Geltung

G. ist ein Anspruch, der in allen Bereichen des Denkens und Handelns grundlegend ist. Er ist von dem Bedürfnis nach zuverlässigen Maßstäben motiviert, die dem individuellen und sozialen Leben Halt und Orientierung geben können. Diese Maßstäbe können theoretischer und praktischer, moralischer und rechtlicher, religiöser und ästhetischer, wissenschaftlicher und technischer Art sein. Das bereits von Aristoteles formulierte Widerspruchsprinzip ist ein theoretisches, der von Immanuel Kant formulierte Kategorische Imperativ ein praktisches Beispiel. Wahrheit ist ein Maßstab, ohne den Wissen und Wissenschaft undenkbar wäre, aber auch sie und die mit ihr verbundenen Maßstäbe der Rechtfertigung und Bestätigung gelten unabgeleitet. Das Besondere dieser Maßstäbe ist, dass sie axiomatisch, prinzipiell, ohne Begründung, ohne Rechtfertigung, also unabgeleitet gelten. Sie liegen ihrerseits Maßstäben zugrunde, die sich aus ihnen ableiten lassen. Augenfällig ist dies in Logik und Mathematik, den beweistheoretisch erfolgreichsten Disziplinen. Auch deren axiomatische Grundlagen gelten, ohne dass sie beweisbar wären. Das Merkmal, unabgeleitet zu gelten, teilen auch die grundlegenden moralischen und rechtlichen, die religiösen und ästhetischen Maßstäbe. So wie es nicht möglich ist zu begründen, warum das Widerspruchsprinzip oder der Kategorische Imperativ als Ansprüche gelten, ist es unmöglich zu begründen, warum die Menschenwürde als Verfassungsprinzip, das Tötungsverbot oder die Zehn Gebote gelten. Die G. unabgeleiteter Maßstäbe ist in einigen Bereichen durch Gesetze rechtlich gesichert, in anderen nicht. Eine rechtliche Sicherung erzwingt zwar nicht unmittelbar eine Anerkennung der Maßstäbe, zeigt aber, dass sie in Kraft und verbindlich sind, und dass bei Missachtung Sanktionen drohen. Grundlegende moralische, religiöse und ästhetische Maßstäbe gelten nicht nur unabgeleitet, sondern sind, was ihre Verbindlichkeit anlangt, allein von der Anerkennung durch individuell handelnde Personen oder durch ganze Gesellschaften abhängig.

In der Philosophie des 18., 19. und frühen 20. Jh. war G. Thema unterschiedlicher Grundlegungs- und Begründungsversuche. I. Kant versuchte, die G. apriorischer Erkenntnis transzendental zu begründen. Gottlob Frege versuchte, Urteile mit Hilfe einer neuen, an der Mathematik orientierten logischen Methode zu begründen. Viele folgten ihnen nach oder entwickelten wie Edmund Husserl und der frühe Ludwig Wittgenstein eigene Methoden der Begründung. Ähnliches trifft auf den logischen Positivismus des Wiener Kreises zu, der versuchte, die Grundlagen einer Einheitswissenschaft aus einer Verbindung von Logik und Empirie zu entwickeln. Allen diesen Grundlegungsversuchen gemeinsam ist die Überzeugung, dass es theoretische Begründungen für wissenschaftliches Wissen gibt, deren Zuverlässigkeit über alle Zweifel erhaben ist, und die in dieser Hinsicht einem zentralen Anspruch der menschlichen Vernunft (Vernunft – Verstand) auf völlige Klarheit und restlose Begründetheit entsprechen. Dass dieser Anspruch aber hypertroph werden und sich gegen sich selbst richten kann, stellten so unterschiedliche Philosophen wie Karl Popper, Theodor Wiesengrund Adorno, Max Horkheimer und Richard Rorty fest. Sie kritisierten den Szientismus und Fundamentalismus v. a. des Wiener Kreises. Stabil blieb die von Angehörigen unterschiedlicher Traditionen geteilte Überzeugung, dass G. und Genese keinen gemeinsamen Nenner haben, dass die Rechtfertigung wissenschaftlichen Wissens und dessen Entdeckung auseinandergehalten werden sollten, und dass eine Rechtfertigung, wenn überhaupt nur indirekt durch Falsifikation gelingen kann. Die Trennung der G. von der Genese ist aber klärungsbedürftig, weil jede G. in eine Genese eingebettet ist. Dies bedeutet aber nicht, dass die Genese die G. rechtfertigen könnte.

G. ist ein Anspruch, der Recht und Gesetz nicht nur implizit ist, sondern durch das Recht selbst und durch die Rechtsprechung geschützt wird. Diese Besonderheit hat Rechtsphilosophen in der Tradition des sogenannten Rechtspositivismus veranlasst, der rechtlichen G. eine eigene, von allen anderen G.s-Zusammenhängen unabhängige theoretische Grundlage zu geben. Hans Kelsen bestand in seiner sehr einflussreichen „Reinen Rechtslehre“ darauf, dass Rechtsnormen weder moralische noch naturrechtliche Normen seien und sämtlich auf eine gedachte Grundnorm zurückgeführt werden könnten, die ihre G. sichert. Diese Grundnorm habe ihrerseits keine Rechtfertigung. Ihr einziger G.s-Grund sei der Willensakt einer Autorität, durch den sie eingesetzt werde. Die angelsächsische Variante des Rechtspositivismus fand in Herbert Lionel Adolphus Hart ihren einflussreichsten Sprecher. Er ersetzte H. Kelsens Grundnorm allerdings durch die sogenannte Erkenntnis-Regel (rule of recognition), die z. B. in Gestalt einer staatlichen Verfassung der G. des gesamten aus ihr ableitbaren Regelwerks der Gesetze eines Staates zugrunde liegt. H. L. A. Harts Auffassung der G. von Recht und Gesetz als Regelwerk ist ebenfalls von Moral und Naturrecht getrennt. Die Erkenntnis-Regel hat keine Rechtfertigung. Ihre Verbindlichkeit beruht auf ihrer allgemeinen Anerkennung in der Rechtsprechung und in der staatlichen Verwaltung. Kritisiert wurde diese Variante des Rechtspositivismus von Ronald Dworkin. Er verwarf sowohl die mit der Erkenntnis-Regel verbundene Auffassung der G. des Rechts als auch die Auffassung, dass das Recht ein geschlossenes Werk geltender Regeln sei. Ein Rechtssystem könne, so R. Dworkin, nicht ohne die G. von Prinzipien auskommen, die im Kern moralischer Natur oder dem Common Law entnommen seien (z. B., dass niemand aus von ihm selbst begangenen Unrecht profitieren dürfe). Gegen eine Trennung der rechtlichen G. von moralischen Prinzipien argumentierte auch Jürgen Habermas, u. a. gegen Max Webers Auffassung, dass das Recht seine eigene Legitimität sichere.

Wenn der G. des Rechts kein eigener, von allen anderen Bereichen getrennter Begriff der G. zugrunde gelegt werden kann, liegt es nahe, diesen allgemeinen Begriff genauer zu untersuchen. Es stellt sich heraus, dass G. immer auf einer unabgeleiteten Grundlage steht, die ungesichert ist. G. Frege und der frühe L. Wittgenstein haben erkannt, dass eine reflexive Sicherung solcher Grundlagen in der Logik zu Widersprüchen führt. Widersprüche durch reflexive Sicherung von G.s-Grundlagen, d. h. Widersprüche bei der Rückführung von G. auf fundamentale Akte des Erkennens und Denkens sind in anderen Bereichen weniger klar erkennbar. Infinite Regresse bei der Suche nach der G. von G.s-Grundlagen sind aber unvermeidlich, wenn diese Suche reflexiv von der Überzeugung geleitet wird, dass jede G. begründet sein muss. Der Verzicht auf diese Überzeugung führt zu der Einsicht, dass einige der Grundannahmen, welche die Suche nach Grundlagen der G. geleitet haben wie der Dualismus von Werten und Tatsachen, des Normativen und Deskriptiven, des Seins und des Sollens fragwürdig und unhaltbar sind. Die Einsicht, dass die G. in allen Bereichen unabgeleitete Grundlagen voraussetzt, die nicht reflexiv erschlossen werden können, enttäuscht einerseits das Bedürfnis nach dem Besitz sicherer Maßstäbe der Orientierung. Andererseits macht diese Einsicht aber klar, wie unersetzlich das individuelle und kollektive Eintreten für die G. derjenigen Maßstäbe ist, die in jedem einzelnen Bereich des Denkens und Handelns unersetzlich sind. Dass Menschen nicht zu allen Zeiten dasselbe für unersetzlich halten, darf die G. dessen, was jetzt unersetzlich ist, nicht in Frage stellen. Der Verzicht auf die G. dieser Überzeugung stellt die G. aller Maßstäbe in Frage.