Gemeinschaft

Als G. werden in der Soziologie und darüber hinaus jene Formen des menschlichen Zusammenlebens bezeichnet, die auf einem primär emotional und/oder traditional bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühl aller Beteiligten beruhen und durch eine zumindest relative Dauer gekennzeichnet sind.

Als soziologischer Grundbegriff geht G. auf Ferdinand Tönnies und sein 1887 erstmalig erschienenes Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zurück. G. bezeichnet F. Tönnies hier als eine Sozialform, in der die Menschen miteinander verbunden sind auf der Grundlage enger persönlicher und um ihrer selbst willen bejahter Beziehungen. G. beruhe auf der Betonung des Gemeinsamen, auf Verzicht bestimmter Formen der Selbstbehauptung und einzelhafter Ich-Interessen, auf Selbsthingabe, Liebe, Direktheit, Unvermitteltheit, auf der Ausschaltung aller distanzierenden menschlichen und technischen Zwischeninstanzen, kurz: auf Wärme, Nähe, Intimität und Rückhaltlosigkeit. Als typische Formen von G. nennt er die Familie als „Gemeinschaft des Blutes“ (Tönnies 1887: 16), die Nachbarschaft als „Gemeinschaft des Ortes“ (Tönnies 1887: 16) und die Freundschaft als „Gemeinschaft des Geistes“ (Tönnies 1887: 16). Der „organischen“ G. stellt er die „mechanische“ Gesellschaft gegenüber, die er – gestützt auf die Gesellschaftsanalyse von Karl Marx – wesentlich durch die Defizite bestimmt, die sie im Vergleich mit der G. aufweise. Gesellschaftlich miteinander verbundene Menschen seien gar nicht wirklich miteinander verbunden. Gesellschaft sei vielmehr ein bloßes Nebeneinander wesentlich getrennter einzelner Individuen, kein echtes, sondern nur ein scheinbares, ein künstliches Zusammenleben, ein mechanischer Artefakt. Gesellschaft beruhe auf Entscheidung, Egoismus, auf Begierde und Furcht, auf „vernunftgemäßer Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeiten“, kurz: auf einer grundsätzlich „negativen Haltung“ (Tönnies 1979: 34). In konsequenter Fortführung dieser Argumentation nennt F. Tönnies denn auch als typische Formen der Gesellschaft die Großstadt (Stadt), die Nation und den großindustriellen Wirtschaftsbetrieb, die alle auf „Bedacht“, „Beschluß“ und „Begriff“ aufgebaut seien und allein auf der Grundlage interessenspezifischer Bindungen mittels „Kontrakt“, „Konvention“, „Politik“ und „öffentlicher Meinung“, die jetzt an die Stelle der Religion getreten seien, Gemeinsamkeit und Sinn vermittelten.

Deshalb überrascht es auch nicht, wenn F. Tönnies keinen Zweifel daran lässt, dass er G. nicht nur für die urspr.ere, sondern auch für die höherwertige Sozialform hält und dass „der Begriff der Gesellschaft […] den gesetzmäßig normalen Prozeß des Verfalls aller Gemeinschaft“ (Tönnies 1925: 71) bezeichne – eine Sichtweise, die in der Geschichte der Soziologie und Sozialphilosophie deutliche und vielfältige Spuren hinterlassen hat, nicht nur in der Soziologie der Weimarer Republik, in der z. B. Hans Freyer forderte, die Soziologie müsse nun mithelfen, die gemeinschaftszersetzende industrielle Gesellschaft durch eine „geistige Welt“ zu ersetzen, „die Gemeinschaft ermöglichen soll“ (Freyer 1930: 245), sondern bspw. auch in den sozialphilosophischen Lehren Jürgen Habermas’ mit seiner Unterscheidung von „System“ und „Lebenswelt“ und den Zeitdiagnosen des – v. a. – angelsächsischen Kommunitarismus. Auch in der Theologie, sowohl in der protestantischen wie in der katholischen und im jüdischen Denken, wurde F. Tönnies’ dichotomische Unterscheidung aufgegriffen und zur Ausformulierung einer religiös motivierten Kapitalismuskritik eingesetzt, in der sich der Hoffnung hingegeben wurde, dass eine „erneuerte Religion“ nur in einer „erneuerten Gemeinschaft“ möglich werden kann, so bspw. bei Martin Buber, Paul Tillich und Romano Guardini. Insb. in R. Guardinis Schrift „Vom Sinn der Gemeinschaft“ (Guardini 1950) wird der Gedanke eines „christlichen Solidarismus“ entwickelt, von dem schon F. Tönnies meinte, er wäre zwar nicht der einzig mögliche, aber doch ein erfolgversprechender Weg, der aus der Krise der „Gesellschaft“ herausführen könne (Tönnies 1929: 464).

Dieser – geschichtsphilosophisch inspirierten, „kulturkritischen“ (Kulturkritik), ja „kulturpessimistischen“ – Sichtweise von der Überlegenheit der G. über die Gesellschaft hat Helmuth Plessner in seiner frühen Studie „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) dezidiert widersprochen. Für H. Plessner sind Distanz, Indirektheit und Vermitteltheit als Grundrelationen „gesellschaftlicher“ Beziehungen keine defizienten, weil künstlichen Modi wie bei F. Tönnies, sondern in der „leib-seelischen Konstitution des Menschen“ selbst begründet. Gesellschaft als Sphäre „indirekter Direktheit“, „natürlicher Künstlichkeit“, als paradoxer und doppelsichtiger Spielraum des menschlichen Lebens, die der objektivierten Formen des Taktes, des Prestiges und der Zeremonie bedarf, ist für ihn genauso „natürlich“ wie G. Diese und Gesellschaft stehen deshalb für H. Plessner nicht in einer hierarchischen Beziehung, sondern gelten als zwei gleichberechtigte, historisch schon immer vorhanden gewesene Formen des menschlichen Zusammenlebens. Auch Max Weber war bemüht, F. Tönnies’ dichotomische Begriffsbildung geschichtsphilosophisch zu entschärfen und sie zu de-ontologisieren. In seinen „Soziologischen Grundbegriffen“ verwandelt er G. und Gesellschaft in idealtypische Prozessbegriffe und spricht von Formen der „Vergemeinschaftung“ und der „Vergesellschaftung“. Letztere wird definiert als eine soziale Beziehung, „wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“, erstere als eine solche, „wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligen beruht“ (Weber 1976: 21). Mit dieser Konzentration auf die Motive des sozialen Handelns (Handeln, Handlung) kann M. Weber nicht nur der Frage nach der „Naturgemäßheit“ der Sozialformen aus dem Weg gehen, sie ermöglicht es ihm auch, den Begriff der G. – jenseits persönlicher Nahverbände wie der Liebes-G., der Familie oder der Freundschaft – auf „größere“ Sozialgebilde wie der Nation auszuweiten, die er als „sekundäre Vergemeinschaftung“ bezeichnet, woraus Benedict Anderson dann später seinen Begriff der imagined communities ableitete.

Ohne Zweifel lassen sich die Kategorien G. und Gesellschaft auch heute noch gewinnbringend für die Analyse der Formen menschlichen Zusammenlebens einsetzen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass im Zuge von Individualisierungs-, Pluralisierungs-, Mediatisierungs- und Globalisierungsprozessen die bisherigen „klassischen“ G.en und Gesellschaften an Attraktivität und Bedeutung verlieren und sich neuartige, weniger verbindliche und nur kurzfristig wirksame Sozialformen ausbilden, in denen sich v. a. das Bedürfnis nach „authentischen“ G.s-Erlebnissen situativ und weitgehend unverbindlich Ausdruck verschafft. Manfred Prisching bezeichnet diese Formen als „temporäre Vergemeinschaftungen“, Ronald Hitzler spricht in Anschluss an Michel Maffesoli von „posttraditionalen Vergemeinschaftungen“. Beiden ist gemeinsam, dass sie Elemente von G. und Gesellschaft miteinander kombinieren. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich Individuen oftmals zufällig dafür entscheiden, sich freiwillig und zeitweilig mehr oder weniger intensiv und mehr oder weniger dauerhaft als mit anderen zusammengehörig zu betrachten, mit denen sie nicht nur eine gemeinsame Interessenfokussierung haben oder vermuten, sondern mit denen sie sich – jenseits aller gemeinsamen Interessen – in einer Art von „Gesinnungsbrüderschaft“ auch affektuell verbunden fühlen. Konkrete Ausgestaltungen solcher posttraditionalen G. streuen und reichen von (Jugend-)Szenen und ihren Events, über virtuelle G. in den sozialen Netzwerken und neuartigen, oftmals internetbasierten, global agierenden politischen Bewegungen (linker wie rechter Provenienz) bis hin zu situativen Event-Vergemeinschaftungen wie flash-mobs oder public-viewing-events, in denen das auf den Moment beschränkte, ekstatische, grenzenlose und deshalb weitgehend unverbindliche, weil folgenlose G.s-Erlebnis im Mittelpunkt steht.

Auch an den etablierten Religionsgemeinschaften und Kirchen mit ihren traditionellen Gemeindemodellen (Gemeinde) geht diese Entwicklung nicht vorbei. Auch hier zeigen sich neue Organisationsformen des religiösen Lebens jenseits der klassischen Sozialformen von Kirche und Sekte in Form posttraditionaler Vergemeinschaftungen. Im religiösen Feld gruppieren sich diese oftmals um „charismatische“ (Charisma), manchmal auch nur um hinreichend „prominente“ Personen. Das kann sich sowohl innerhalb als auch außerhalb von etablierten kirchlichen Strukturen abspielen. Es kann auch sein, dass lediglich die kirchliche Infrastruktur (wie Gemeindesäle, kirchliche Grundstücke und Bauten oder historische Pilgerwege) genutzt wird. Der „etwas besondere Seelsorger und Prediger“, zu dem die Leute in den Sonntagsgottesdienst, zum Freitagsgebet oder zu medial inszenierten religiösen Großveranstaltungen von weither anreisen, sprengt ebenso die herkömmlichen Sozialformen von Religion und gründet neue posttraditionale Vergemeinschaftungen wie neu entstehende religiöse Bewegungen und Kult-G.en, die i. d. R. überregional, wenn nicht sogar global orientiert sind, sich manchmal, aber nicht immer an bisherige kirchliche Strukturen anlagern. Die Spannbreite dieser „neuen religiösen G.en“ ist groß. Sie reicht von den sogenannten Neuen Geistlichen G.en über Hochschulgemeinden, den Weltgebetstag der Frauen und den sogenannten Kirchbauvereinen, die alle noch mehr oder weniger stark in den formalen Strukturen der Kirchen eingebettet sind, bis hin zu relativ unstrukturierten Gruppen aus dem heterogenen Bereich sogenannter alternativer Spiritualität. Menschen aber, die sich in solche posttraditionalen religiösen Vergemeinschaftungen begeben, sind am Leben ihrer Herkunftsgemeinde kaum mehr interessiert. Denn im Vergleich zu herkömmlichen religiösen Sozialformen sind diese weitaus offener, in ihrem Normierungsanspruch unverbindlicher und in ihrem Weltdeutungsanspruch individualistischer. In ihnen, die nur locker über netzwerkähnliche (virtuelle) Strukturen miteinander verbunden sind, kann man seine je individuellen und aktuellen religiösen Bedürfnisse befriedigen, ohne sich dauerhaft binden und einer G. gegenüber verpflichten zu müssen, kann extensiv in G.s-Erfahrungen schwelgen, auch wenn diese nicht von (extrem) langer Dauer sind.

Literatur