Toleranz

  1. I. Philosophische Grundlinien
  2. II. Sozialethische Aspekte

I. Philosophische Grundlinien

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1. Begriffsbestimmung

Der Begriff „T.“ – lateinisch tolerare: „dulden“, „zulassen“, „ertragen“ – bezeichnet die Duldung von Überzeugungen, Handlungen oder Praktiken, die einerseits negativ bewertet, andererseits aber nicht eingeschränkt werden. Eine allgemeine Definition des Begriffs enthält drei Komponenten. Erstens setzt T. eine „Ablehnungs-Komponente“ voraus: Die zu tolerierenden Praktiken oder Überzeugungen müssen als falsch oder schlecht verurteilt werden. Ohne diese Komponente lägen entweder Indifferenz oder Bejahung, nicht aber T. vor. Zweitens steht dem eine „Akzeptanz-Komponente“ gegenüber, die die negative Bewertung zwar nicht aufhebt, aber andere, positive Gründe nennt, die für T. sprechen. Drittens gehört zu dem Begriff der T. die Angabe ihrer Grenze, welche dadurch markiert ist, dass negative Gründe stärker als die der Akzeptanz sind (die „Zurückweisungs-Komponente“). Die Aufgabe der T. besteht darin, diese drei Komponenten recht zu begründen. Schließlich ist es für eine nähere Bestimmung der T. wichtig, in welchem Kontext sie angesiedelt ist: Sie kann eine persönliche Tugend bezeichnen, aber auch Formen kirchlicher oder staatlicher Politik. In einer Demokratie sind beide Dimensionen insofern verbunden, als Bürger aus der Perspektive von Gesetzgebern beurteilen müssen, wo und aus welchen Gründen die Grenzen der T. mit Mitteln des Rechts zu ziehen sind.

2. Konzeptionen und Begründungen von Toleranz

Der Begriff der T. ist im Zuge der ab dem 16. Jh. innerhalb des Christentums aufbrechenden religiösen Konflikte (Religionskonflikte) zu einem Zentralbegriff der europäischen, politisch-philosophischen Diskussion geworden, seine Geschichte reicht jedoch bis in die Antike zurück. Bleibt T. bis in die Neuzeit hinein auf das Problem bezogen, auf welcher Basis ein friedliches Zusammenleben zwischen Angehörigen verschiedener (nicht nur christlicher) Glaubensrichtungen möglich ist, so erweitert sich im Zeitalter der Aufklärung und nachfolgender Entwicklungen die Bedeutung von T. und bezieht sich allgemein auf das Dulden bzw. Respektieren von Überzeugungen und Lebensweisen, die sowohl religiöser als auch politischer und allgemein kultureller Natur sind. Mit der verfassungsrechtlichen Sicherung bestimmter Grundfreiheiten werden T.-Räume festgeschrieben, wobei aber bei der Festlegung von deren Grenzen T.-Fragen wieder auftauchen.

Vor dem geschichtlichen Hintergrund wie auch angesichts gegenwärtiger philosophischer Diskussionen lassen sich vier Konzeptionen der T. unterscheiden.

Nach der Erlaubnis-Konzeption bezeichnet T. die Beziehung zwischen einer Autorität oder Mehrheit und einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit. T. besteht darin, dass die Autorität der Minderheit erlaubt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie die bestehenden Verhältnisse nicht in Frage stellt. Diese Auffassung findet sich bes. in den klassischen T.-Gesetzgebungen (etwa im Edikt von Nantes 1598). T. ist hier vorrangig pragmatisch begründet, d. h. sie entspringt einer Kalkulation der Kosten des Eingreifens bzw. Gewährenlassens. Ändert sich die soziale Konstellation zugunsten der Minderheit, kann von einer Koexistenz-Konzeption gesprochen werden, die sich ergibt, wenn gesellschaftliche Gruppen T. und Frieden in Form eines Modus vivendi dem Konflikt vorziehen.

Eine Respekt-Konzeption der T. hingegen geht von der wechselseitigen Achtung der T.-Parteien aus, die sich trotz starker Unterschiede in ihren Auffassungen des guten Lebens als politisch und moralisch gleichberechtigte Personen anerkennen. Dazu ist es notwendig, dass die tolerierten Überzeugungen und Praktiken nicht so negativ beurteilt werden, dass gegenseitige T. ausgeschlossen ist. Eine vierte Vorstellung, die Wertschätzungs-Konzeption, sieht die Haltung der T. nicht primär in gegenseitigem Respekt, sondern in der (begrenzten) ethischen Wertschätzung der anderen Überzeugungen oder Lebensweisen begründet. Innerhalb eines geteilten, wenn auch pluralistischen Wertehorizontes werden diese Überzeugungen und Praktiken als (partiell kritisierbare) Verkörperungen des Guten bzw. der Wahrheit angesehen.

In diesen Konzeptionen kehren die wichtigsten Argumente für T. wieder, seien sie pragmatisch-strategischer oder moralischer Natur oder der Ausdruck spezifischer, z. B. religiöser Werthaltungen. Die Palette möglicher T.-Auffassungen erklärt zudem die unterschiedlichen Bewertungen, die der Begriff der T. immer wieder erfährt: T. kann als repressive und herablassende Form der Machtbehauptung oder als bloße Notlösung kritisiert, aber auch als Ausdruck von Respekt oder wechselseitigem Verständnis angesehen werden. Ob T. überhaupt etwas Gutes ist und welche Konzeption in welcher sozialen Situation angemessen ist, hängt sowohl von der Einschätzung der gesellschaftlichen Möglichkeiten als auch des gesellschaftlich Gebotenen oder Gewünschten ab – d. h. von normativen Prämissen, die nicht dem Begriff der T. selbst entstammen. So spricht für die ersten beiden Modelle, dass sie minimale motivationale Voraussetzungen haben und daher in sozialen Konfliktsituationen ein realistisches Ziel darstellen. Sofern darüber hinaus die Anforderung gestellt wird, dass die Ausübung von T. einer prinzipiellen Grundlage bedarf, um nicht in einer veränderten sozialen Situation in Intoleranz umzuschlagen, sind die dritte und vierte den ersten beiden Konzeptionen gegenüber vorzuziehen. Die Grenzen, die die vierte Konzeption zieht, könnten sich jedoch als zu eng erweisen, denn der Bereich des Tolerierbaren wird auf das Schätzenswerte eingeschränkt.

So empfiehlt sich die Respekt-Konzeption als die für eine pluralistische demokratische Gesellschaft (Pluralismus) am besten geeignete. Der Begriff „Respekt“ lässt sich allerdings auf zweierlei Weise verstehen. Erstens kann damit die Achtung für den Anderen als ethisch autonomes Wesen (Autonomie) gemeint sein, dessen Entscheidung für eine bestimmte Konzeption des guten Lebens zu respektieren ist. Dann erscheinen lediglich die Überzeugungen und Praktiken als tolerierbar, die – nach einem schwer festzulegenden Maßstab – autonom gewählt sind, woraus enge Grenzziehungen folgen, während andererseits weite Grenzbestimmungen resultieren, wenn der Respekt für ethische Autonomie es gebietet, individuelle Entscheidungen an sich zu achten. Zweitens kann mit Respekt die gegenseitige Achtung als politisch-moralisch gleichberechtigte Bürger gemeint sein, welche ein Recht darauf haben, dass die grundlegenden Normen, denen sie unterworfen sind, ihnen gegenüber gleichermaßen als Freie (Freiheit) und Gleiche (Gleichheit) gerechtfertigt werden können. Gemäß dieses Prinzips scheiden zur Begründung solcher Normen umstrittene ethische (z. B. religiöse) Argumente aus, die nur den Überzeugungen eines Teils der Bürger entsprechen – und seien es auch die Überzeugungen einer Mehrheit. T. bedeutet damit die Bereitschaft zu akzeptieren, dass in grundlegenden Fragen des politischen Zusammenlebens nur wechsel- und allseitig teilbare Gründe Legitimität schaffen können.

In Bezug auf umstrittene T.-Fragen wie dem Verbot religiöser Kleidung oder Praktiken, dem Anbringen religiöser Symbole per Gesetz, der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder auch des Verbots radikaler Parteien ist somit die Frage der T. die, ob die Gründe, die für Einschränkungen von Grundfreiheiten genannt werden, unter gleichberechtigten Bürgern nicht zurückweisbar sind. Demokratische T. erfordert die Akzeptanz dieser Rechtfertigungsschwelle.

II. Sozialethische Aspekte

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In ethischer Hinsicht hat T. eine subjektive und eine rechtlich-institutionelle Seite. Bezogen auf den einzelnen Menschen meint T. eine „Tugend des freiwilligen Ertragens von Widrigkeiten jeglicher Art“ (Rosenau 2002: 664) in der Tradition von stoischer Philosophie und Christentum, die in solcher Duldsamkeit einen Ausdruck ethisch-religiöser Überlegenheit und Stärke erkannten. Heute wird diskutiert, inwieweit T. eine Haltung des Respekts, der Achtung und der freien Anerkennung von Neuem, Anderem und Fremdem zum Ausdruck bringt. Mit Blick auf die gesellschaftlich-politische Ordnung steht T. dem Begriff der Duldung nahe und impliziert eine Haltung des Gelten- und Gewährenlassens. Innerhalb der kulturell diversifizierten, pluralistischen Gesellschaft wird T. zu einem Erfordernis für alle Gesellschaftsglieder, um ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben zu erhalten. Rechtlich-politisch spiegelt sich dies im Schutz von Minderheiten, aber auch in den unterschiedlichen Ansätzen einer Politik der T.-Vorsorge.

1. Recht oder Toleranz?

Eine entscheidende politisch-ethische Grundfrage lautet: Kennt das Recht T.? Kann der freiheitliche Rechtsstaat mit seinen Garantien der Grund- und Menschenrechte überhaupt tolerant sein, oder steht der Modus des Tolerierens quer zu dem Rechtsanspruch auf Schutz und Anerkennung? Nicht T. wäre demnach der Titel für ein „regelmäßiges Ausnahmeverhalten“ (Pfleiderer 2006: 29), sondern eine dem Recht entsprechende Duldung: Regelverstöße können hingenommen werden, auch weil die entsprechenden Regeln nicht Glaubensbekenntnis, sondern funktionale Erfordernisse des Gemeinwesens sind.

Alternativ zur toleranzskeptischen Position lässt sich aber auch argumentieren: Mit seiner Verbürgung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ermöglicht der Staat einen breiten Pluralismus an Wahrheits- und Geltungsansprüchen (Wahrheit, Geltung), die er nach Maßgabe seiner menschenrechtlichen Selbstverpflichtungen möglichst umfassend und unter Vermeidung gesellschaftlicher Verwerfungen zu schützen hat. Wenn er diese Garantenfunktion nicht autoritär und über Gebühr freiheitseinschränkend ausüben soll, ist er auf eine wechselseitige T.-Praxis der gesellschaftlichen Akteure zwingend angewiesen. Andernfalls muss der Staat schlichtend eingreifen und damit zwangsläufig Freiheitsansprüche beschneiden. T. kann man deshalb als ein „mittelbares Verfassungsprinzip“ des freiheitlichen Rechtsstaats bezeichnen – es ist nicht unmittelbar „justiziabel“ und bildet auch keine Alternative zur Freiheitsverbürgung im Recht, ist aber als gesellschaftliche Praxis eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Verfassung überhaupt lebendige Rechtswirklichkeit werden kann (Hartung 2010: 22).

2. Nicht erzwingbare Voraussetzung von Freiheit

Ein gesellschaftlich lebendiges Ethos der T. ist somit eine der wesentlichen Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularisierten (Säkularisierung) Staates, von denen Ernst-Wolfgang Böckenförde gesprochen hat und steht ethisch auf einer Stufe mit dem Kompromiss: Weder das eine noch das andere kann erzwungen werden, zugleich sind die in solcher Praxis eröffneten Ressourcen für gesellschaftlichen Ausgleich und Verständigung notwendig, um jene Freiheitlichkeit erlebbar werden zu lassen, die der Staat als Versprechen und Selbstverpflichtung im Namen trägt.

Die Verschränkung von Recht und Ethos des Zusammenlebens hat ihren Grund in der Natur von positivierten Grund- und Menschenrechten, die Freiheitsräume möglich machen, indem sie diese voneinander abgrenzen. Die Grenzverläufe variieren – je nach historisch-gesellschaftlichem Kontext, Schutzbereich und Rechteträger – und müssen im Zuge von Rechtsauslegung und Rechtsprechung immer wieder neu gezogen werden. Das Recht allein bleibt also notwendigerweise unscharf und ist auf eine Praxis der sinnhaften Inanspruchnahme und Auslegung der beanspruchten Rechtsgehalte angewiesen. Ein Ethos der T. hält die Zumutungen für die Rechteträger aus den rechtlichen Grenzverläufen zwischen Freiheitssphären möglichst gering.

Diesen Zusammenhang kann man auch fundamentalanthropologisch reformulieren: Indem der Staat den Menschen zum rechtsfähigen Verantwortungssubjekt erklärt (Verantwortung), setzt er zwangsläufig eine Distanz zwischen die rechtlichen Verbürgungen, die er als Staat garantiert, und die Rechtssubjekte, welche dieses Recht leben und in höchst diversifizierter und z. T. konfligierender Form wirklich werden lassen. Aktive T.-Vorsorge als Teil der Rechtspolitik wird deshalb zu einer Konsequenz menschenrechtlich garantierter Freiheit.