Bundesverfassungsgericht (BVerfG)

  1. I. Das Bundesverfassungsgericht aus rechtswissenschaftlicher Sicht
  2. II. Das Bundesverfassungsgericht aus politikwissenschaftlicher Sicht

I. Das Bundesverfassungsgericht aus rechtswissenschaftlicher Sicht

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1. Grundlagen

Das BVerfG ist historisch das erste Gericht in Deutschland, das genuin und kontinuierlich die Einhaltung der Verfassung durch die gesamte deutsche Staatsgewalt kontrolliert. Dieser ihm in Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG gegebene Auftrag bildet einen tragenden Stein im Gefüge des deutschen Rechts- und Verfassungsstaates (Rechtsstaat). Das GG hat sich in den Art. 92–94 GG für die Verfassungskontrolle durch ein Gericht der dritten Gewalt aus unabhängigen Richtern (Richter) statt durch einen Ausschuss des Parlaments, der mit politisch handelnden Abgeordneten besetzt ist, entschieden. Das BVerfG ist zugleich ein – fünftes – Verfassungsorgan neben Bundespräsident, Bundestag und Bundesrat sowie Bundesregierung; deshalb hat es einen eigenen Einzelplan im Bundeshaushalt, besitzt eigene Beamte, untersteht keinem Ministerium und verkehrt unmittelbar mit anderen deutschen Verfassungsorganen und ausländischen Stellen. Es ist das einzige Gericht des Bundes (Bundesgerichte), das parlamentarische Gesetze (Gesetz) für nichtig erklären kann. Das Gericht hat 1951 die Tätigkeit an seinem Amtssitz in Karlsruhe aufgenommen.

Die Grundsätze seiner Organisation und Verfahren geben in groben Zügen die Art. 93 und 94 GG vor. Die weiteren entscheidenden Festlegungen und Details finden sich im BVerfGG und in der vom Gericht erlassenen Geschäftsordnung. Das BVerfG entscheidet in der Funktion eines Staatsgerichtshofs über Streitigkeiten zwischen den anderen Verfassungsorganen des Bundes und zwischen Bund und Ländern, weil und soweit zwischen ihnen kein Hierarchieverhältnis besteht, das eigenständig Konflikte regeln könnte. Als Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtsbarkeit) schützt es Bürger und Gesellschaft vor Grundrechtsverletzungen durch die öffentliche Hand v. a. durch die Verfassungsbeschwerde. Mit diesen weiten Zuständigkeiten hat es mittlerweile in über 60 Jahren der Rechtsprechung den deutschen Staat verfassungsrechtlich mitgeprägt, seine freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Dimensionen bewahrt und die gesamte deutsche Rechtsordnung konstitutionalisiert. Das Gericht kontrolliert ausschließlich am Maßstab des GG; zur Entscheidung über einfachgesetzliche Streitfragen als ein oberstes Fachgericht ist es im Gegensatz zu den Supreme Courts anderer Länder nicht berufen. Das Gericht besteht aus zwei voneinander völlig unabhängigen und getrennt besetzten Senaten aus jeweils acht Mitgliedern („Zwillingsgericht“); sie treten nur selten als Plenum zur Lösung von Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den Senaten als gerichtlicher Spruchkörper und mindestens zweimal im Jahr als autonomes Verwaltungsorgan des Gerichts zusammen, das gemeinsam mit dem Präsidenten das Gericht leitet. Präsident und Vizepräsident sind jeweils die Vorsitzenden eines Senats. Aus dem Kreis eines jeden Senats werden jeweils – meist drei – Kammern aus drei seiner Mitglieder gebildet, die einstimmig an seiner Stelle v. a. Verfassungsbeschwerden entscheiden können. Im Alltag tragen sie die Hauptlast der Rechtsprechungsarbeit; sie beschließen im schriftlichen Verfahren. Alle eingehenden Anträge werden nach den zu Beginn eines jeden Jahres beschlossenen Geschäftsverteilungsplänen den Mitgliedern des Gerichts zugeteilt; in der Praxis sind sie für einzelne Grundrechte oder abgeschlossene Rechtsgebiete zuständig. Die Mitglieder des Gerichts werden für zwölf Jahre vom Bundestag oder vom Bundesrat gewählt; das dafür notwendige Mehrheitserfordernis von 2/3 sorgt regelmäßig dafür, dass nicht die Regierungsfraktionen allein, sondern auch die Opposition die Wahl mitträgt. Eine Wiederwahl ist zur Sicherung der Unabhängigkeit der Richter ausgeschlossen.

2. Zuständigkeiten

Dem BVerfG ist keine Zuständigkeit allgemein für „das GG“ zugeteilt, sondern ihm sind Rechtsprechungskompetenzen für einzelne, in Art. 93 GG aufgelistete Verfahrensarten zugewiesen worden, die sich nach Prüfungsgegenstand, Antragsteller und Verfahrensziel unterscheiden. Der Schwerpunkt mit zurzeit über 6 500 Anträgen pro Jahr liegt bei den Verfassungsbeschwerden, also in der Aufgabe des Gerichts, die Grundrechte der Bürger zu schützen. Daneben sind Normenkontrollen, der Bund-Länder-Streit sowie der Organstreit zwischen Verfassungsorganen des Bundes von großer Bedeutung. Die übrigen, etwa 15 anderen Verfahrensarten werden nur selten oder sind überhaupt noch nicht eingesetzt worden.

Die Verfassungsbeschwerde ist das Instrument des Bürgers zum Schutz seiner Grundrechte vor der deutschen Staatsgewalt. Mit ihr können die Grundrechte der Art. 1–19 GG und ähnliche subjektive Rechte natürlicher und juristischer Personen (Juristische Person) aus der Verfassung geltend gemacht werden. Eine Verfassungsbeschwerde kann von jedermann, schriftlich und i. d. R. innerhalb eines Monats nach der Grundrechtsverletzung beim Gericht eingelegt werden. Sie muss in dieser Frist den angefochtenen Hoheitsakt bezeichnen, das verletzte Grundrecht angeben und der Begründung alle zur Beurteilung der Verfassungsfrage notwendigen Unterlagen beifügen, damit der Prozess allein anhand der eingereichten Schriftstücke entschieden werden kann. Wo gegen den angefochtenen Staatsakt ein Rechtsweg zu den Fachgerichten offen steht, muss dieser zuvor beschritten und durchlaufen werden und gegen das Urteil der Fachgerichte Beschwerde eingelegt werden. Auf diese Weise wird der behauptete Verfassungsverstoß zuvor schon von ihnen geprüft. Sie bereiten den Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht für das BVerfG auf. Ist die Verfassungsbeschwerde begründet, gibt das Gericht ihr statt, stellt fest, welche Grundrechte verletzt wurden, und hebt den grundgesetzwidrigen Akt auf oder erklärt ihn für verfassungswidrig. Ansonsten verwirft es die Beschwerde als unzulässig, weist sie als unbegründet zurück oder lehnt deren Annahme ab.

In der Normenkontrolle wird unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer Norm geprüft. In der konkreten Normenkontrolle legt ein Fachgericht die in einem laufenden Verfahren bei ihm aufgetretene, von ihm verneinte Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dem BVerfG vor. Jenes beantwortet diese Rechtsfrage; der fachgerichtliche Prozess läuft dann mit dieser für das Fachgericht verbindlichen Vorgabe weiter. In der abstrakten Normenkontrolle können hingegen Regierungen und Parlamente (Parlament) allgemein und grundsätzlich die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (Gesetz) prüfen lassen. Im Bund-Länder-Streit und im Organstreit werden die Rechte und Pflichten zwischen den beteiligten Teilstaaten oder Verfassungsorganen des Bundes vom Gericht verbindlich geklärt.

3. Entscheidungswirkungen

Die Rechtskraft der Entscheidungen des BVerfGs geht über die sonst übliche Bindung der beteiligten Parteien hinaus. Sie verpflichten stets alle staatlichen Stellen im Bund und in den Ländern, auch wenn sie gar nicht am Verfassungsprozess beteiligt waren. Deshalb werden i. d. R. alle am Ausgang eines Verfahrens interessierten Verfassungsorgane von Bund und Ländern vom Gericht über einen eingereichten Antrag unterrichtet und zur Stellungnahme oder Beteiligung im Prozess eingeladen. Wenn sich ein Verfahren mit der Verfassungsmäßigkeit von parlamentarischen Gesetzen (Gesetz) befasst, wirkt das Urteil des Gerichts gleich dem geprüften Gesetz sogar gegenüber jedermann. Es wird deswegen auch im BGBl publiziert. In dringenden Fällen kann das BVerfG im Eilverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, welche die Verfassungsfrage während des Hauptsacheverfahrens bis zu seiner verbindlichen Entscheidung vorläufig regelt, um auch schon in der Zwischenzeit Verfassungsverstöße zu vermeiden.

4. Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts

In der Konzentration der Gerichtskompetenz auf Verfassungsfragen, mit der Befugnis zur Aufhebung von Gesetzen (Gesetz) und wegen der weit reichenden Bindungswirkung seiner Entscheidungen kommt dem BVerfG eine bedeutende Rolle im Verfassungsstaat zu. Über seine normativ geschriebenen Befugnisse hinaus wirkt es in der Praxis auch auf eine inhaltliche Systematisierung oft hektisch beschlossener und in sich nicht abgestimmter Normen (Norm) und auf deren sachliche Legitimation hin, indem es anhand des Gleichheitssatzes und des Gebots der Verhältnismäßigkeit das Vorhandensein von Sachgründen für eine Regelung, die konsequente Durchführung legislatorischer Ziele in den Einzelvorschriften des konkreten Gesetzes und deren Tauglichkeit und Angemessenheit kontrolliert.

5. Das Bundesverfassungsgericht im Kontext der europäischen Gerichtsbarkeit

Außer dem BVerfG richten auch zwei europäische Gerichte ihr Augenmerk auf die Einhaltung von Grundrechten: der EGMR in Straßburg und der EuGH in Luxemburg. Alle drei Gerichte ziehen mit ihrer Aufgabenstellung am selben Strang, nämlich dem Schutz von Bürger- und Grundrechten. Das Straßburger Gericht will dabei als Institution des Europarates die Mindeststandards der Menschenrechte der EMRK bewahren, das Luxemburger Gericht als Organ der EU die Anwendung des Europarechts einschließlich der EuGRC sichern. Wo drei Spruchkörper mit ähnlichem Schutzauftrag, aber differenten Normtexten Entscheidungen fällen, bleiben Divergenzen in der Rechtsprechung nicht aus, auch wenn sie nur selten auftreten. In der Kollision zwischen Straßburger und Karlsruher Entscheidung geht normhierarchisch das Karlsruher Urteil vor, weil die Menschenrechtskonvention in Deutschland nur im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt. Wegen der menschenrechtlichen Zielsetzung der Konvention hat das BVerfG aber die deutschen Fachgerichte zu ihrer größtmöglichen Wahrung verpflichtet, soweit das deutsche Recht dazu Spielraum lässt, und erlaubt bei Divergenzen eine erneute Verfassungsbeschwerde zu bereits entschiedenen Rechtsfragen, um die andere Meinung aus Straßburg in die eigene Rechtsprechung einbeziehen zu können. Der EuGH in Luxemburg beansprucht für Normen (Norm) und Urteile aus Europa einen Anwendungsvorrang vor nationalem Recht; nur so sei eine europaweite Anwendung dieses Rechts gesichert. Dieser grundsätzlich zutreffende Anwendungsvorrang schafft aber Probleme – v. a. im Bereich der Grundrechte, wenn Mitgliedstaaten EU-Richtlinien (Europäische Richtlinien) umsetzen oder deren Verwaltung Europarecht durchführt. Das BVerfG geht deshalb im Kollisionsfall vom Vorrang des GG aus, wenn der Kerngehalt von deutschen Grundrechten oder die deutsche Verfassungsidentität gefährdet ist; ferner geht das GG vor, wenn die EU in Normierung oder Rechtsprechung über die ihr von den Mitgliedstaaten einzeln verliehenen Befugnisse hinausgegangen ist. Die Lösung solcher Fälle liegt letztlich darin, die gemeinsamen Aufgaben der drei Gerichte in Dialog und Gerichtsverbund trotz unterschiedlicher Normtexte zu einer gemeinsamen, konsistenten Rechtsprechung zu führen.

II. Das Bundesverfassungsgericht aus politikwissenschaftlicher Sicht

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Zwar ist das BVerfG zunächst Gericht und folgt damit in Verfahren wie Entscheidungslogik den Regelungen anderer Gerichte. Zugleich ist es aber auch ein machtvoller politischer Akteur, da es autoritativ über die geltende Auslegung des GG entscheidet und damit weitgehende „Deutungsmacht“ über die Verfassung besitzt. So erscheint das BVerfG als machtvoller „Vetospieler“ der Entscheidungen politischer Akteure verhindern kann. Neben dem Verhältnis des BVerfG zu anderen Akteuren hat sich die sozialwissenschaftliche Forschung v. a. den gerichtsinternen Entscheidungsprozessen gewidmet.

1. Der Entscheidungsprozess innerhalb des Bundesverfassungsgerichts

Der interne Entscheidungsprozess ist durch die Ambivalenz zweier Prinzipien gekennzeichnet: Zum einen zeichnet er sich durch ein hohes Maß an Arbeitsteilung und Spezialisierung aus. Da die Dezernate nach Sachgebieten geordnet sind, wird der zuständige Berichterstatter zum Experten und hat in dieser Funktion ein Votum für das Entscheidungsgremium (Senat oder Kammer) zu erstellen. Hinsichtlich der zeitlichen Behandlung der Fälle ist er zudem weitgehend autonom. Andererseits orientiert sich insb. die Senatsberatung am Leitbild der balanced critical deliberation, d. h. sie ist als Situation definiert, in der alle Richter (durch das Votum des Berichterstatters) informiert sind, sich am Diskurs beteiligen und dieser entscheidungsoffen ist. Abgesichert wird dies durch zwei (weitgehend ungeschriebene) Regeln: Die absolute Vertraulichkeit erlaubt es den Richtern, sich ohne Gefahr eines möglichen Ansehensverlusts ganz auf den Diskurs einzulassen. Die Orientierung am Ideal einer einvernehmlichen Entscheidung verhindert, dass sich die Richter lediglich mit Mehrheit entscheiden und dem Diskurs ausweichen; wesentlich ist allerdings auch, dass das BVerfG letztlich nicht auf einen Konsens angewiesen ist, da dann das Tauschprinzip gegenüber dem Modus des Problemlösens ein Übergewicht erhielte.

Inhaltlich sind die Beratungen ebenfalls von Schließungs- wie Öffnungstendenzen gekennzeichnet: Einerseits zielt das BVerfG – schon um dem Gebot der Rechtssicherheit zu genügen – auf eine Kontinuität seiner Rechtsprechung und sucht daher seine Linie beizubehalten. Andererseits sind zahlreiche Begriffe der Verfassung sehr allgemein und deutungsoffen, was dem BVerfG v. a. in den ersten Jahrzehnten erlaubte, sie auszufüllen.

Festzuhalten ist, dass die Güte der Entscheidungen und damit auch das hohe Ansehen des BVerfG weitgehend in der Gestaltung des Prozesses der Entscheidungsherstellung wurzeln. Die wesentlichen Prinzipien sind aber nicht formal normiert, sondern Elemente der informellen Organisationskultur des Gerichts, die so in anderen Verfassungsgerichten (Verfassungsgerichtsbarkeit) nicht gegeben sind. Dies bedeutet einerseits, dass in anderen nationalen Kontexten erfolgreiche Forschungsansätze für das BVerfG nur begrenzte Erklärungskraft haben, andererseits, dass sich das „Erfolgsmodell BVerfG“ nicht einfach in andere Kontexte übertragen lässt.

2. Bundesverfassungsgericht und Politik

BVerfG und politische Akteure sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Zum einen entscheidet das Gericht oftmals über politische Fragen, zum anderen bestellt die Politik die Richter. Das Verhältnis zu politischen Akteuren gestaltet sich nicht konfliktfrei, da die vom BVerfG zu entscheidenden Gegenstände häufig politisch sehr kontrovers sind und die Normverwerfungskompetenz die Freiheit des Gesetzgebers beeinträchtigt. Zu Beginn war die Position des BVerfG allerdings nicht unbestritten, sondern musste von diesem (v. a. mittels der Statusdenkschrift) erst erkämpft werden. Zwar wird aus der Politik mitunter der Vorwurf erhoben, dass das BVerfG nicht den erforderlichen judicial self-restraint praktiziere, doch treten – anders als in manch anderen Staaten – ernstliche Konflikte selten auf (z. B. Kruzifix-Urteil) und diese sind nicht dauerhaft. Die weitgehend unangefochtene Rolle des BVerfG fußt auch im sehr hohen Ansehen, das es in der Bevölkerung genießt und das selbst in Krisenphasen stabil bleibt.

Die gesetzlichen Voraussetzungen der Richterwahl (insb. die erforderliche Zweidrittelmehrheit) haben dazu geführt, dass der Rekrutierung der Richter intensive Vorabklärungen vorausgehen, die aber weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit erfolgen. Zwar steht bei einer Neubesetzung politischen Parteien, die im Bundestag sitzen, ein „Vorschlagsrecht“ zu, doch scheint hohes Interesse zu bestehen, eher wenig kontroverse Kandidaten zu benennen. Dabei hat sich herausgebildet, dass neben den vorgeschriebenen drei Bundesrichtern pro Senat (§ 2 Abs. 3 BVerfGG) insb. Hochschullehrer berücksichtigt werden, die zumeist auch schon an bedeutenden Verfahren vor dem BVerfG beteiligt waren. Deutliche Bindungen zwischen den Richtern und den nominierenden Parteien zeigen sich aber kaum. Insb. ehemalige Politiker gehen regelmäßig auf deutliche Distanz zu ihrer Partei.

3. Bundesverfassungsgericht, Europäischer Gerichtshof und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Beträchtliche Herausforderungen stellen sich dem BVerfG aber durch die Europäische Integration (Europäischer Integrationsprozess). Zwar beansprucht der EuGH schon seit 1962 den „Anwendungsvorrang“ des Europarecht gegenüber (auch dem Verfassungs-)Recht der Mitgliedstaaten. Er wird aber durch die Europäisierung zahlreicher Politikfelder immer wirkmächtiger. Dagegen betont das BVerfG in seiner Rechtsprechung zwar, dass die EU immer nur durch begrenzte Einzelermächtigung der Mitgliedstaaten zum Handeln befugt ist, doch ist nicht zu übersehen, dass die bereits durch die Verträge (und ihre Auslegung durch den EuGH) erteilten Ermächtigungen beträchtliche EU-Kompetenzen geschaffen haben. In Reaktion hierauf beansprucht das BVerfG das Recht zu prüfen, ob sich Rechtsakte der EU in den Grenzen der erteilten Einzelermächtigung bewegen (ultra-vires-Kontrolle), also auch, ob sie den „unantastbare[n] Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG“ wahren (BVerfGE 123, 267 – Lissabon).

Da gegen Entscheidungen des BVerfG nach der EMRK auch der EGMR angerufen werden kann, ergeben sich Probleme, wenn inhaltlich weitgehend identische Verbürgungen des GG und der EMRK von den Gerichten unterschiedlich ausgelegt werden (z. B. Caroline, Sicherungsverwahrung). Hier hat das BVerfG mittlerweile anerkannt, dass Entscheidungen des EGMR „rechtserheblichen Änderungen gleichstehen, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des BVerfG führen können“. Es bleibt abzuwarten, ob sich das BVerfG mit Blick auf die vom EuGH auszulegende EuGRC in gleicher Weise positionieren wird.