Industriegesellschaft

1. Begriffsgeschichte

Ursprünglich ein Ausdruck für jede nützliche Tätigkeit, insb. Gewerbefleiß, wurde „Industrie“ zum Signum einer gesellschaftlichen Neuorientierung durch produktive Arbeit auf der Grundlage einer Entwicklung und Anwendung technischer, wirtschaftlicher sowie sozialorganisatorischer Innovationen. Der französische Sozialreformer Claude Henri de Saint-Simon prägte visionär den Begriff der „industriellen Gesellschaft“ als eine durch Eliten von Industrie, Handel und Technik getragene, nationale Schranken überwindende Produktionswerkstatt. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung wurde die neue Produktionsweise, gekennzeichnet durch von Unternehmern gesteuerten kapitalintensiven Maschineneinsatz und Lohnarbeit in arbeitsteilig organisierten Betrieben, Grundlage der entstehenden I.

Die Verwendung dieses Begriffs wurde im 19. Jh. weithin überlagert von der Kapitalismusdiskussion. Ausgangspunkt war der Versuch von Karl Marx und Friedrich Engels, die Bewegungsgesetze des modernen, profitorientierten Kapitalismus zu analysieren und zwar als Entwicklung der Produktivkräfte bei Fortbestand der antagonistischen, durch den Interessengegensatz von Lohnarbeit und Kapital geprägten Produktionsverhältnisse. Demgegenüber wurde von „bürgerlichen“ Sozialreformern, die einer vermittelnden Sicht Lorenz von Steins folgten, der Schwerpunkt auf einen Interessenausgleich durch Staatsintervention als Vorwegnahme sozialstaatlicher Strukturen und Strategien gelegt. Die gesellschaftliche Weiterentwicklung wurde vorrangig aus politökonomischer Sicht interpretiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich von den USA ausgehend gegenüber antagonistischen Modellen der Leitbegriff „I.“ durch. Auf industrieller Basis wird ihre Struktur pluralistisch in einer Konkurrenz von Bürokratien (Staat, Unternehmen, Verbände) bestimmt und international vernetzt.

2. Theoretische Perspektiven

Eine auf die reale Ausprägung des Konstrukts „I.“ bezogene Strukturanalyse orientiert sich an vier Dimensionen, die unterschiedliche Erkenntnisinteressen widerspiegeln. Die technologische Sicht richtet sich auf die Veränderung der Arbeitsstrukturen in einem fortdauernden Prozess der Rationalisierung als Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hierbei ergibt sich eine Periodisierung nach Innovationsschüben. Allerdings lassen sich mit diesem Ansatz die sehr unterschiedlichen Nutzungsformen bei gleichem Technologieeinsatz nicht erklären.

Im Mittelpunkt des politökonomischen Ansatzes stehen die maßgebenden Zielsetzungen und Kontrollen bei der wirtschaftlichen Nutzung industrieller Arbeitsformen. Aus dieser Sicht prägen marktorientierte Kapitalverwertungsinteressen zunächst uneingeschränkt, später mit den organisierten Interessen der kapitalabhängig Beschäftigten und den Regelungen des Staates konkurrierend, die Dynamik der I. Zunehmende Beachtung fanden die Externalisierung unbewältigter Probleme in zunächst abhängige Kolonialgebiete, später Niedriglohnländer, sowie der Raubbau von Naturressourcen und industriebedingte Umweltschäden.

Die sozialwissenschaftliche Perspektive betrachtet die I. unter dem Aspekt des sozialen Wandels. Schwerpunkt der Untersuchungen wurden zunächst in der betrieblichen Arbeitswelt entstandene Handlungsstrukturen und ihre Rationalisierungsmuster (Rationalisierung). Sie breiteten sich auf die gesamte Lebenswelt aus, begleitet von Bevölkerungswachstum, steigender Schulbildung und Urbanisierung. Neue Forschungsperspektiven entstehen durch eine zunehmend transnationale Arbeitsteilung und Arbeitsmigration.

Die kulturwissenschaftliche Perspektive ist auf sinnhafte Handlungsorientierungen und ihre Manifestationen gerichtet. Aus dieser Sicht war die I. stets Gegenstand kontroverser kulturkritischer Diskurse. So hat Hans Freyer 1955 antimodernistisch die Entstehung „sekundärer Systeme“ kritisiert, in denen der Vorrang der materiellen Produktion und Verteilung dominiere, gekennzeichnet durch die „Machbarkeit der Sachen“ und den Massencharakter des Daseins. Radikaler hat Herbert Marcuse den totalitären Tendenzen in einer fortgeschrittenen, „eindimensionalen“ I., bedingt durch eine politisch gewordene technologische Rationalität, die „Große Weigerung“ entgegengesetzt. Gegenpositionen weisen auf den Anstieg materieller Lebensqualität und die Reichhaltigkeit moderner, jedoch nicht konfliktfreier Lebensformen hin.

3. Entwicklungsphasen

Ausgangspunkt der Dynamik weltweit vernetzter I.en ist die arbeitsteilige Nutzung von Arbeitskraft in kapitalintensiven Mensch-Maschine-Systemen mit dem Ziel einer Steigerung wirtschaftlicher Wertschöpfung. Treibende Kräfte sind:

a) technisch-wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte und in ihrer Anwendung die Zunahme der Arbeitsproduktivität;

b) zu deren Nutzung ein globaler Güter- und Leistungsaustausch durch Marktbildung, -erweiterung und -verflechtung;

c) die Herausbildung handlungsfähiger Funktionseliten sowie die Verbesserung des Bildungsstandards der Erwerbstätigen und ihrer Mitwirkungsrechte;

d) sozialstaatliche Maßnahmen zur Risikobegrenzung.

In einer expansiven Startphase entstand das frühindustrielle Fabriksystem unter der Herrschaft der „Fabrikherren“ als Repräsentanten des gewerblichen Kapitals. Die Freisetzung aus traditionellen Lebensverhältnissen führte für die Lohnarbeiterschaft zu instabilen Lebenslagen mit existenzgefährdenden Risiken.

In der intensiven Stabilisierungsphase gelang die Festigung des Industriesystems mit der Entstehung von Großbetrieben. Stabilere Marktbildungen und -verflechtungen waren die Folge der Schaffung von Nationalstaaten und durch die imperialistischen Großmächte beherrschten Kolonialgebieten. Zusammen mit der Produktivitätssteigerung und einer Anhebung des Lebensstandards entstanden Voraussetzungen für Massenfertigung (Fordismus) und Massenkonsum von Industriegütern. Weiterhin bestehende große soziale Ungleichheit machte die „Soziale Frage“ zu einem Kernthema gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Die konfliktreiche Entwicklung wurde begleitet von sozialen Bewegungen (Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften) und grundlegenden sozialen Innovationen (Sozialversicherung, Tarifverträge), die gesellschaftlich stabilisierend wirkten. Sukzessive wurden Regelungen zur Konfliktminderung und eine sozialstaatliche Rahmenordnung eingeführt.

Die dritte, integrative Phase war gekennzeichnet durch die allmähliche Ausweitung der Grundlagen industrieller Arbeitsorganisation auf alle Arbeitsbereiche, insb. den privaten und staatlichen Dienstleistungssektor. Die planvolle Nutzung der Arbeitskräfte im Rahmen einer „wissenschaftlichen Betriebsführung“ (Taylorismus) führte allerdings auch vielfältig zu einem Abbau der Berufsqualifikation durch Standardisierung auf abgesenktem Niveau. Die wohlfahrtstaatliche Sicherung des Lebensstandards wurde angestrebt und war, unterbrochen von politischen Katastrophen, partiell erfolgreich. Allmählich erfolgte auch ein Wandel der zunehmend bürokratisierten Herrschaftsstrukturen in industriellen Leistungssystemen. Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte für alle am Produktionsprozess Beteiligten wurden eingeführt.

Die Fortentwicklung der I. wird weiterhin durch die Anwendung risikoreicher werdender technischer Neuerungen mit großem Kapitaleinsatz und eine strategische Marktbeeinflussung durch zunehmend multinational organisierte Großunternehmen gekennzeichnet. Vorherrschendes Merkmal ist ein computergestützter Trend zur Automatisierung. Einhergehend nimmt die globale Vernetzung der Wertschöpfungsketten und ihrer Nutzung zu. Dies ist verbunden mit neuen Produktionskonzepten, die zu einer Umschichtung und Requalifizierung von Arbeitskräften führen, auch durch Auslagerung und Flexibilisierung von bisher einzelbetrieblich fixierten Arbeitsgängen in den Bereich dezentraler, vorwiegend systemisch gesteuerter Eigenleistungen. Eine fortdauernde Herausforderung ist die humane Gestaltung der Arbeitswelt, auch angesichts der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse ohne Berufsperspektive. Die unvorhergesehenen Folgen von Umweltschäden und einer unkontrollierten industriellen Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen erfordern über die Unternehmens- und Staatsgrenzen hinausgehende Maßnahmen.

4. Strukturwandel

Ein epochaler Strukturwandel hat die industrieabhängigen Gesellschaften zunehmend global erfasst. Seine Vielschichtigkeit ließ Alternativkonzepte entstehen, basierend auf der Zunahme der Dienstleistungstätigkeiten und der Ablösung des Unternehmertums durch technokratische Herrschaftsstrukturen. Die Ausdehnung marktorientierter Leistungsmuster auf die gesamte Lebenswelt war eine Grundlage für das Konstrukt der „postindustriellen“ Gesellschaft. Ergänzend entstanden neue Typisierungen: „Wissensgesellschaft“ (Stehr 1994) und „Informationsgesellschaft“ (Mansell 2009). Zunehmend bewirken durch „revolutionäre“ Neuerungen (Internet, Digitalisierung) ausgelöste Industrialisierungsschübe „Systembedrohungen der hochindustrialisierten Weltgesellschaft“, die sich als „Risikogesellschaft“ darstellt (Beck 1986: 44). Die herkömmliche Wachstumsdynamik ist fragwürdig geworden.