politischer Gestaltungswille, der sein politisch-ethisches Freiheitspotential wirksam zur Geltung bringt.

IV. Rechtswissenschaft

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1. Begriff und Herkunft

Das S.s-Prinzip als Verdichtung von S. gehört zu den Errungenschaften der katholischen Soziallehre, die national wie weltweit den größten Erfolg aufweisen. Die Verwendung der Vokabeln „subsidiär“, „S.“ und des S.s-Prinzips ist heute derart ubiquitär, dass die Gefahr besteht, das ursprüngliche Prinzip zu verwässern und sich einen unkontrollierbaren Begriffsrahmen mit unkontrollierten Assoziationen zu schaffen. Sozialpolitische Begriffe und Floskeln der Gegenwart wie „Fördern und Fordern“, „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder die Rede vom „aktivierenden Staat“ sind sich der Herkunft ihrer Leitbilder entweder gar nicht mehr bewusst oder suchen sie zu verschweigen.

S. als gesellschaftsphilosophisches oder gesellschaftspolitisches Prinzip meint, dass eine Aufgabe vom Einzelnen oder von der niedrigst möglichen Gemeinschaft verwirklicht werden soll, bevor eine höhere Ebene helfend („subsidiär“) eingreift. Die höhere Ebene soll erst dann helfend eingreifen, wenn der Einzelne oder die niedrigere Ebene überfordert sind. Seine kirchenamtliche Formulierung für die Katholische Kirche hat das Prinzip in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ Papst Pius XI. 1931 gefunden. Der die begriffliche Gestalt prägende Text ist damit Hauptbezugspunkt der gesamten Diskussion. Wichtigster Inspirator dieser Sozialenzyklika war Oswald von Nell-Breuning. Das Prinzip wird als „ordnungsethische[s] Kernstück der Enzyklika“ (Gabriel 2014: 17) angesehen. Unterschieden wird eine positive und eine negative Seite des Prinzips: Die negative Seite setzt der übergeordneten Ebene Schranken, die positive Seite fordert die übergeordnete Ebene zur Hilfeleistung auf. Freiheitssicherung wird so dem Solidaritätsgedanken (Solidarität) zugeordnet. Das Prinzip erweist sich als Grenze, als Austarierung zwischen diesen gegenläufigen Postulaten. Ganz ähnlich ist die Auffächerung in eine subsidiäre Kompetenz, eine subsidiäre Assistenz und eine subsidiäre Revision: Zuständigkeitsbeschränkung i. S. v. Freiheitssicherung der unteren Ebenen (subsidiäre Kompetenz) und anspruchsorientierte Hilfeleistungspflicht (subsidiäre Assistenz) stehen unter der dynamischen Beobachtungspflicht, ob die der Aufteilung zugrunde liegende Situation sich verändert. Schon durch Papst Johannes XXIII. wurde das Prinzip auch auf die internationale Ebene transponiert. Heikel ist seine Diskussion im Zusammenhang mit dem (katholischen) innerkirchlichen Bereich.

Diese Formulierungen des S.s-Prinzips durch die katholische Soziallehre können auf Äußerungen des 19. Jh. zurückgeführt werden, auf die Zeit, in der die Kirche sich der sozialen Frage bewusst wird. Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler verwendete den Terminus bereits 1848. Trotz der Versuche auch biblische Ursprünge aufzudecken, sollte der Vernunftcharakter gegenüber demjenigen einer offenbarten Wahrheit betont werden.

Gerade die Protagonisten der katholischen Soziallehre haben stets auch außerkatholische Ideenströme in diesem Zusammenhang betont: Der Calvinist Johannes Althusius beschreibt 1603 den Staat als eine aus Gemeinschaften wie Familie, Stand, Gemeinde oder Provinz sich aufbauende consociatio; durchaus in Anlehnung an alttestamentliche Bundesvorstellungen folgen daraus Beistandspflichten: Schwächere Bundesglieder sind auf das solidarische subsidium der höheren Gemeinschaften angewiesen. Hingewiesen werden kann auch auf Formulierungen Abraham Lincolns von 1854: „Die Regierung hat für die Bevölkerung das zu besorgen, wonach die Menschen ein Bedürfnis haben, was sie selbst aber überhaupt nicht tun oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut selber tun können. In all das, was die Leute ebenso gut selber tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen“ (zit. n. Nell-Breuning 1962: 828).

2. Juristische Bedeutung und Funktion

Zum juristischen Thema wurden S. und das S.s-Prinzip nach dem Zweiten Weltkrieg, als angesichts der totalitären Katastrophe (Totalitarismus) eine Rückbesinnung auf die Grenzen staatlicher Wirksamkeit und den anthropozentrischen Bezug von Herrschaft und Staat einsetzte. Zwar wurde eine explizite Bezugnahme, wie sie während des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee erwogen worden war, nicht eingeführt. V. a. in der Frühphase des GG gingen viele Autoren jedoch davon aus, dass das S.s-Prinzip der Verfassungsentscheidung implizit zugrunde liege.

Im Sozialrecht können zahlreiche Einrichtungen und Prinzipien als durch die Idee der S. angeleitet verstanden werden, so insb. das Grundprinzip, dass der Einzelne zunächst für sich selbst verantwortlich ist, die Familie über Unterhaltsverpflichtungen einzuspringen hat usw. Auch die in Deutschland traditionell starke Einbeziehung freier Träger der Wohlfahrtspflege und das dadurch verwirklichte „außenpluralistische Modell“ wären hier zu verorten. Gerade die Kirchen sind mit zahlreichen Einrichtungen der Krankenversorgung, der Altenpflege, der Jugend- und Bildungsarbeit gut vertreten.

Die bisher geschilderte Verknüpfung mit der Rechtsordnung beachtet den Ausgangspunkt des Prinzips als Verteilungsregel zwischen Staat/Öffentlichkeit und Gesellschaft. Im juristischen Kontext wird von S. jedoch auch im Zusammenhang von über- und untergeordneten staatlichen oder öffentlichen Ebenen gesprochen. Unter dieser Prämisse können auch Föderalismus und Bundesstaatlichkeit (Bundesstaat) ebenfalls als durch das S.s-Prinzip imprägniert verstanden werden. In dieser Sichtweise setzt S. stets eine Stufung voraus – modern wird von Mehrebenensystemen oder -architekturen gesprochen. Die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung des GG geht von einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Gliedstaaten, der Länder aus, Art. 30, 70, 83 GG. Das kann als Präferenz für die kleinere Einheit, die Länder, gelesen werden; die tatsächliche Entwicklung des deutschen Föderalismus hat jedoch zu einer weitreichenden Konzentration der Gesetzgebungszuständigkeiten auf zentraler Ebene, beim Bund geführt. Die 2006 beschlossene Föderalismusreform I steuert hier durch Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Länder und ein Bemühen um Entflechtung begrenzt gegen, neuere Entwicklungen wie die Reform der Finanzverfassung 2017 laufen wieder in die entgegengesetzte Richtung. Im Kommunalrecht ist S. durch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG als Zusicherung eines umfassenden örtlichen Aufgabenbereichs und die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich ausgeprägt. Auch zwischen den kommunalen Ebenen – Gemeinden und Kreisen – ist eine Stufung im Sinne von S. anerkannt (BVerfGE 79,127).

Eine atemberaubende Renaissance hat der Begriff im Kontext des Europarechts gefunden, Art. 5 Abs. 3 EUV. Das S.s-Prinzip wurde damit erstmals nicht nur zu einem Rechts-, sondern zu einem Gesetzesbegriff. Europarechtlich soll es der Begrenzung von Kompetenzen der EU dienen (Kompetenzausübungsschranke). Konkretisiert wird die recht offene Formulierung im Primärrecht durch das Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der S. und der Verhältnismäßigkeit (ABl.EU 2007 Nr. C 306/150 – sogenanntes S.s-Protokoll). Dieses unionsrechtliche S.s-Prinzip findet nur Anwendung, wenn keine ausschließliche Zuständigkeit der EU gegeben ist, es gilt mithin für die zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilten Kompetenzen sowie für Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen. Anwendung soll es nicht gegenüber ganzen Politikbereichen, sondern im Hinblick auf konkrete Maßnahmen finden, vorrangig solche der Gesetzgebung. In der Sache wird ein Negativ- mit einem Positivkriterium verbunden: Ein Tätigwerden der EU soll nur möglich sein, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können“, sondern „wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen“ sind (Art. 5 Abs. 3 EUV). Nach Art. 12 lit. b EUV sollen die mitgliedstaatlichen Parlamente über die Einhaltung der unionalen S. wachen. Dazu wurde im S.s-Protokoll das Institut der S.s-Rüge verankert. So soll schon zu Beginn europäischer Rechtsetzungsprozesse dieser Aspekt berücksichtigt werden; nachträglich bestehen als ex-post-Kontrolle Klagemöglichkeiten zum EuGH gemäß Art. 8 S.s-Protokoll i. V. m. Art. 263 AEUV (Nichtigkeitsklage) nicht nur durch jeden Mitgliedstaat, sondern auch hier durch mitgliedstaatliche Parlamente. In Deutschland wurden diese Möglichkeiten durch einen neueingefügten Art. 23 Abs. 1a GG i. V. m. dem IntVG umgesetzt. Die offene Flanke dieser Verheißung besteht jedoch in ihrer Umsetzung, in ihrer konkreten Anwendung in europäischen Rechtsetzungsprozessen.

Insgesamt erscheint bei der Implementation des Gedankens der S. in Recht und Rechtsordnung zu wenig beachtet und unterschieden, ob es sich um ein Zuteilungskriterium zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ handelt oder zwischen „oberer“ und „unterer“ Ebene.