Abwägung

Mit A. bezeichnet man eine Operation, in der Interessen, Belange oder Verlaufsszenarien in eine Reihung gebracht werden. Als Priorisierungsinstrument geht A. jeder Entscheidung voraus und besitzt gleichermaßen politische, ökonomische sowie ethische Dimensionen. Die Gesetzgebung trifft beständig A.s-Entscheidungen, die Belange priorisieren und dadurch die Rechtsordnung materiell strukturieren. Eine praktische wie wissenschaftliche Bedeutung hat die A. erst seit den 1950er Jahren und v. a. in der deutschen Rechtswissenschaft erfahren. Die A.s-Lehre gilt heute als Exportschlager und neues Paradigma im öffentlichen Recht.

1. Gesetzlich angeordnete Abwägung

Eine A. findet sich in allen Rechtsgebieten, meist als eine tatbestandliche Anordnung, in denen eine A. vom Parlament delegiert oder respektiert wird. Das Zivilrecht kennt A.en u. a. bei der (außer-)ordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen, bei Räumungsklagen von Wohnraum, im Kartellrecht (Fusionskontrolle) oder im Arbeits(kampf)recht (Arbeitskampf, Arbeitsrecht). Zu einer Einzelfallabwägung kommt es auch bei Generalklauseln (Generalklausel; z. B. Sittenwidrigkeit von Bürgschaften) oder der Kontrolle von AGB. Im Strafrecht ermächtigt die Strafzumessung zur A.; auch der rechtfertigende Notstand setzt sie voraus. A. spielt überdies im einstweiligen Rechtsschutz eine zentrale Rolle: Hier werden alternative Verlaufsszenarien daraufhin abgewogen, ob überwiegende Interessen eine einstweilige Untersagung (ZPO) oder Regelung (VwGO) einer Sache gebieten, bevor über die Rechtmäßigkeit im Hauptsacheverfahren u. U. auch gegenteilig entschieden werden kann. Das Verwaltungsrecht kennt die A. u. a. bei Vertrauensschutzkonstellationen (Rücknahme von VAen, rückwirkende Gesetzgebung), im Entschädigungsrecht sowie im Raumordnungs-, Fachplanungs- und Baurecht. Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die betroffenen öffentlichen und privaten Belange (§ 1 VI BauGB) durch die Behörde gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 VII BauGB). Das BVerwG hat seit 1969 (BVerwGE 34, 301) unter Verarbeitung von Ideen Werner Hoppes eine A.s-Fehlerlehre entwickelt, in der die vom Gericht inhaltlich prinzipiell zu respektierende A.s-Entscheidung auf Rechtsfehler im A.s-Vorgang überprüft werden kann. Man unterscheidet seitdem A.s-Ausfall, -Defizit, -Fehleinschätzung und -Disproportionalität.

2. Verfassungsrecht

Im Verfassungsrecht (Staatsrecht) hat sich die A. als Methode zur Kontrolle von Grundrechtseinschränkungen und zum Ausgleich von Grundrechtskollisionen etabliert. Seit 1958 (BVerfGE 7, 377) verlangt das BVerfG bei der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen eine sorgfältige A. der Bedeutung einander gegenüberstehender und möglicherweise widerstreitender Interessen oder (Rechts-)Güter (Güterabwägung). Inzwischen ist die A. zu einem Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Verhältnismäßigkeit) geworden. Dort wird das vorgesehene Mittel zum gesetzlich verfolgten Zweck auf seine Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie Angemessenheit (Übermaßverbot, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) überprüft. Bei letzterer wird das Ausmaß des Eingriffs in das eine Rechtsgut in seinem Verhältnis zum bezweckten Schutz des anderen Rechtsguts ermittelt. Dabei erfolgt eine einzelfallorientierte Gewichtung der betroffenen Interessen und Rechtsgüter nach ihrer Wertigkeit und der Intensität ihrer Beeinträchtigung sowie bei Prognosen der Wahrscheinlichkeit ihrer Beeinträchtigung. Die A. setzt daher eine hinreichende, sachverhaltsbezogene Konkretisierung voraus, weil nur im Angesicht konkreter Umstände eine Aussage über die Intensität und Wahrscheinlichkeit getroffen werden kann. Bezweckt wird eine praktische Konkordanz der betroffenen Rechtsgüter (Konrad Hesse) oder ihr schonender Ausgleich (Peter Lerche).

Die A.s-Lehre ermittelt folglich bedingte Vorrangrelationen im Einzelfall. Es geht nicht um abstrakte substantielle Aussagen. Vielmehr werden Prinzipien und Werte für den Einzelfall fruchtbar gemacht. Abstrakte Schutzgüter und konkrete Regelungsbedürfnisse finden in einem rationalen Verfahren zueinander. Dabei kommt es durch die sachverhaltsgenaue Ermittlung der Interessen und Rechtsgüter und die partizipative Einbindung der Betroffenen zu einer Prozeduralisierung der Gerechtigkeitsfrage (Gerechtigkeit). Jede A. läuft auf ein Werturteil hinaus, das kompetentiell und prozedural gerechtfertigt wird, punktuell für den Einzelfall gilt und deswegen erträglich ist. Mit der A. lassen sich auch gegenläufige Prinzipien einzelfallgerecht verarbeiten; mit ihr gelingt der fallweise Zugriff auf politische bzw. moralische Aspekte, so dass sich die Rechtspraxis als Ausdruck einer materiellen Gerechtigkeitsordnung darstellen kann. A. dient gerechten Einzelfallentscheidungen und damit einer Wertbegründung der Rechtsordnung insgesamt.

3. Probleme

Im Verfassungsrecht fehlt (anders als bei der gesetzlich angeordneten A.) eine hinreichende Konkretisierung der abwägungsrelevanten Interessen; sie zu ermitteln ist eine Aufgabe der Verfassungsinterpretation, die sich zur Wertsetzung ermächtigen kann, indem sie Interessen als Verfassungsgüter definiert. Wenn neben grundrechtlichen Schutzgütern auch andere Verfassungsnormen (Kompetenzen, Staatsaufgaben) herangezogen werden („Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“, „Staatsaufgabe Sicherheit“), lassen sich letztlich alle privaten und öffentlichen Belange verfassungsrechtlich ableiten. Dies leistet der Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung Vorschub und ermöglicht die Nivellierung subjektiver Rechte zugunsten objektiver Belange. Damit wird letztlich die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Kosten der politisch verantwortlichen Gewalten zum Garanten des Wertbezugs der Rechtsordnung.

Nicht immer ist klar, was abgewogen wird: Interessen (Interesse) und Belange oder Werte (Wert) und Rechtsnormen? Wenn von Werten, Prinzipien oder Rechtsgütern die Rede ist, wählt man Begriffe, die sich der Normenhierarchie entziehen und dadurch scheinbar abwägungsfähig werden. Denn an sich können Rechtsnormen oder Rechte nicht abgewogen werden: Sie stehen zueinander in einer Geltungshierarchie, die eine abwägende Subhierarchisierung weder verträgt noch benötigt. Insb. in der Grundrechtstheorie entsteht bisweilen der Eindruck eines Abwägens von Grundrechten oder der Deduktion einer Wertehierarchie („Gesamt-A.“). Grundrechte stehen jedoch normativ zueinander auf derselben Rangstufe. Das eine Grundrecht ist nicht wertvoller als ein anderes. Entsteht etwa im Presserecht ein Konflikt zwischen dem Recht auf Informationsfreiheit einerseits und dem Persönlichkeitsrecht (Persönlichkeitsrechte) andererseits, so sind nicht diese Rechte abzuwägen, sondern die sich auf sie berufenden Interessen. Erst in der Sachverhaltskonkretisierung werden Rechtspositionen abwägungsfähig. Wer jedoch Rechte abwägen will, steht vor dem Problem der prinzipiellen Reihung von Rechtsgütern und benötigt letztlich A.s-Stoppregeln, für die er auf Binnenhierarchien im Verfassungsrecht zurückgreifen muss (Menschenwürde, Ewigkeitsgarantie, Verfassungsidentität). Dadurch büßt die A. ihre rationalisierende und prozeduralisierende Kraft ein und mutiert zum (gerichtlichen) Letztentscheidungsrecht im Namen der Wertetranszendenz. Das bewirkt einen Konflikt zur institutionell ausdifferenzierten Kompetenzordnung und dem demokratischen Primat der Politik, die für solche Wert- und A.s-Entscheidungen zuständig und legitimiert ist.

Eine A. gelingt desto besser je klarer sie auf Einzelfälle und die dort ermittelbaren Tatsachen bezogen wird (subjektiver Rechtsschutz, Urteilsverfassungsbeschwerde). Bei Normenkontrollen (objektiver Rechtsschutz) indes bleiben entscheidende A.s-Parameter (Intensität und Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung) im Ungewissen; dort kann A. nur rudimentär funktionieren, weil ihr ohne Tatsachenbezug eine hypothetische Dimension eigen ist, die Kompetenzkonflikte auslöst (insb. zwischen der Gerichtsbarkeit und den politisch verantwortlichen Gewalten). Darauf ist mit einer herabgesetzten gerichtlichen Kontrolldichte bei Normenkontrollen zu reagieren. Das BVerfG indes differenziert insoweit nicht zwischen der A. bei Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden, sondern belässt dem Parlament nur fallweise einen größeren Entscheidungs-, Beurteilungs- und Prognosespielraum. Dieser Haltung haftet oft etwas Gönnerhaftes an.

In der Rechtswissenschaft hat sich v. a. die Prinzipientheorie (Robert Alexy) um die Rationalisierung der A.s-Lehre verdient gemacht und weltweite Anerkennung erfahren. Die Diskussion greift bes. ihr Bestreben nach Optimierungsgeboten sowie ihre Konzentration auf Rechtsprinzipien auf, weil sich dieser Begriff der verfassungsrechtlich angeordneten Normenhierarchie entzieht und auf Tatsachenbezüge verzichten kann.