Entscheidung
1. Der Begriff und seine ethisch-anthropologische Bedeutung
Die E. (griechisch prohaíresis, latein decisio, electio) ist ein zentraler Gegenstand der philosophischen und einzelwissenschaftlichen Handlungstheorie und von dorther ein Grundbegriff der Ethik und politischen Philosophie.
E. heißt der (freie) Entschluss von einzelnen oder von Gruppen, mit denen sie aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten (Handeln, Handlung) eine als die eigene ergreifen und sich dadurch zu ihrem Tun oder Lassen bestimmen. Durch E.en entsteht im persönlichen, wirtschaftlichen und politischen Raum geschichtliche Wirklichkeit. Mit der Zurückführung seiner Handlung auf E.en wird der Mensch zum Ursprung seines Tuns, für das er deshalb Verantwortung trägt, allerdings keine totale, da er den persönlichen und gesellschaftlichen Kontext seiner E. nicht mitsetzt, nicht einmal voll überschaut.
In der Fähigkeit, sich angesichts alternativer Handlungsmöglichkeiten auf eine festzulegen, in der E.s-Fähigkeit, kommen wesentliche Gesichtspunkte der Sonderstellung des Menschen zum Ausdruck (Anthropologie). Allerdings besteht das menschliche Dasein nicht nur aus einer Folge von E.en, sondern ebenso aus der Entlastung von E.en durch Gewohnheiten und Institutionen (Institution), ferner aus unbewusstem und spontanen Handeln sowie aus Widerfahrnissen:
a) Offenheit: Die Mehrzahl der Möglichkeiten, die sich nicht nur einem Beobachter, sondern dem Entscheidenden selbst darbieten, belegt die Nichtfestgelegtheit des menschlichen Daseins.
b) Verantwortung: Die Aufgabe, eine Möglichkeit auszuwählen und sich zueigen zu machen, weist auf eine doppelte Handlungs- bzw. Wahlfreiheit (Freiheit), auf die formale Freiheit des Handelns oder des Nichthandelns und auf die inhaltliche Freiheit des So-aber-nicht-anders-Handelns. Auch wenn die E. von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren abhängt, wird durch die Zurückführung des Handelns auf eine E. der Mensch zum bewussten und freiwilligen Urheber seines Tuns und Lassens. Dieses kann ihm zugerechnet werden; er ist ein rechtsfähiges, nämlich zurechnungsfähiges Wesen, folglich eine Person im Rechtsverständnis des Begriffs. Als zu E. fähiges Wesen trägt er für sein Handeln Verantwortung. Indem er sich entscheidet, nimmt er zu seinen Trieben, Bedürfnissen und Interessen (Bedürfnis; Interesse) sowie den geschichtlich-gesellschaftlichen Randbedingungen Stellung. Durch die E.s-Fähigkeit findet sich der Mensch in der Welt nicht einfach vor, sondern steht in einem Verhältnis zu ihr und zu sich selbst und erfährt die Gestaltung seines Lebens als von sich abhängig.
c) Überlegung: Aufgrund des Selbstverhältnisses besteht die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe, die richtige E. zu treffen. Dazu bedarf sie der Überlegung. Die E. darf nicht auf den örtlich und zeitlich punktuellen Akt des Wählens, die Beschlussfassung, verkürzt werden. Sie umfasst vielmehr den gesamten Prozess der E.s-Findung, bei dem i. d. R. eine problemorientierte Phase in eine lösungsorientierte übergeht und in dem verschiedene Aspekte miteinander zu vermitteln sind: Auf eine Diagnose der gegenwärtigen Sachlage und eine Prognose der zu erwartenden Zukunft folgen der schöpferische Entwurf alternativer Handlungsmöglichkeiten und das Abwägen von Gründen, die für und wider die eine oder andere Möglichkeit sprechen. Mit dem Abwägen der Gründe wird der E. ein Moment der Richtigkeit bzw. Rationalität (Vernunft – Verstand) zugesprochen. Der gesamte Prozess besteht begrifflich aus drei Momenten, denen je eine Dimension von Richtigkeit (Rationalität) bzw. Verantwortlichkeit entspricht: aus der Überlegung eines Zieles oder Zweckes, aus der bewussten und freiwilligen Anerkennung des Zieles als des eigenen und aus der Überlegung (Planung) der Wege zum Ziel. Die aus der Verbindung von Ziel- und Mittelwahl kann man als praktischen Syllogismus formalisieren: aus dem Obersatz, dem Ziel, und dem Untersatz, dem Mittel, folgt die E. Allerdings werden nicht in jeder E. das erste Moment, eine Überlegung des Ziels, und das dritte Moment, eine Überlegung der Mittel, gleichermaßen ausdrücklich realisiert.
d) Die Situation, die eine E. herausfordert, ist samt ihren persönlichen und gesellschaftlich-kulturellen Randbedingungen der E. vorgegeben. Damit enthält die E. und das ihr entspringende Handeln außer dem Moment der Selbstbestimmung auch ein Moment der Fremdbestimmung und des Schicksals. Menschliche Handlungsfreiheit und Verantwortung sind immer begrenzt. Außerdem hat die E. die Struktur des Entweder-Oder: indem man sich auf eine Möglichkeit, und sei es eine mittlere Möglichkeit, festlegt, wird jene andere ausgeschlossen, was oft genug als belastend, vielleicht sogar als „Not der E.“ erfahren wird. Schließlich finden die meisten E.en unter Unsicherheit und Risiko statt: man muss sich festlegen, obwohl man wichtige Handlungsmöglichkeiten noch nicht in den Blick genommen hat; obwohl man die Ergebnisse, mithin die Vor- und Nachteile der Möglichkeiten, nicht voll durchschaut; obwohl die Zeit zum Überlegen befristet ist. Zur menschlichen E. gehören daher das Risiko und der Mut oder aber die Sorge, sich möglicherweise falsch, zumindest nicht optimal zu entscheiden und trotzdem vor sich und den Mitmenschen für die Folgen Verantwortung zu tragen.
2. Vorzugswahl und rationale Wahl
Eine in systematischer Hinsicht vorbildliche und bis heute maßgebliche Untersuchung der E. hat Aristoteles vorgelegt (Nikomachische Ethik, II 4–7). Definiert als „von Überlegung“ (bouleusis) bzw. „von Verstand (dianoia) bestimmtes Streben“ (orexis dianoêtikê) oder als „strebender Geist“ (orektikos nous), bedeutet sie nicht etwa eine willkürliche Dezision, sondern eine reflektierte Wahl. Sie verbindet ein voluntatives mit einem kognitiven Element und gibt in dieser Verbindung, als überlegte bzw. durchdachte E., als Prinzip des Handelns (Handeln, Handlung; Handlungstheorie). Aristoteles rechnet die (Vorzugs–)Wahl bzw. die E. (prohairesis) zum Bereich des Freiwilligen: wer sich entscheidet, gibt zu einer Bewegung, deren Ablauf er übersieht, mit Absicht den Anstoß. Aber nicht alles Freiwillige erfolgt aus E: weder das Freiwillige bei Kindern und Tieren noch das bei plötzlichen („impulsivem“) Handeln oder bei Handeln aus Leidenschaft. Auch der Unbeherrschte handelt nicht aus E. Im Gegensatz zum Wünschen (boulêsis) richtet sich die E. nicht auf Unerreichbares, ferner weniger auf so selbstverständliche Leitziele wie Gesundheit und Glück (eudaimonia) als auf einschlägige Zwischenziele und auf das, was zu ihnen führt. Die E. betrifft, was in unserer Macht steht, richtet sich daher nicht auf Vergangenes. Die Freundschaft (philia) wiederum beruht im Unterschied zur Zuneigung (philêsis) auf E.
Für eine vortreffliche E. muss die kognitive Seite, die Vernunft (Vernunft – Verstand), wahr, die voluntative, das Streben, richtig sein, überdies das Streben dasselbe suchen, was die Vernunft sagt. Darüber hinaus gehört zur E., nicht unbeherrscht oder unüberlegt zu handeln, vielmehr ein Tun und Lassen zu ergreifen, von dem man überzeugt ist, dass es gut sei und in der eigenen Macht stehe. Deshalb wird bei der E. in einem noch stärkeren Maße als bei bloßer Freiwilligkeit der Ursprung des Handelns auf den Handelnden selbst zurückgeführt, womit er für es verantwortlich wird. Gefunden wird die rechte E. durch Überlegung (bouleusis), die – vorausgesetzt, dass man durch sittliche Gewöhnung (Tugend, areté) nach den richtigen Zielen und Zwecken strebt – zu einem zunächst noch allgemeinen Zweck die angemessenen Mittel und Wege bedenkt; dadurch erhält der Zweck seine situationsgerechte, konkrete Gestalt.
Die neuere (präskriptive) E.s-Theorie ist eine interdisziplinäre, aus mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, aus klassischer Nationalökonomie und dem Utilitarismus entstandene Forschungsrichtung, die v. a. mathematische Instrumente für eine rationale E. aufstellt. Dabei wird die Rationalität meist auf Nutzenkalkulation verkürzt: Mittels logisch-mathematischer Verfahren (E.s-Kalküle) sollen Individuen oder Gruppen bzw. Organisationen in den Stand gesetzt werden, aus mehreren vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten die zu ihren Zielen optimale Möglichkeit zu errechnen. Eine methodische Erschließung der Handlungsmöglichkeiten, v. a. eine kritische Reflexion und evtl. Veränderung der Ziele findet nicht statt. Die E.s-Theorie erklärt stillschweigend die Nutzenoptimierung und deren Erfolgskontrolle, also den aufgeklärten Egoismus (Selbstinteresse), zur ethischen und politischen Grundverbindlichkeit. Es gibt drei Grundformen:
a) Die sogenannte E. unter Gewissheit (decision under certainty), geht davon aus, dass die Ergebnisse und Nutzenwerte der Handlungsmöglichkeiten genau bekannt sind. Infolgedessen lautet die E.s-Regel (Rationalitätskriterium): „Wähle die Handlung mit dem maximalen Nutzen“, wobei Gewinn und Vorteile als positiver, Kosten, Verluste und Nachteile als negativer Nutzen gelten und für die Nutzenbilanz der negative vom positiven Nutzen abzuziehen ist.
Sofern sich der Nutzen der Handlungsmöglichkeiten nicht genau, sondern nur mit einer bestimmten (subjektiven) Wahrscheinlichkeit angeben lässt, (die sogenannte E. unter Risiko; decision under risk), gilt es nach der E.s-Regel von Thomas Bayes (1764) den (subjektiv) erwarteten Nutzen zu maximieren.
Sofern man die Ergebnisse nicht einmal mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit kennt (die sogenannte E. unter Ungewissheit; decision under uncertainty), gibt es mehrere rivalisierende Regeln, z. B. die vielen E.en zugrunde liegende pessimistische Maximin-Regel („Wähle die Handlung, für die der Schaden auch in der ungünstigsten Situation möglichst gering ist“), oder etwa die von Glücksspielern praktizierte optimistische Maximalregel („Wähle die Handlung, für die der Gewinn in der günstig[st]en Situation möglichst hoch ausfällt“). Nicht zuletzt vertritt man die Regel des geringsten Bedauerns („minimal regret“).
b) Da E.en meist in Konfliktsituationen stattfinden, in denen der eigene Handlungserfolg vom Handeln anderer abhängt, haben John von Neumann und Oskar Morgenstern die E.s-Theorie im engeren Sinn zur Spieltheorie modifiziert (1944). Insofern diese davon ausgeht, dass man die eigenen Ziele gemäß seiner Macht durchzusetzen sucht, wird Konfliktlösung hier auf rationalen Egoismus innerhalb der tatsächlichen Machtverhältnisse festgelegt.
c) Die aus dem Utilitarismus hervorgegangene Wohlfahrtsökonomie (Sozialwahltheorie) betrachtet die einzelnen E.en als Mitglieder einer Gruppe, die trotz unterschiedlicher individueller Ausgangsziele doch als Gruppe ein gemeinsames Ziel, den kollektiven Gesamtnutzen, anstrebt. Nach Regeln, die gewissen Postulaten der Fairness (Gerechtigkeit) genügen (sogenannte Wohlfahrtsfunktionen), wird aus den individuellen Nutzenwerten der entsprechende kollektive Wert errechnet. Zu wählen ist die Handlung mit dem größten kollektiven Nutzen. Wegen ihrer Orientierung an Fairnessgesichtspunkten bringt diese Variante der E.s-Theorie einen Fortschritt. Allerdings bleibt auch hier kritikwürdig, dass keine Reflexion und Veränderung der individuellen Ziele vorgesehen ist. V. a. bleibt das Problem des zugrundeliegenden Utilitarismus bestehen, dass individuelle Interessen dem Kollektivwohl geopfert werden.
d) Eine wesentliche Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches hat die E.s-Theorie bei John Rawls gefunden. Hier hilft sie nämlich, Prinzipien der Gerechtigkeit rational abzuleiten. Aufgrund von Zusatzannahmen wird aber der Ansatz der E.s-Theorie hier so radikal verändert, dass es sich weniger um eine Nutzenkalkulation als um eine moralische Wahl handelt.
e) Sowohl für die Evolutionstheorie (Richard Dawkins; Evolution) als auch die Sozialphilosophie ist die Theorie der Kooperation unter Egoisten wichtig. Nach dem entscheidenden Denkmittel, dem Gefangenendilemma, führt ein aufgeklärtes Selbstinteresse, das nicht durch externe Faktoren (z. B. durch Moral oder durch Recht und Staat) zur Kooperation verpflichtet wird, zu deutlich suboptimalen Resultaten.
Die rationale E. gemäß der E.s-Theorie hat ihrem Wesen nach einen analytischen Charakter. Dieser führt zu der paradoxen Situation, dass die Rationalität der E. das aufhebt, worin im gewöhnlichen Verständnis eine E. liegt. Sobald die in der E.s-Theorie vorgegebene Daten feststehen, also die Handlungsalternativen, die Nutzen- und Überzeugungsgrade, ist die rationale Wahl determiniert. Die eigentliche E. fällt also vor dem, was in der E.s-Theorie als E. gilt, nämlich dort, wo ihre Daten festgelegt werden. Insofern ist das Ergebnis immer schon im Voraus bestimmt, es braucht nur noch ausgerechnet zu werden.
Indem die E.s-Theorien untersuchen, wie man bei gegebenen Zielpräferenzen aus alternativen Handlungsmöglichkeiten die beste Möglichkeit berechnen kann, sehen sie die E. als eine rationale Wahl an, in der Nutzen bzw. Nutzenerwartungen maximiert werden. Damit setzen sie die Frage nach der Zielrichtigkeit im Wesentlichen beiseite, auch stellen sie die zum Gelingen einer E. gehörenden Aspekte der Phantasie, Erfahrung und des Lernens zurück. Auch wenn die E.s-Theorien ihren Gegenstand auf die Überlegung der Mittel und Wege verkürzen, entwickeln sie für dieses Moment ein hochdifferenziertes logisch-mathematisches Instrumentarium. Dabei verstehen sie die Rationalität der Wahl als technische und strategische Rationalität. Innerhalb ihrer Instrumente haben sie für eine sittliche Rationalität keinen Platz, sie muss gegebenenfalls wie bei J. Rawls in die Vorbedingungen aufgenommen werden.
3. Existentialismus
Während bei Aristoteles über den Begriff der sittlichen Tugend zur Struktur der E. einen Aspekt der Zielrationalität gehört, fehlt bei ihm ein Gesichtspunkt, der erst durch eine Verschärfung der handlungstheoretischen Reflexion zutage tritt (Handlungstheorie). Aristoteles kennt zwar verschiedene Lebensformen (Daseinsweisen, bioi), die den Horizont bilden, innerhalb dessen, die „gewöhnlichen E.en“ stattfinden. Auch untersucht er, welche Lebensformen zu einem gelungenen Menschsein gehören, nämlich die theoretische und die sittlich-politische Existenz, nicht aber das Genussleben, auch nicht eine bloß dem Erwerb von Reichtum gewidmete Existenz. Im Rahmen seiner Strebensethik macht er aber die Lebensform nicht zum Gegenstand einer E. Außerdem sieht er nicht, dass das Gute nicht bloß zu erstreben, sondern auch zu wählen ist, weshalb es – systematisch, nicht historisch verstanden – zuerst um eine ursprüngliche Wahl zwischen Gut und Böse geht.
Es sind die Existenzphilosophie (Søren Kierkegaard), später die Dialektische Theologie und Karl Jaspers, die in der Tradition des jüdisch-christlichen Denkens und der neuzeitlichen Ethik der sittlichen Autonomie die zum menschlichen Dasein gehörende Grund-E. hervorheben. Darunter verstehen sie jene existentielle Wahl, bei der – ausdrücklich oder unausdrücklich, eigens oder mitentschieden – der Sinn- und Lebenshorizont gesetzt wird, durch den das Leben des Menschen seine Grundausrichtung erhält. Gegenüber Aristoteles’ Verständnis der E. als einer bewussten und freiwilligen Wahl erfährt der E.s-Begriff dadurch eine weit emphatischere Bedeutung. Zugleich tritt die gewöhnliche Wahl in den Hintergrund. Die doch keineswegs belanglosen E.en, die Individuen und Gruppen, Unternehmen und Regierungen oder Parlamente immer wieder zu treffen haben, verlieren die Aufmerksamkeit, die sie für ein gelungenes persönliches, wirtschaftliches, gesellschaftliches und politisches Leben verdienen.
Nach der existentialistischen Ethik stehen die konkreten E.en innerhalb eines umfassenden Lebens- und Sinnhorizonts, über den allerdings durchaus im gewöhnlichen Leben entschieden wird. Diese Mit-E., eine Grund-E. über die Art, wie man sein Leben zu führen gewillt ist, zeigt sich weniger in einem einmaligen historischen E.s-Akt als in der auf eine spätere Korrektur hin offenen Lebensausrichtung. Es kommt hier auf die Lebensform an, in der ein Mensch sich mit all seinem Denken und Handeln bewegt (Handeln, Handlung). Nach dem bahnbrechenden Denker des Existentialismus, dem Philosophen und Theologen S. Kierkegaard, ist das menschliche Existieren ein Vollzug, der im Unterschied zu einem bloß intellektuellen Geschehen, der Reflexion, aus einem persönlichen Engagement („Leidenschaft“) heraus geschieht und eine Einheit von Denken, Wollen, Fühlen und Handeln darstellt. Diese Einheit ist nicht vorgegeben, sondern muss von jedem selbst und aus eigenem Antrieb erbracht werden.
Dabei geht es um die Persönlichkeit, die ein Mensch sein will, wobei ihm verschiedene Möglichkeiten offenstehen, Formen des Existierens, für die es eine systematische Rangfolge gibt: Bei der ästhetischen Existenz ist der Mensch Gefangener des (sinnlichen, künstlerischen, auch intellektuellen) Genusses, steht daher noch diesseits von Gut und Böse. In der ethischen Existenz wird das Genießen aufgebrochen, seine allgemeine Gültigkeit negiert und der Horizont der Sittlichkeit mit den Kategorien des Guten und Bösen als unbedingtes Maß des Handelns eröffnet; der Mensch konstituiert sich als sittliche Person. In der christlich-religiösen Existenz schließlich versteht sich der Mensch von Gott her als Sünder und zugleich Erlöster.
Der Übergang von der einen Existenzweise zur nächsten geschieht nach S. Kierkegaard aus einer unbedingten und freien Wahl. Für deren Vollzug sprechen keine rationalen Gründe, weshalb die Wahl ein Wagnis darstellt, prinzipiell gefährdet ist und die Gefahren des Scheiterns einschließt. Auch geschieht die existentielle Wahl nicht ein für allemal, sondern muss immer wieder neu vorgenommen werden. Schließlich kann niemandem die Grund-E. abgenommen werden; jeder muss sie selbst treffen und das Wagnis des Existentierens selber eingehen.
Der Gedanke der existentiellen Grund-E. will nicht, wie häufig angenommen wird, das menschliche Leben der Rationalität (Vernunft – Verstand) entziehen und einem irrationalen Glauben preisgeben. Er bestreitet keineswegs, dass sich z. B. für die Sittlichkeit ein Prinzip und ein Maßstab begründen ließen. Doch macht er darauf aufmerksam, dass deren Anerkennung durch den Einzelnen nicht rational abgeleitet werden kann. Spätestens hier stößt der Gedanke des praktischen Syllogismus an seine Grenzen. An S. Kierkegaards Überlegungen schließen sich weitere Existenzphilosophen, hier namentlich K. Jaspers, und Existenztheologen wie Karl Barth und Friedrich Gogarten an. Nach K. Jaspers realisiert man „im Entschluss, im Dasein ich selbst zu sein“ seine eigene Freiheit.
4. Die politische Entscheidung als Dezision?
Der auf Carl Schmitt zurückgehende Dezisionismus ist eine politische Theorie, die in der Nachfolge eines einseitig verstandenen Thomas Hobbes Recht und Staat auf das Prinzip der Selbsterhaltung verpflichtet und das Überleben eines Gemeinwesens aus der politischen Struktur von Befehl und Gehorsam erwartet. C. Schmitts Theorie stellt sich in einen undialektischen Gegensatz sowohl zum Natur- und Vernunftsrechtsdenken (Naturrecht) als auch zur angeblichen Flucht des „bürgerlichen Staates“ in eine permanente Diskussion, schließlich auch zu einer Totalisierung des Sachverstandes in einer Herrschaft der Fachleute, einer Expertokratie oder sogar Technokratie. Im Gegensatz dazu wird die E. (Dezision) als ein in keiner Weise, auch nicht partiell ableitbarer, rein voluntaristischer Akt verstanden: sic volo, sic iubeo (so will ich es, so befehle ich es). In der souveränen E. des Staates (Souveränität) sollen Normen nicht befolgt, sondern allererst gestiftet werden. Diese Ansicht kann sich nur begrenzt auf T. Hobbes’ sogenannte Imperativentheorie des Rechts berufen, die schon beim römischen Dichter Juvenal (Satiren 6, 223) zu findende Formel „auctoritas non veritas facit legem“ (Leviathan, Kap. 26). Es ist richtig, dass weder Gesetze noch politische E.en rein aus wahrheitsverpflichteten Diskussionen hervorgehen. Sie bedürfen einer Autorität, worunter man aber nicht einen absoluten Herrscher, sondern eine autorisierende, also eine – durch die Betroffenen – zur Herrschaft ermächtigte Macht zu verstehen hat.
Bei C. Schmitt hingegen verbindet sich die E. mit dem Pathos einer auf Dauer gestellten Notsituation, einer permanenten existentiellen Ausnahmelage und einer radikalen Ent-Rationalisierung der E.: Über die Richtigkeit, selbst die Tunlichkeit einer E. kann man nicht mehr streiten, weil es keine Gründe des Dafür und Dawider gibt. Folglich bleibt der Politik statt vernünftiger Debatten nur die souveräne E.
Das Recht des Dezisionismus besteht in seiner Kritik des theoretischen und praktischen Versuches, E.en in puren Sachverstand oder reinen Diskurs aufzulösen. Gegen eine Euthanasie des genuin Politischen kann die Dezision als ein unentbehrlicher Begriff der politischen Theorie, nämlich als ein notwendiger Kontrapunkt, gelten. Auch ist es richtig, dass die Politik dort ihren Ort hat, wo Zwecke und Ziele strittig sind und die Situation so komplex ist, dass die allfälligen E.en risikobelastet bleiben.
Auch in der liberalen Variante Hermann Lübbes gelingt es dem Dezisionismus aber nicht, die zur Dezision komplementären Momente (die normative Grundlage und die kritischen Ansprüche des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates) in einer phänomengerechten Theorie zu integrieren (Rechtsstaat). Unter den Bedingungen konstitutioneller Demokratien (Demokratie) kommt es in der Politik jedenfalls darauf an, verfassungsmäßig verankerte Prinzipien der Humanität, insb. der politischen Gerechtigkeit, mit den Funktionsanforderungen hochkomplexer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften (Industriegesellschaft) und ihrer jeweiligen Situation methodisch zu vermitteln und sich dabei der Beratung durch den (wissenschaftlichen) Sachverstand zu versichern (Politikberatung), ohne ihm das Recht auf die politische E. abzutreten. In solchen „Strategien der Humanität bzw. der politischen Gerechtigkeit“ (Höffe 1975) werden die vom Dezisionismus vernachlässigten Kommunikations- und Rationalitätselemente politischer E. eingearbeitet.
Literatur
O. Höffe: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, 2015 • S. Kierkegaard: Entweder-Oder, 2012 • J. Dreier: Decision Theory and Morality, in: A. Mele/P. Rawling (Hg.): The Oxford Handbook of Rationality, 2004, 156–181 • Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1995 • C. Rapp: Freiwilligkeit, Entscheidung, Verantwortung, in: O. Höffe (Hg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, 1995, 109–133 • R. D. Luce/H. Raiffa: Games and Decisions, 21989 • O. Höffe: Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse, 21985 • O. Höffe: Ethik und Politik, 21984 • J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975 • G. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 1974 • H. Thomae: Konflikt, Entscheidung, Verantwortung, 1974 • H. Lübbe: Theorie und Entscheidung, 1971 • W. Kirsch: Entscheidungsprozesse, 3 Bde., 1970/71 • R. C. Jeffrey: Logik der Entscheidungen, 1967 • J. von Neumann/O. Morgenstern: Spieltheorie und Wirtschaftswissenschaft, 21966 • A. Rapoport/A. Chammah: Prisoner’s Dilemma, 1965 • A. Bohnen: Die utilitaristische Entscheidung als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomie, 1964 • H. Kuhn: Das Sein und das Gute, 1962 • C. von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, 1958 • P. Ric&olig;ur: Philosophie de la volonté, Bd. 1, 1949 • C. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1934 • K. Jaspers: Philosophie, Bd. 2: Existenzherstellung, 1932.
Empfohlene Zitierweise
O. Höffe: Entscheidung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Entscheidung (abgerufen: 07.10.2024)