Rechtswissenschaft

1. Bedeutung

R. meint die wissenschaftliche Bearbeitung von Rechtsproblemen. Die beiden Elemente Wissenschaft und Rechtsproblem sind über diese Tautologie hinaus nur historisch-konkret in ihrem Wandel und Reichtum zu fassen. Heutige Wissenschaft „beschäftigt sich mit der Beobachtung, Beschreibung, Definition, Klassifikation, Messung, experimentellen Erforschung, Generalisierung, Erklärung, Vorhersage, Bewertung und Kontrolle der Welt“ (Blankenagel 2015: 1). „R.“ definierte jüngst der Wissenschaftsrat als „die systematische, kritisch reflektierte und methodische Auseinandersetzung mit Recht“ (2012: 25). Die deutsche R. charakterisiere es „in besonderer Weise, das gesamte Recht umfassend begrifflich-systematisch zu bearbeiten“ (Wissenschaftsrat 2012: 25). Die reale Gestalt der R. ist die juristische Profession und diese gehört zu den ältesten Professionen mit hoher Kontinuität. Als Wissenschaft in unserem Sinne ist sie freilich so neu wie diese selbst, nämlich eine Erbschaft frühestens des 17. und recht eigentlich des späten westeuropäischen 18. Jh. Nun erst wurde im Gefolge von Immanuel Kant und unter dem Eindruck der erfolgreichen Naturwissenschaften der moderne strenge Wissenschaftsbegriff ausgebildet.

2. Praktische Wissenschaft

Diese an Gesetzeshypothesen, Kausalitäten und deren empirischer Überprüfung ausgerichtete Bestimmung von Wissenschaft macht im praktisch-normativen Bereich sofort Probleme. Sie erlaubt eine systematische Ordnung nach gesetzesähnlichen Prinzipien, die aber nicht schon im sichtbaren und überprüfbaren Sein der Sache liegt, ontologisch oder material, sondern argumentierend geschaffen wird. Ihre Gestalt wird rational an Quellen geformt mit Hilfe von Begriffen und Anschauung. Sie erwächst auch nicht aus dem Experiment. Der empirische Zugriff bringt in Sollensfragen nicht die nötige Entscheidung, denn er lässt sich nicht einfach auf diese übertragen. Was am gegebenen Recht gut und schlecht ist, stimmig und unstimmig, Regel und Ausnahme, gilt und nicht gilt, ist keine rein empirische Frage. Ohne weiteres gesetzeswissenschaftlich-empirisch lassen sich immerhin Geschichte (Rechtsgeschichte), Vergleichung (Rechtsvergleichung) und Soziologie (besser: Sozialwissenschaft) des Rechts (Rechtssoziologie) betreiben.

Nach dem Verlust der metaphysischen Rechtsgewissheiten hat das Problem des Seinsbezuges die R. immer wieder umgetrieben. „Leben“, „Bedürfnis“, „Wirklichkeit“, „Natur der Sache“, „sachlogische Strukturen“ und ähnliche Topoi, das waren die kritischen Schlachtrufe der Reformbewegungen seit I. Kant und Gustav Hugo, von Friedrich Carl von Savigny selbst und den vormärzlichen Germanisten August Ludwig Reyscher und Georg Beseler, über die Realisten Julius Hermann von Kirchmann, Paul Müller bis Alf Ross, vom materialistischen Karl Marx, dem Zweckprediger Rudolf von Jhering, dem Rechtssoziologen Eugen Ehrlich bis zu Hubert Rottleuthner und Gunther Teubner. Es folgten die Freirechtler Ernst Fuchs und Hermann Kantorowicz, die NS-Ideologen Carl Schmitt und Karl Larenz u. a. Aber richtiges Leben und richtige Wirklichkeit verstehen sich nicht von selbst. Rechtsrichtigkeit und Lebensrichtigkeit laufen nicht parallel. Recht soll gerade gegenüber dem flüssigen Leben Stabilität, Koordination und Erwartungssicherheit vermitteln, sonst werden alle Normfragen zu bloßer Politik und Ideologie. Das kann gewollt sein, macht aber die R. zum unselbstständigen Instrument.

Die Doppelaufgabe, Stabilität und Dynamik zu wahren, ist heute mehr als je historisch bedingt. Denn im nachmetaphysischen Zeitalter gelten absolut objektive Lösungen als Glaubensfrage. Alle Lösungen werden nun als erfahrungs- und inhaltsbedingt und damit relativ kontingent verstanden. Sie müssen diskursiv und kritisch-rational erarbeitet werden in den dafür geschaffenen legitimen und legalen Verfahren (Jürgen Habermas, Hans Albert). Die modernen Staats- und Rechtsbildungsformen, wie etwa die EU, haben darüber hinaus das Recht in eine zunehmende interne Dynamik versetzt, mit allen Chancen und Risiken neuer Ungewissheiten.

3. Arbeitsfelder und ältere Formen

R. hat eine praktische und eine theoretische Dimension. In praktischem Interesse fragt sie wie die praktische Philosophie, die Theologie und Medizin, „Wie soll ich handeln?“, d. h. rechtlich handeln, und entwickelt dafür Lehrsätze und Regeln – Dogmatik, schon seit je und insoweit recht stabil. Theoretisch kann der Gegenstand Recht vielfach interessieren, mindestens philosophisch, rechtstheoretisch, geschichtlich, vergleichend, politiktheoretisch, soziologisch/sozialwissenschaftlich und psychologisch. Gemeinsam ist diesen Zugriffen der Gegenstand, nicht das Erkenntnisinteresse und nicht die Methode. Gegenstand ist alles Rechtliche, ob geltend oder nicht, ob präskriptiv oder in action, ob in Sätzen, Normen, Prinzipien und sozialen Ordnungen für Familie, Arbeit, Vermögen, Erbe, Staat, Staaten und Religion oder der Umsetzung in Urteilen, Verwalten und Regelbildung. Dass „R.“ in diesem weitesten Sinne ohne weiteres schon vor der strengeren modernen Ausprägung begegnet, kann hier nicht verfolgt werden. Mit I. Kants begrenzter „Metaphysik der Sitten in zwey Theilen“, d. h. mit getrennter „Tugendlehre“ (Kant 1797) und „Rechtslehre“ (Kant 1797) begann eine grundlegende Neuorientierung.

4. Neuorientierungen mit Immanuel Kant und Gustav Hugo

Die kantische, erkenntniskritische Philosophie war nach David Humes Vorgang auch in Deutschland das Signal für eine neue Vielfalt. Die Religion galt nur noch „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (Kant 1793). Das 19. Jh. wurde damit zur Geburtsstunde wohl aller neueren R.en in einem nun engeren Sinn und mit neuen Abgrenzungen. Am konsequentesten vollzog den Neubau sogleich 1799 der kantianisch versierte Göttinger Jurist G. Hugo mit seiner neuen klaren Trias für alle Rechtsarbeit: „I. Was ist Rechtens? – Die juristische Dogmatik […] das Handwerksmäßige der Jurisprudenz […] [kann] auch empirisch gelernt werden, selbst ohne alle gelehrte Kenntnisse. II. Ist es vernünftig, daß es so sey? Philosophie des Rechts, theils die Metaphysik über die bloße Möglichkeit […] theils die Politik über die Rathsamkeit eines Rechtssatzes […]. III. Wie ist es Rechtens geworden? Die Rechtsgeschichte“ (Hugo 1799: 15). Sein und Sollen wurden so getrennt, aber nicht isoliert. Philosophie und Geschichte wurden mit der Dogmatik nicht vermischt, aber doch als Begründung der Dogmen mit diesen verbunden. In diesen drei Richtungen wurde nun weitergearbeitet, am wenigsten freilich für die kritische und politisch riskante Philosophie des positiven Rechts (Rechtspositivismus).

Dabei ging man zwei sehr verschiedene Wege. Teils wurde säuberlich erkenntniskritisch getrennt wie von G. Hugo bis Bernhard Windscheid und Philipp Lotmar, teils aber erneut und bewusst vermischt wie bei F. C. von Savigny, Georg Friedrich Puchta, von Georg Wilhelm Friedrich Hegel her bei Eduard Gans bis Josef Kohler, Julius Binder und Karl Larenz, im Strafrecht etwa von Julius Friedrich Heinrich Abegg bis Hugo Philipp Egmont Hälschner oder im Öffentlichen Recht etwa von Adam Müller bis Erich Kaufmann. Diese Verknüpfungen von Sein und Sollen speisten sich wesentlich aus der sogenannten Kantüberwindung im objektiven Idealismus und der Vereinigungsphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings und G. W. F. Hegels. Im Sinne I. Kants verselbstständigt wurden nun mehrere Zugriffe: der metaphysikfreie und kritische als „Philosophie des positiven Rechts“ (Hugo 1798), der erfahrungshungrige, kritische Realismus bei dem Juristen und Mediziner Ludwig Knapp, dann bei J. H. von Kirchmann. Eine starke Strömung entstand mit der aus dem positiven Recht universal abstrahierenden Allgemeinen Rechtslehre (Adolf Merkel) und der „reinen“ Normstrukturlehre Hans Kelsens. Die Wertfragen (Werturteil) wurden dabei durchaus gepflegt, aber als politische Theorie, sie wurden nicht „formal“ und „positivistisch“ beiseite gelassen. Sie direkter einzubauen versuchten der wertbeziehende neukantianische Relativismus um Emil Lask, Gustav Radbruch und H. Kantorowicz, und die abendländisch-wertoptimistischen Rechtkulturphilosophien (Max Ernst Mayer, Helmut Coing). Es folgte wieder ein Rückzug auf Rechtstheorie um 1970 (Ralf Dreier, schon Karl Engisch) und soziologische Systemtheorie (Niklas Luhmann, G. Teubner).

Zugleich liefen metaphysisch fundierte Anstrengungen weiter, teils mit G. W. F. Hegel (von Georg Lasson bis Johann Braun), teils mit F. W. J. Schelling (Stefan Smid), teils mit Edmund Husserls Phänomenologie (Adolf Bernhard Philipp Reinach) oder existentialistisch (Existenzphilosophie) mit Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger (Werner Maihofer), als „ontologische Begründung des Rechts“ (Kaufmann 1965) oder in marxistischem (Marxismus) Gewand von Karl Renner (1904 und 1929) bis Wolf Paul (1974).

5. Linien und Epochen

Die Bearbeitung von Rechtsfragen wurde nach ca. 1780 je nach Erkenntnisinteresse und entsprechender Methode ungeheuer vielfältig ausgebaut. Im Rückblick lassen sich längere Linien bilden. Die Fülle wird hier in einige Stichworte gedrängt. Juristische Arbeit war lange christlich-theologisch eingebunden, zugleich wuchs seit dem 17. Jh. das kritisch-historische Interesse. Mehr abstrakt-philosophisch im noch christlichen Kontext arbeiteten im 16. Jh. die spanische Spätscholastik und immer säkularer das Natur- und Vernunftrecht von Hugo Grotius bis Karl Christian Friedrich Krause und Rudolf Stammler. Deutlicher empirisch wurde auch die Jurisprudenz im 18. Jh. etwa von Gaetano Filangieri, G. Hugo und Karl Friedrich Eichhorn bis L. Knapp und P. Lotmar. Mehr politisch-kritisch geht eine Linie von Voltaire, Jeremy Bentham, G. Hugo, K. Marx, J. H. von Kirchmann, P. Lotmar bis zu J. Habermas. Analytisch hielten sich bescheidener ans Positive John Austin bis Félix Somló und Herbert Lionel Adolphus Hart. Vergleichend oder gar universalgeschichtlich versuchte man es seit Charles de Montesquieu, ethnologisch dann von Albert Hermann Post bis Uwe Wesel, empirisch-soziologisch wieder von C. de Montesquieu bis E. Ehrlich, Max Weber und Theodor Geiger oder systemtheoretisch mit N. Luhmann und G. Teubner, rechts- und institutionenökonomische Arbeiten boten, nach frühen Anfängen vor 1900 (Adolph Wagner, Viktor Mataja, Leon Petraczycki, Fritz Berolzheimer) nach 1945 von den USA her Ronald Harry Coase bis Heinz-Dieter Assmann/Christian Kirchner u. a., angespornt durch den Nobelpreis für Douglass Cecil North 1993. Neuerlich blühen Rechtstheorie, Rhetoriklehre (Rhetorik), Abwägungslehre (Abwägung) und Argumentationstheorie und doch wieder Rechtsphilosophie. Mit diesen Stichworten lassen sich auch inhaltlich akzentuierbare Epochen verbinden. Dazu drei Vorschläge:

a) der überwiegende Abschied von der alten einheitlichen Metaphysik (dazu 6.),

b) die seit Franz Wieacker beliebten geistesgeschichtlichen „Taktschläge“ (nach Wieacker 1952: 10) (dazu 7.),

c) die spezielleren Methodenschlachtrufe seit ca. 1800 (dazu 8.).

6. Von metaphysisch zu nachmetaphysisch

Die moderne R. ist ein Produkt der sogenannten Sattelzeit um 1800 und ihrer methodischen Bedingungen. Sehr passend ist das Wort „R.“ ein Kind eben dieser Zeit. Es begegnet mit dem Abschied vom Latein ab ca. 1790 neu grundsätzlich, etwa 1797 bei Ernst Ferdinand Klein und Heinrich Stephani. Johann Heinrich Zedlers „Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste“ (1731–1754) kennt noch nur Lemmata für „Rechtsgelehrsamkeit“ (1741 [Bd. 30]: 1432) und „Wissenschafft der Rechte“ (1748 [Bd. 57]: 1526). „Rechts-Wissenschaft“ bezeichnet nach wie vor ein schlichtes Wissen vom Recht, selbst Systematik wird nicht gefordert. Auch in Julius Weiskes großem „Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten“ (1839–1862) gibt es nur eine „Wissenschaft der Gesetzgebung“ als „Regeln […] [für] zweckmäßige Gesetze“ (Weiske 1844 [Bd. 4]: 755) und unter „Recht“ sehr eng die R. als „wissenschaftliche Darstellung der unter Staatsschutz stehenden Normen“ (Weiske 1855 [Bd. 9]: 140). Dagegen gehört für den Philosophen und Kantianer Wilhelm Traugott Krug in seinem verbreiteten „Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften“ schon 1828 zur „Rechtslehre“, worauf er unter „R.“ verweist, nur die „natürlich[e] oder philosophisch[e] Rechtslehre“ (Krug 1828: 409), die „Rechtswissenschaft im höheren Sinne oder Rechtsphilosophie heißt“ (Krug 1828: 409; Herv. i. O.), dagegen gerade nicht die „Rechtslehre […] als positive Doctrin“ (Krug 1828: 409). In dieser grundsätzlichen Weise schwankt die Verwendung bis heute zwischen dogmatisch und grundsätzlich.

Die englische Sprache kennt mit science nur Naturwissenschaft und jurisprudence hat nicht den systematischen Wissenschaftsanspruch im Gefolge I. Kants. Entspr. wirkte die Juristenprofession stets viel praktischer und weniger universitär. Im Französischen und Italienischen redet man von science du droit oder scienza giuridica, del diritto oder schlichter von giurisprudenza; Jurisprudence meint dagegen die Judikatur. Zugrunde liegt die gemeinsame kontinentale Arbeit am rezipierten, gelehrten Ius commune (Reinhard Zimmermann). Diese Sprachunterschiede reflektieren die Unterschiede der Juristenprofessionen und ihrer philosophischen Prämissen.

Diese alteuropäische, teils bloß positiv-juristische, teils metaphysische Tradition zerfiel mit dem „alles zermalmenden Kan[t]“ (Mendelssohn 1785: 2), der zugleich die Anforderungen an Wissenschaft vierfach präzisierte:

a) philosophisch apodiktisch ex principiis nach Grundsätzen und Folgen, oder

b) wenigstens rational einsehbar, empirisch nach Prinzipien, oder

c) wenigstens als systematisch zusammengefügte Kenntnisse von Tatsachen der Form nach, oder

d) als bloße Klassifikationen/Aggregate, d. h. geordnete Kenntnisse.

R. gehört in b) als rationale nach Gründen und in c) als positive.

Unter diesen nachmetaphysischen Bedingungen musste sich auch die R. neu formieren. Ihr Gegenstand wird das nun gegenüber Religion, Moral und Politik in seiner Geltung autonome, gesamte positive Recht (nicht nur Gesetze), ihr Anspruch wird voll systematisch, die Methode mit G. Hugo dreifach: Dogmatik und kritisch-historische und philosophische Ermittlung und Prüfung der Gründe des Rechts. Das System soll nicht nur Aggregat oder Didaktik sein, sondern „ein nach Principien geordnetes Ganze[s]“ (Kant 1786: A IV). Daran scheiden sich sofort die Geister. Teils wagt man doch ein inneres aus der Sache selbst entnommenes System der „Rechtsverhältnisse“ (Savigny, 1840 [Bd. 3]: 309), teils „nur“ eine aus dem positiven Recht abstrahierte Ordnung (G. Hugo), teils eine sich entwickelnde: „Das System selbst muß als fortschreitend gedacht werden“ (Savigny 1802/03: 4r). System kann auch einfach politisch wandelbar sein, dann kann es in offenen Konflikt mit der Stabilitätsaufgabe des Rechts und der Gewaltenteilung in Rechtsstaat und Demokratie kommen. Das ist wiederum eine Frage des Selbstverständnisses der Profession.

7. Von Geist zu Geist

Nach wie vor ist die geistesgeschichtliche Erzählung sehr beliebt. Der so folgenreiche F. Wieacker und seine Epigonen bildeten „Typen europäischer Geistigkeit“ (Wieacker 1952: 10) und „methodische […] Stile […] des Rechtsdenkens“ (Wieacker 1967: 20) in fünf Epochen:

a) die mittelalterliche Scholastik,

b) den kritischen Humanismus,

c) das frühneuzeitliche Naturrecht und Vernunftrecht,

d) die Historische Rechtsschule und den Positivismus/Naturalismus des 19. Jh. sowie

e) den Zusammenbruch der Rechtskultur des Positivismus.

Der rechtspraktisch maßgebende sogenannte Usus modernus des 17. und 18. Jh. würde zum bloßen Nebenschauplatz, die praxisnahe Kommentatoren- und Konsiliatorenzeit missfällt. Das Ganze würde als „einheitliche […] geistige […] Bewegung […], die seit der Wende zum 12. Jh. in Gang geriet“ (Wieacker 1952: 10) gesehen, eine Bewegung, die also bruchlos nur „Neueinsätze“ (Wieacker 1967: 20) und „Taktschläge“ kennt. Die Defizite und problematischen Wertungsprämissen dieser geistesgeschichtlichen Typisierung sind inzwischen geradezu als „Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft“ (Winkler 2013) nach I. Kant zur Sprache gebracht. Der liberale juristische Positivismus des 19. Jh. wird als entartet diskriminiert und so für den rassischen Nationalsozialismus verantwortlich gemacht. Die unglücklichen, meist liberal-positivistischen juristischen Opfer der totalitären Diktatur erscheinen damit als Täter.

8. Von Methode zu Methode

Die spezielleren Schlachtrufe dazu kamen lange v. a. aus dem Zivil-Recht: geschichtliche R., Begriffsjurisprudenz, Freirecht, Interessenjurisprudenz, Wertungsjurisprudenz. Die nationalsozialistische „Wertungsjurisprudenz“ (Lange 1936: 924) und das Programm der „konkrete[n] Ordnung und Gestaltung“ (Schmitt 1934: 7; Herv. i. O.) wurden verdrängt. Diese Bewegungen haben jedenfalls im Zivilrecht kleine Epochen gemacht bis hin zu ihrer Relativierung in „Vorverständnis und Methodenwahl“ (Esser 1970). In der neueren Methodentheorie beobachtet man einerseits einen Rückzug auf die Abwägungspraxis (mit Konrad Hesse) und Argumentationstheorie (Robert Alexy, Ulfrid Neumann), andererseits einen Ausgriff in kritisch-politische, soziologische (G. Teubner) und ökonomische R. und zuletzt ein Auslaufen in schlichte Pluralität.

Die Wissenschaftlichkeit des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts verlief im Wesentlichen parallel zum Zivilrecht. Im Strafrecht lässt man sie beginnen mit Paul Johann Anselm Feuerbachs „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe“ (1799 f.) u. a. von I. Kant her. Hegelianisch wurde sie mit J. F. H. Abegg, Karl Köstlin u. a., dagegen angesichts der Kodifikationen schon seit Beginn des Jh. zurückhaltend „positivistisch“ bei Karl Binding. Aber zugleich eroberte „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ (1882 f.) durch Franz von Liszt viel Terrain. Die NS-Zeit strafte diskriminierend die Rasse (Rassismus) und entformalisierte generell die Tatbestände auf der Basis des subjektiven Täterwillens und einer völkisch-biologistischen Philosophie, aber auch einer folgenreichen materialen Wertphilosophie (Hans Welzel). Nach 1945 herrschten viel unentschiedene Kontinuität und ein gewisser Pragmatismus in sogenannten Vereinigungstheorien zu den Strafzwecken. Die Kriminalpolitik erlebte gegen den Reformentwurf von 1962 eine gewisse Blüte in den sogenannten Alternativentwürfen ab 1966 und alsbald heftige Kritik „von außen“ (Sack 1972: 123) und neue, folgenorientierte empirische Arbeit.

Auch im Öffentlichen Recht gab es gesetzesnahe Interessenjurisprudenz bei Heinrich Triepel, nach und neben dem sogenannten Positivismus (Paul Laband, Gerhard Anschütz, Richard Thoma) und den organischen und politischen Staatslehren mit ihren Angriffen gegen „Formalismus“, von Otto von Gierke gegen P. Laband. Das wich aber seit Weimar den Smendschen geisteswissenschaftlichen Befreiungsformeln, der Schmittschen Dezision (Entscheidung) und nach 1950 bald der Abwägung beim Verfassungsgericht, theoretisch gestützt durch K. Hesse. Neue Orientierung zur „Staatsrechtslehre als Wissenschaft“ (Helmuth Schulze-Fielitz) wurde 2007 wieder zum großen Thema.

Begreiflicherweise lässt sich nicht absolut und apodiktisch entscheiden, welche Erzählung die richtige wäre. Es kommt vielmehr auch dabei auf das Erkenntnisinteresse an. Rechtsmetaphysik, oft als Gerechtigkeit konkretisiert, Geist und Methode haben jedenfalls alle ihr historisches Recht.

9. Autonomie

In jüngerer Zeit wurde viel Mühe darauf verwendet, die R. weiterhin als eigenständige Profession und Wissenschaft abzugrenzen oder auch zu erweitern oder wiederum im Gegenzug ihr „Proprium“ (Engel/Schön 2007) in der demokratisch rechtsstaatlichen Gegenwart zu bestimmen, d. h. die Dogmatik. Die entthronte Staats-R. begann sich energisch zu wehren und schuf konsequent eine weitgreifende eigene „Rechtswissenschaftstheorie“ (Jestaedt/Lepsius 2008). Nach den großen „Gewißheitsverlusten im juristischen Denken“ (Haverkate 1977), und nicht nur hier, geht es kaum noch um die Abgrenzung von Religion, Moral und Metaphysik, sondern v. a. um das Verhältnis zu den Sozialwissenschaften, zur Sozialphilosophie und zur politischen Philosophie. Die kraftvollen Reformbewegungen der 1970er Jahre sahen in einer normativ angeleiteten Sozialphilosophie, die sie in erneuerter Wirklichkeitsrhetorik Sozialwissenschaft nannten, die bessere R. Die R. sollte politischer werden, und das hieß: Sie sollte irgendwie auch die Dogmatik selbst, den praktischen Kern der Jurisprudenz, erneuern oder ersetzen. Das war als Ausbildungskonzept wertvoll, wichtig und eine Weile erfolgreich, bes. in der offiziellen Experimentierphase der sogenannten einphasigen Ausbildung von 1974–1984. Aber als Gesamtkonzept der Jurisprudenz als Theorie und Praxis war es problematisch und nicht erfolgreich. Am Ende setzte sich die Profession als Praxis gegen die Profession als Wissenschaft durch. Das hatte seinen Grund. Denn zum einen braucht juristische Dogmatik eine gewisse Eigengesetzlichkeit und Autonomie in ihrer gebotenen Anknüpfung an das geltende Recht und seine Prinzipien. Zudem soll sie so eine juristische Arbeitsteilung stützen und hat darin eine zentrale demokratische, rechts- und sozialstaatliche Funktion. Demokratisch geht es um den Rechtsbildungsvorrang des Parlaments (Art. 20 Abs. 3 GG). Rechtstaatlich respektiert sie eine politische Arbeitsteilung zwischen Rechtsbildung (Legislative), Rechtsverwaltung (Exekutive) und justizieller Konfliktlösung (Judikative). Sozialstaatlich bezieht sie die Teilhaberechte in diese Arbeitsteilung ein.

10. Rechtswissenschaft und Staatsform

Das Verhältnis der maßgebenden Rechtsbildungsfaktoren hängt nicht zuletzt von der Gesellschafts- und Staatsform ab und prägt damit auch die R. Wenn Konstitutionalisierung zur Signatur unseres Zeitalters erwächst, geht es nicht nur um die treue Anwendung der Verfassungssätze. Das wird bisher weniger reflektiert. In einer Demokratie jedenfalls soll nicht alles, was für irgendeinen Mächtigen irgendjemand oder eine bestimmte Gruppe politisch wünschenswert ist, unmittelbar maßgebendes Recht werden. Es soll durch das Nadelöhr der friedlich-streitigen Kommunikation in Gesellschaft, Parteien und Parlament hindurchgehen bis zur demokratischen Mehrheitsentscheidung (Mehrheitsprinzip). Die lange Blüte der R. als „Juristenrecht“ (Savigny 1840 [Bd. 1]: 49; Puchta 1837: 15) und „Professorenrecht“ (Koschaker 1947: 211), aber nicht „Volksrecht“ (Beseler 1843) beruhte darauf, dass sie im Privatrecht sehr unabhängig agieren konnte. Die wissenschaftlich geprägten Kodifikationen schon seit dem bayerischen Kodex von 1756 haben das gestützt. Die Dynamik des Rechts fand sich v. a. im älteren Policeyrecht und dem späteren öffentlichen Recht. Heute erstreckt sich die Beschleunigung ins Kernprivatrecht, z. B. seit 1958 ins Familienrecht, seit 1976 ins Verbraucherrecht, seit 2002 „sogar“ ins Schuldrecht und ohnehin weitgestreut ins Europarecht. Sehr sichtbar ist das an der explosiven Beschleunigung der Änderungen des BGB seit 1958.

Diese neue Dynamik ist nicht Geschichtszufall, sondern strukturbedingt in der Demokratie mit ihrer steten Interessenvermittlung. Die Klagen über Gesetzesflut indizieren das Problem und mögen es übertreiben, sie erkennen es aber nicht als Strukturproblem. Im heutigen Zeitalter des Richterrechts und der sogenannten Konstitutionalisierung des einfachen Rechts haben sich die Konstellationen verschoben. Die Konstitutionalisierung macht mit ihren sehr allgemeinen Vorgaben das Recht flexibler und dynamikfähiger. Das Richterrecht antwortet schon länger darauf. Verstärkt wird das durch eine nicht selten untätige oder nur sehr allgemeine Gesetzgebung (z. B. im kollektiven Arbeitsrecht oder Planungsrecht). V. a. die positive R. als möglichst stabile Begriffskunst und übergreifendes System muss unter dieser Dynamik leiden und womöglich ganz neue Techniken entwickeln. Die Ordnung der Systeme dürfte immer formeller werden und inhaltlich zufälliger, ja ideologischer. Die Jurisprudenz tendiert dann zur Loseblattsammlung und am Ende zum juristischen Telefonbuch. Übrigens sind wir nicht ganz ohne ambivalente Erfahrungen in diesem Punkt, da massive Dynamisierungen keineswegs unbekannt sind. Sie waren ein Zeichen der NS-Zeit mit ihrer „unbegrenzten Auslegung“ (Rüthers 1968) und der DDR mit ihrer „sozialistischen Gesetzlichkeit“ (Stolleis 2009) sowie für beide mit ihrem expliziten Politikvorbehalt für alles Recht. 1942 hat man das so formuliert: „Der Richter ist bei seiner Entscheidung keinen Weisungen unterworfen. Er spricht Recht nach freier, aus dem gesamten Sachstand geschöpfter Überzeugung“ (zit. n. Schubert 1988: 517), so weit so gut, aber es folgt, „und nach der von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung“ (zit. n. Schubert 1988: 517), so die Grundregel 20 im Entwurf eines Volksgesetzbuches. „Im gleichen Geiste“ (zit. n. Schubert 1988: 517) hatten auch tätig zu sein Notare, Anwälte und Auslegung, auch die der „Erklärungen der Volksgenossen“ (Regel 20–23; zit. n. Schubert 1988: 518). Materiale, d. h. inhaltlich gefüllte und prinzipiengeleitete Systeme wie das System gleicher Freiheit im BGB, dürften sich dann nur noch in relativ dauerhafteren allg.eren Kernbereichen des Privatrechts, Strafrechts und Verfassungsrechts (bes. Grundrechte, Menschenrechte) darstellen lassen. Daneben werden methodische Binnendifferenzierungen der juristischen Fächer notwendiger, wie sie sich bereits in den stark entwickelten Spezialisierungen abzeichnen. „Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ hat Bernhard Schlink 1989 diagnostiziert. Dem folgt derzeit die der anderen juristischen Fächer durch die übrigen Höchstgerichte, nicht nur wie seit schon 1926 vertraut im Arbeitsrecht. Die diesen vorgelagerte und mit Vorlagepflicht ausgestattete europäische Justiz in Luxemburg (Art. 267 AEUV) und mit Bindungsverpflichtung aus Straßburg (Art. 46 EMRK) kommt hinzu.

11. Institutionelle Bedingungen und Verschiebungen

Die Verankerung von R. als Grundlagenwissenschaft mit Geschichte, Philosophie, Theorie, Soziologie, Vergleichung usw. ist heute in der universitären Lehre, Forschung und den Prüfungen mit unter 5 % erstaunlich schwach. Selten gibt es mehr als einen oder zwei Lehrstühle für Rechtsgeschichte, keineswegs überall wenigstens einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie, von Rechtssoziologie ganz zu schweigen. So gut wie immer fahren die Grundlagen zudem nur mit gewissermaßen halber Kraft, da sie in ursprünglich sinnvoller Tradition fast ausnahmslos mit dogmatischen Fächern kombiniert und inzwischen belastet sind.

Der Markt der Grundlagenzeitschriften ist dafür erstaunlich lebendig mit der „Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“ seit 1880, dem „Archiv für Rechts und Sozialphilosophie“ seit 1907, zur Staatslehre in „Der Staat“ seit 1962, der „Kritischen Justiz“ seit 1968, der „Rechtstheorie“ seit 1970 und dem „Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie“ von 1970–1993, dem „Jahrbuch für Recht und Ethik“ seit 1993 und der „Zeitschrift für Rechtsphilosophie“ seit 2003. Auch „Wissenschaft“ rückt wieder in die Titel, lapidar in „Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung“ seit 2010, spezieller in der „Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft“ seit 2016, dagegen seit langem schon in der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ seit 1881.

Bemerkenswerte Verschiebungen gab es zwischen den Fächern. Um 1800 wurde Theorie vorwiegend vom Strafrecht aus betrieben, dann zunehmend und lange bis etwa 1960 vom Zivilrecht her, inzwischen aber stark vom öffentlichen Recht her. Das führt auf Binnendifferenzierungen, die mit Recht inzwischen betont werden (Lepsius 2008) und schwächt die gemeinsame Wissenschaft.

12. Global? Europäisch

Von einer globalen R. kann noch nicht die Rede sein. Englischsprachige Hegemonie bedeutet noch keine Welt-R. Die Befassung mit globalen Organisationen und Rechtsverhältnissen macht die R. noch nicht global. Erste Schritte versuchen seit langem die Universalrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung. Dagegen bahnt sich unter dem Schirm der EU eine europäische R. an. „Rechtsvergleichung ist nicht mehr genug!“ (von Bar 2014), im Zivilrecht kam u. a. die große Serie „Principles of European Law“ (ab 2006) in Gang, das „Hdb. Ius Publicum Europaeum“ (Bogdandy/Huber) stellt sich seit 2007 mit acht Bänden daneben, ein European Law Institute wurde 2011 gegründet, um nur die lebhafte Tendenz zu zeigen. Eine gewisse Institutionalisierung in der Profession gibt es in Form der Zusammenarbeit von größeren Projektgruppen im Zivilrecht. Im Grundrechtsbereich eröffnet die EuGRC seit Ende 2000 ein europäisches Feld.

13. Bleibendes?

Wenn ohne weiteres die sogenannte Dogmatik den Kern der juristischen Kunst bildet (Maximilian Herberger, Christoph Engel, u. a.) erstaunt es nicht, dass das eigentliche Kontinuum der R. im weiten Sinne in etwas liegt, das man Fallvergleich nennt. Die Arbeitsweise am Fall, und dazu gehört v. a. die Entwicklung und ständige Abstimmung der Wertungen und Lösungen im Fallvergleich, ist ein bleibendes Merkmal aller professionellen Jurisprudenz und nur weniger technisch auch der Laien- und Kadijustiz. Im Fallvergleich wird die methodisch unüberbrückbare Differenz von Sein und Sollen gelöst. Dafür kann es keine logischen Regeln geben, sondern es bedarf der Offenheit der Analogie oder Differenzierung. Im angloamerikanischen Distinguishing ist das hergebrachte Methode. Vergleichen am konkreten Fall ermöglicht rationale Wertungen und Begründungen (Anglo-amerikanischer Rechtskreis). Diese sind zwar nicht apodiktisch, aber doch jeweils zeitgemäß und relativ stabil. Juristischer Blick und juristische Technik vermitteln dafür viel Schulung. Das kann man dann R. im abgeschwächten kantischen Sinne nennen (s. o. 6.). Darin liegt die entscheidende Wertungskunst der Jurisprudenz, die freilich wissenschaftstheoretisch weniger untersucht ist. Mit der eleganten Formel vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ (1943: 15) hat K. Engisch diesen Sachverhalt einmal umschrieben.

Ein klar umrissener Wissenschaftsstand lässt sich in der alten und neuen Vielfalt der juristisch-wissenschaftlichen Arbeitsweisen kaum noch behaupten. Die Verbindung zur alten Metaphysik und zur neuen praktischen Philosophie ist nahezu abgerissen, trotz R. Alexy und J. Habermas. Hinter den grundsätzlichen Unterschied von Seinserkenntnis und Sollenserkenntnis gibt es kein Zurück. Verbindungen wie Natur der Sache, sachlogische Strukturen, Kultur, Teleologie usw. lösen das Problem nicht. Nur in Diktaturen werden Sein und Sollen auch wissenschaftlich gleichgeschaltet. Allerdings steht jede R. wie jedes Recht in der Geschichte. Und diese lässt sich in Pfade, Pfadabhängigkeiten und Tendenzen strukturieren. Geschichtliche Erfahrung kann über den Fallvergleich hinaus damit zum „Geschichtszeichen“ (Kant 1798: 142) und Wink dafür werden, wohin die Reise geht und vielleicht auch gehen sollte. Diese Sollensfrage muss begleitet werden von steter kritischer Prüfung durch praktische und politische Philosophie, damit die Alternativen und Folgen möglichst klar und diskutierbar zu Tage treten. Die lange Zeit idealistisch verachtete Philosophie des positiven Rechts von G. Hugo oder die unbequeme „Legislative R.“ P. Lotmars könnten noch eine fruchtbare Zukunft haben. Wissenschaftstheoretisch könnte man sie heute wohl als kritisch-rationalistisch bezeichnen. Auf diese Weise sollten sich Wissenschaft und Dogmatik vertragen, dort Erforschung der Begründungszusammenhänge der geltenden dogmatischen Sätze und hier als altbewährtes Proprium der Profession.

Ob und wie und wieviel Moral, Sittengesetz, Ethik und welche Gerechtigkeit die R. braucht und wie sie Eingang finden sollten, bleibt bei alledem noch offen. Gewiss gehören alle drei irgendwie zu den Sollensanforderungen an das Recht. Teilweise delegiert das Recht Lösungen direkt an das „Sittengesetz“ (Art. 2 GG) oder die „guten Sitten“ (§§ 138, 826 BGB), es schließt im Strafrecht die Einwilligung in Körperverletzungen aus (§ 228 StGB), im Strafverfahren bei Gefährdung die Öffentlichkeit (Nr. 132 RiStBV) und macht Verwaltungsakte nichtig (§ 44 Abs. 2 S. 6 VwVfG). Eine ganz allgemeine Delegation ist aber in der Neuzeit vermieden. Auch die Methodenlehre kennt keine Regeln dazu. Eine eigene Gerechtigkeitswissenschaft hat sich nie etabliert, sie war immer ein Teil der Rechtsphilosophie. Immerhin in wichtigen Präambeln wird Gerechtigkeit aufgetragen (AEMR 10.12.1948; auch in Art. 29). 1919 fordert man sie speziell für das Wirtschaftsleben (Art. 151 WRV). Abseits dieser schwachen Bezüge bleiben Moral, Ethik und Gerechtigkeit also stehen als eigenständige Fragen der praktischen Philosophie und Politik. Für die R. sind sie relevant als Begründungen und Forderungen und im Extremfall als Korrektur wie in der bekannten Radbruchschen Unerträglichkeits-Formel von 1946.