Menschenwürde

1. Der Begriff der Menschenwürde

Der Begriff der M. ist in der Geschichte der Philosophie erst spät bedeutsam geworden, hat sich aber zum obersten Gebot der Moral sowie vieler Verfassungen und Pakte entwickelt und so vor die anderen Menschenrechte geschoben. Verletzungen der M. wie Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und Erniedrigung sind global geächtet, wenn auch nicht vollständig verschwunden. Wort und Begriff der Würde erscheinen im Gegensatz zu manchen anderen Worten und Begriffen der Ethik nicht schon in der griechischen, sondern erst in der römischen Antike, und zwar im lateinischen Ausdruck dignitas. Dieser bezeichnete die Würde als äußere, veränderliche Eigenschaft der herausgehobenen sozialen, v. a. politischen Stellung, etwa die Würde eines römischen Konsuls, Patriziers oder Senators; also den besonderen sozialen Rang einer Person und deren entsprechendes Verhalten sowie ihre erwartete Behandlung durch andere. Gaius Julius Cäsar führte den Bürgerkrieg um seiner von ihm behaupteten dignitas willen.

Cicero hält fast überall an diesem altrömischen Begriff fest, verwendet das Wort dignitas dann aber an einer Stelle in „De officiis“ nicht mehr im Sinn einer äußeren sozialen Stellung, sondern viel weitergehend im Sinne einer inneren, im Kern unveränderlichen, allgemeinen Eigenschaft des Menschen (off. 1.105 f.): „[…] Wenn wir bedenken wollen, eine wie überlegene Stellung und Würde in unserer Natur liegt, dann werden wir einsehen, wie schändlich es ist, in Genusssucht sich treiben zu lassen und verzärtelt und weichlich, und wie ehrenhaft andererseits, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu leben“. In den folgenden Jh. wurde dieser anspruchsvollere Begriff einer inneren, unveränderlichen Eigenschaft der M. – ohne dass bisher ein direkter Bezug auf Cicero nachgewiesen werden konnte – v. a. durch die christliche Philosophie und Theologie gefestigt, und zwar mit Rekurs auf die Schöpfung des Menschen durch Gott nach seinem Ebenbild (Gen 1,27; Eph 4,24) sowie die Vernunft (Vernunft – Verstand) und die Freiheit des Menschen. Der wesentliche Schritt der christlichen Denker bestand darin, die Annahme einer substantiellen Seele des Menschen mit der im Kern unveränderlichen, inneren Eigenschaft der M. in sehr viel klarerer Weise zu verbinden, als Cicero dies getan hatte, bei dem noch die „Natur“ dazwischen geschoben war. Die direkte Verbindung von Würde und Seelensubstanz betont etwa das ins 5. oder 6. Jh. zurückreichende und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil praktizierte Opfergebet der Heiligen Messe: „Gott, der Du die Würde der menschlichen Substanz in wunderbarer Weise begründet und noch wunderbarer erneuert hast […]“. Und bei Thomas von Aquin heißt es in der „Summa Theologiae“: „Indem er sündigt, verlässt der Mensch die Ordnung der Vernunft und fällt somit ab von der Würde des Menschen, sofern der Mensch von Natur aus frei und seiner selbst wegen da ist“ (STh II-II, 64,2,3). In der Neuzeit ist der Begriff in der italienischen Renaissance bedeutsam geworden. In einer Rede des Giovanni Pico della Mirandola kam der Begriff zwar nicht vor, aber die bes. Fähigkeit des Menschen zur Selbstvervollkommnung wurde betont und die Schrift nach G. Picos della Mirandola Tod 1504 unter dem neuen Titel „De hominis dignitate“ herausgegeben. Anders als der Begriff der Menschenrechte ist der Begriff der M. dann im 17. und 18. Jh. zunächst nicht im angelsächsischen und französischen Denken bedeutsam geworden, sondern in Deutschland bei Samuel Freiherr von Pufendorf und insb. Immanuel Kant.

Auch die politische und rechtliche Entfaltung des Begriffs der M. setzte sehr spät ein. In den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18. und 19. Jh. war die M. noch nicht enthalten. Sie erscheint erst am Beginn des 20. Jh., und zwar zunächst nur vereinzelt und kaum wirkungsmächtig, etwa in Art. 151 Abs. 1 der WRV von 1919 („Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“.) und in der Präambel der Verfassung der Republik Irland von 1937. Die M. gewinnt eine bes. Bedeutung erst durch ihre Voranstellung in der UN-Charta von 1945 und der Präambel und Art. 1 der AEMR der UN von 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Für Deutschland wurde die M. außer in der Widerstandsbewegung (Widerstand) des Kreisauer Kreises 1943/44 und in einzelnen Landesverfassungen v. a. mit Art. 1 Abs. 1 des GG von 1949 zum Fundament eines neuen humanen Staates: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Katalysator für den politischen und rechtlichen Siegeszug der M. kurz vor und nach 1945 waren also v. a. die Erfahrungen mit den großen staatlichen Verbrechen des 20. Jh., insb. denen des Nationalsozialismus und des Kommunismus bzw. Sozialismus. Mit Art. 1 EuGRC von 2000 hat die M. auch in der EU die Spitzenstellung in der Normhierarchie errungen.

Vor diesem historischen Hintergrund muss man zwischen wenigstens vier (Teil-)Begriffen der M. unterscheiden: Bei der intrinsischen (großen) M. handelt es sich um eine nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen. Mit der extrinsischen, kontingenten (kleinen) M. ist dagegen die nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position eingeschränkt bereits mit dem lateinischen Ausdruck dignitas bezeichnet wurde. Als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit S. von Pufendorf noch eine Würde, welche man als „mittlere“ bezeichnen kann. Auch sie bezieht sich auf die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont aber deren natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit. Schließlich forderten im 19. Jh. v. a. Vertreter der sozialistischen Bewegung wie Ferdinand Lassalle ein „menschenwürdiges Dasein“. Damit wurde die Verwirklichung ökonomischer bzw. materieller Voraussetzungen der M. verlangt. Man kann von einer „ökonomischen“ Würde sprechen, genauer von einer „ökonomischen Würdebedingung“.

2. Die intrinsische bzw. große Würde

Der Begriff einer inneren, im Kern unveränderlichen, notwendigen und allgemeinen Eigenschaft des Menschen wurde nach den Anfängen bei Cicero, den christlichen Denkern sowie in der italienischen Renaissance v. a. durch I. Kant von metaphysischen und religiösen Fundamenten gelöst und als Selbstbestimmung bzw. Autonomie des Menschen konkretisiert. Wesentlich für den Begriff der M. wird bei ihm zunächst 1785 in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ die Idee der Selbstgesetzgebung des Menschen in einem gemeinsamen Reich der Zwecke. 1798 treten dann in der „Metaphysik der Sitten“ die Selbstzweckhaftigkeit und das Verbot, zum bloßen Mittel gemacht zu werden, hinzu – allerdings nur für die „Tugendlehre“, während I. Kant in der „Rechtslehre“ und damit in der politischen Philosophie die M. nicht erwähnt. Neuere Autoren haben versucht, die innere Eigenschaft der großen M. mit Hilfe des Begriffs der Freiheit zu konkretisieren, etwa als Willensfreiheit (Paul Tiedemann) oder als innere Freiheit (Christoph Goos). Die Freiheit ist die metaphysisch-ontologische Grundlage der Selbstbestimmung des Menschen und damit der großen M. Aber als metaphysisch-ontologische Grundlage umfasst das Faktum der Freiheit nicht die praktisch-normative Dimension der Selbstbestimmung. Die M. ist spät zum Bewusstsein gelangt und spät statuiert worden, weil sie keinen einfachen, primären Belang des Menschen, wie Leben, Leib, Psyche usw. darstellt. Die innere, unveränderliche Eigenschaft der großen M. ist die Eigenschaft der tatsächlichen oder wenigstens potentiellen Selbstbestimmung über die eigenen Belange, d. h. die Bestimmung der eigenen Belange primärer bzw. niederer Stufe durch die Wünsche und Ziele zweiter bzw. höherer Stufe. So lassen sich Verletzungen der M. wie Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit erklären: Bei der Folter wird physisches oder psychisches Leid zum Zweck der Willensbrechung zugefügt. Die natürliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele zweiter Stufe über die eigenen primären körperlichen Strebungen und körperlichen und seelischen Bedürfnisse und Wünsche zu entscheiden, wird stark reduziert. Bei der Sklaverei wird der Versklavte in seinen Belangen zweiter Stufe vollständig vom Sklavenhalter fremdbestimmt. Der Sklaverei vergleichbar ist der Verkauf von Menschen, etwa zum Kriegsdienst oder zur Prostitution. Bei der Zwangsarbeit handelt es sich schließlich um eine Art beschränkter Sklaverei, die mit der Arbeit einen wesentlichen Lebensbereich des Menschen umfasst. Umstritten, aber zu bejahen ist die Verletzung der großen M. bei der Todesstrafe, welche Art. 102 GG verbietet, und bei der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Chance auf vorzeitige Freilassung, weil der Betroffene in beiden Fällen alle Selbstbestimmung über die eigenen Belange verliert (BVerfGE 45,187[245]).

3. Die extrinsische, kontingente bzw. kleine und mittlere Würde: wesentliche soziale Stellung, Selbstachtung und Schutz vor Demütigungen

Alle Menschen haben auch die kleine, extrinsische bzw. kontingente M. der äußeren, veränderlichen Eigenschaft ihrer wesentlichen sozialen Stellung in Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften reichen von der Familie über die Sippe, das Dorf, die Religionsgemeinschaft, die Ethnie, die Nation, den Staat bis hin zur gesamten Menschheit. Die mittlere M. der grundlegenden normativen Gleichheit der sozialen Stellung, wie sie S. von Pufendorf zum ersten Mal gefasst hat, bildet den sehr wichtigen Grenzfall dieser Eigenschaft. Der äußeren Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung des einzelnen Menschen korrespondiert seine innere Eigenschaft der veränderlichen Selbstbewertung mit Bezug auf diese soziale Stellung, wobei man mit Avishai Margalit weiter zwischen der Selbstachtung (selfrespect) der gleichen Selbstbewertung als Mensch und dem Selbstwertgefühl (selfesteem) der besonderen Selbstbewertung im Hinblick auf spezielle Leistungen, Verdienste oder Positionen unterscheiden kann. Die veränderliche Selbstbewertung der kleinen M. hängt bis zu einem gewissen Grade von der äußeren sozialen Stellung ab, beeinflusst diese aber auch regelmäßig. Inwieweit beides geschieht, ist von Mensch zu Mensch verschieden, je nachdem, wie ernst er seine soziale Stellung nimmt. Soziale Stellung und Selbstbewertung werden jedoch faktisch stark von der Fremdbewertung durch die anderen Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft bestimmt. Derartige Bewertungen und damit auch Abwertungen der sozialen Stellung durch andere sind häufig unvermeidbar, etwa in Zeugnissen. Die Überschreitung der Schwelle zur Verletzung der M. hängt von vielen Faktoren ab: den Regeln einer Gemeinschaft, den Fakten, auf die sich diese Regeln beziehen, dem früheren Verhalten des Betroffenen, dem früheren Verhalten der anderen usw. Bei der mittleren Würde ist schließlich die natürliche Gleichheit jedes Menschen als Wesen mit Gedanken, Gefühlen und Belangen entscheidend. Die kleine und mittlere Würde des Menschen bestehen darin, dass all diese Faktoren nicht in gravierender Art und Weise falsch oder zumindest ungerechtfertigt missachtet werden. Verbietet etwa eine Regel in einer Gesellschaft das Anspucken anderer, so stellt die Missachtung dieser Regel eine Verletzung der kleinen bzw. mittleren M. dar, sofern damit eine schwere, ungerechtfertigte Abwertung des Betroffenen verbunden ist.

4. Die ökonomischen Bedingungen der Verwirklichung der Menschenwürde

Verschiedentlich wird die M. in Weiterführung der Lassalle’schen Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein und Art. 151 WRV auf die ökonomischen bzw. materiellen Voraussetzungen der menschlichen Existenz erstreckt, also i. S. d. ökonomischen Würdebedingung verstanden. Nach 1945 hat etwa der marxistische Philosoph Ernst Bloch die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen gefordert. Für Werner Maihofer hat der Staat alle Verhältnisse abzuschaffen, auch solche der außerstaatlichen Sphäre, welche die M. beeinträchtigen. Und für Günter Dürig soll sich aus der M. ein einklagbares, subjektives öffentliches Recht auf Fürsorge ergeben. Das BVerfG hat nach anfänglicher Ablehnung eine staatliche Verpflichtung zum Schutz des menschenwürdigen Daseins bejaht, welche das Gebot zur Sicherung bzw. Belassung des Existenzminimums umfasst (BVerfGE 40, 121[133]; 125, 175[222]).

5. Reduktive und skeptische Auffassungen

Nach Meinung einiger Skeptiker soll die M. bloß ein normativer Anspruch gegenüber anderen sein oder von der Anerkennung durch andere oder der Erzeugung durch die Begriffs- bzw. Wertegemeinschaft oder gar der Philosophie abhängen. Nach Peter Schaber soll die M. etwa nur in einem Anspruch gegenüber anderen Personen auf Selbstachtung bestehen, welcher wiederum im Recht der Person liege, über wesentliche Bereiche des eigenen Lebens verfügen zu können. Im Sinne einer „Anerkennung durch andere“ und eines bloßen „Relations- und Kommunikationsbegriffs“ versteht Hasso Hofmann die M. Das Schutzgut sei die „mitmenschliche Solidarität“ (Hofmann 1993: 364). Die Würde könne nicht losgelöst von einer konkreten Anerkennungsgemeinschaft gedacht werden. Für Jürgen Habermas beruht die Würde lediglich auf den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung. V. a. Vertreter des Utilitarismus bzw. Konsequentialismus verneinen den Charakter der M. als selbständige Eigenschaft. Bei der M. soll es sich nur um ein Wort bzw. einen Begriff handeln, mit dessen Hilfe andere zentrale Rechte bzw. Interessen gebündelt und mit einem besonderen Wert ausgezeichnet werden. Die extremste, reduktionistische Meinung führt eine skeptische Tradition gegenüber der M. von Jeremy Bentham über Arthur Schopenhauer bis zu Friedrich Nietzsche fort. Nach Burrhus Frederic Skinner gibt es keine mentalen Eigenschaften, sondern nur eine Würdigung durch andere. Wir sollen Verhalten würdigen, in dem wir die Angemessenheit einer Verstärkung dieses Verhaltens zu schätzen wissen. Verschiedentlich wird die Meinung geäußert, der Begriff der M. gehe nicht über den Begriff der Autonomie hinaus und sei deshalb praktisch nutzlos. Alle diese, v. a. von Philosophen geäußerten Meinungen widerstreiten dem allgemeinen Verständnis der M. als tatsächlicher Eigenschaft und den rechtlichen Regelungen der UN-Charta und AEMR, des GG, der EuGRC usw.

6. Der Träger der Menschenwürde bzw. des Menschenwürdeschutzes

Welchen Wesen die M. zukommt, ist umstritten. Man muss bei dieser Frage sorgfältig zwischen den erwähnten (Teil-)Begriffen der M. unterscheiden. Weiterhin muss zwischen der ethischen und der rechtlichen Bewertung differenziert werden. Schließlich ist genau zwischen der faktischen Eigenschaft der M. und dem normativen Schutz der M., also der Verpflichtung zur Achtung der M. zu trennen. Während einige jedem Menschen als Gattungswesen bzw. jedem von Menschen geborenen Wesen Würde zuerkennen, erwarten andere das tatsächliche Bestehen der Eigenschaft der Selbstbestimmung bzw. der wesentlichen sozialen Stellung. Zur Ausweitung des Schutzes der M. werden dann verschiedene Strategien eingesetzt: der Verweis auf die Unsicherheit der faktischen Erkenntnis, die Potentialität des Embryos gegenüber dem geborenen Kind, die Unterscheidung zwischen der Verletzungshandlung und dem tatsächlichen Eintritt der Verletzung, die Annahme der Fortwirkung des M.-Schutzes über den Tod hinaus usw.

7. Die Unantastbarkeit und Unabwägbarkeit der Menschenwürde

Die Art. 1 des GG und der EuGRC erklären die M. für unantastbar. Das kann zweifach verstanden werden: beschreibend und vorschreibend. Beschreibend wird ausgesagt, dass dem Menschen seine Würde nicht genommen werden kann, dass die Würde also zwar vielleicht verletz-, nicht aber gänzlich aufhebbar ist. Vorschreibend wird damit behauptet, dass die M. gegenüber anderen Rechten nicht abwägbar sei, also absolut gelten soll.

Die große M. der Selbstbestimmung über die eigenen Belange ist insofern beschreibend unantastbar, als dem Einzelnen diese Eigenschaft auch in Extremsituationen wie der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit nicht ganz geraubt werden kann. Selbst im Falle größter Beschränkung bleibt er ein geistiges Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung über die eigenen Belange. Die kleine und mittlere M. der wesentlichen sozialen Stellung kann dagegen nicht nur verletzt, sondern bereits zu Lebzeiten praktisch gänzlich aufgehoben werden, etwa durch Ausstoßung aus der Gemeinschaft. Die Frage, ob die M. auch normativ unantastbar ist, also nicht abgewogen werden darf ist außerordentlich umstritten. Zwischen Ethik, Forderungen der Ethik an Moral, Recht und Politik sowie deren tatsächlichen Normierungen ist in dieser Frage sorgfältig zu unterscheiden.

a) Die Ethik liefert gerade Gründe für Abwägungen, so dass es in ihr keine vollkommen unabwägbaren Werte bzw. Belange geben kann. Allerdings wird die M. als Höchstwert im Regelfall anderen Werten vorgehen. Dies gilt ohne Einschränkungen, wenn wie bei staatlichem Handeln wegen der überlegenen Machtmittel des Staates eine sehr große Missbrauchsgefahr besteht. Die von manchen neuerdings propagierte „Rettungsfolter“ (Trapp 2006: 54), etwa an einem Entführer, um das Versteck der Geisel zu erfahren, oder an einem Bombenleger, ist deshalb nicht zu rechtfertigen.

b) Ethische Begründungen rechtfertigen prima facie auch Forderungen an das Recht. Allerdings kann wie jedes Mittel auch das Recht zum Zweck der Sicherung ethischer Standards untauglich oder unverhältnismäßig sein. Das Recht ist allg., formal, in weiten Teilen strikt gebietend und häufig mit Sanktionen verbunden. Seine Entscheidungen haben eine starke generelle Orientierungskraft. Und es wirkt auf Grund dieser Eigenschaften in hohem Maße repräsentierend und gesellschaftsprägend. Diese Merkmale lassen beim Recht die gesellschafts- und bewusstseinsbeschränkende Einschränkung z. B. des absoluten Folterverbots erheblich stärker ins Gewicht fallen. Folter ist der klassische und gravierendste Fall staatlichen Machtmissbrauchs und staatlicher M.-Verletzung. Deshalb erscheint es dringend geboten, am absoluten rechtlichen Verbot der Folter festzuhalten, nicht zuletzt um die Folter weltweit glaubwürdig bekämpfen zu können. Das rechtliche Folterverbot kann seine prohibitive Wirkung nur entfalten, wenn es absolut gilt. Jede Relativierung würde das Vertrauen in die rechtlich gebundene und kontrollierte Staatsmacht erschüttern und ihre Legitimität aushöhlen.

c) Art. 1 GG hat in Deutschland die M. durch ihre Festlegung als „unantastbar“ für unabwägbar erklärt. Die M. ist der oberste Wert des GG (BVerfGE 6, 32[41]). Das BVerfG hat ausdrücklich festgestellt: „Die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“ (BVerfGE 93, 266[293]). Wird also in die M. eingegriffen, so kann dies unter keinen Umständen mit Verweis auf eines der Einzelgrundrechte gerechtfertigt werden. Diese Auffassung wird bis heute von der großen Mehrheit geteilt. Weniger eindeutig ist die Rechtslage für den speziellen Fall, dass Würde gegen Würde steht, der Staat also eine Verletzung der Würde nur durch eine staatliche Würdeverletzung verhindern könnte. Hierzu ist bisher keine klare Aussage des BVerfG erfolgt. Während das LG Frankfurt (NJW 2005: 692) und die Mehrheit in der Literatur dies ablehnen, vertreten manche die Meinung, dass das deutsche Recht die Abwägung Würde gegen Würde erlaubt, die Polizei also etwa dem Geiselnehmer u. U. Schmerzen zufügen darf, um das Versteck der Geisel zu ermitteln. Allerdings verbietet Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG explizit, dass festgehaltene Personen seelisch oder körperlich misshandelt werden.

8. Der Schutz der Menschenwürde in Deutschland

Art. 1 GG ist unmittelbar geltendes Recht, kein bloßer Programmsatz wie in manchen anderen Verfassungen, und zwar nach herrschender, allerdings von einigen bestrittener Meinung ein subjektives Grundrecht, auf das Verfassungsbeschwerden zum BVerfG sogar gegen den verfassungsändernden Gesetzgeber gestützt werden können. Nach Art. 79 Abs. 3 GG ist die M. jeder Verfassungsänderung durch die Gesetzgebung entzogen. Der Staat hat eine Schutzpflicht, die alle Anstrengungen verlangt, um Gefahren für die M. frühzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen (BVerfGE 49, 89[132]). Zur Interpretation von Art. 1 GG haben das BVerfG und einige Autoren im Anschluss an Josef Wintrich und G. Dürig die sogenannte Objektformel geprägt, wonach der Mensch nicht zum bloßen Objekt bzw. zum bloßen Mittel gemacht werden darf (BVerfGE 9, 89[95]; 27, 1[6]). Neben den bereits erwähnten sind in Deutschland rechtlich verbotene Verletzungen der M. u. a.: Strafprozessuale Vernehmungsmethoden, welche die Freiheit des Willens einschränken (136a StPO); die Züchtung menschlicher Embryonen zu anderen Zwecken als der Einpflanzung in die Frau, von der die Eizelle stammt (§§ 1, 2 ESchG) sowie die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen (§ 5 ESchG); die vollständige Registrierung und Katalogisierung des Menschen (BVerfGE 65, 1[48 ff.]); die gesetzliche Erlaubnis zum Abschuss gekaperter Verkehrsflugzeuge, um Menschen am Boden zu retten (BVerfGE 115, 118[154]); die Verwendung von Lügendetektoren im Strafprozess (BVerfG NJW 1982: 375); die Peep-Show (BVerwGE 64, 274[278 f.]; der Zwergenweitwurf (VG Neustadt, NVwZ 1993: 98 f.).