Humanität

  1. I. Philosophisch
  2. II. Sozialethisch

I. Philosophisch

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1. Humanitas

Nach den ersten Belegen in der „Rhetorica ad Herennium“ (84/83 v. Chr.) begegnet das Wort insb. bei Cicero. Darin „faßte der Römer … den verpflichtenden Wesenskern des Menschen zusammen“ (Büchner 1979: 1241), v. a. im Blick auf Gesittung, Freundlichkeit, Kultur. Dies selbstverständlich dank griechischem Einfluss, „obschon ihm kein griechisches Äquivalent voraufgeht“ (Rieks 1974: 1231); doch zugleich mit einer bedeutsamen Umakzentuierung gegenüber dem Griechen, der „fast immer den Gegensatz zum Göttlichen im Sinn hat, wenn er etwas menschlich nennt, Mangelhaftigkeit und Geringfügigkeit“ (Klingner 1965: 726). Menschliche Größe wird zumeist als „Göttlichkeit“ gedacht und angesprochen, bis dann Menander den Menschen als ein „artig Ding“ bezeichnen kann (fr. 761 K) und Kleanthes gar einen Unterschied bei Tugend und Wahrheit zwischen Mensch und Gott bestreitet. So ist der Spruch von Delphi: „Erkenne dich selbst“, aus einer Erinnerung an die eigene Nichtigkeit zu einem Appell an Würdebewusstsein und Hochgemutheit geworden.

„Humanitas“ aber in diesem Rahmen legt den Akzent gerade nicht auf Würde, sondern auf die heitere Unabhängigkeit des Privaten, wenn Cicero vom „humaniter vivere“ schreibt (ad Fam 7, 1), von humanem Gespräch und Scherz unter Freunden. Andererseits geht es beim „sensus humanitatis“ (S. Rosc.: 154) um Vornehmheit, Mitleid und Milde dem Feind gegenüber. In summa: „Humanitas ist bei Cicero der Inbegriff des Menschlichen, insofern es im Unterschied zum Tierischen Fertigkeit ist, nicht nur Umwelt, sondern geordnete und rhythmisierte Welt zu haben“ (Büchner 1979: 1243). Auf ihn greift in der Renaissance Leonardo Bruni zurück mit dem Programmwort der „studia humanitatis“.

2. Humanität

Die eingedeutschte Wortform verweist auf Johann Gottfried Herder, der „ihre ganze Sinnfülle gewissermaßen entdeckt hat“, als „ihr Verkünder für ein ganzes Zeitalter“ (Klingner 1979: 705), nachdem er in der Sturm- und Drangzeit sie noch verächtlich abgelehnt hatte. Das Wort meint auch Mitgefühl und Güte, aber darüber hinaus die Herausbildung unseres eigentlichen Wesens, bis zur Gottähnlichkeit. Der Mensch, einerseits in Einheit mit der Natur, ihrem Stufenbau eingefügt, bildet zugleich ihre Spitze und in seiner göttlichen H. gewissermaßen ihren Inbegriff. Mit seiner Berufung auf das „studium humanitatis“ der Griechen und Römer bezieht sich J. G. Herder hierbei („in fruchtbarem Mißverständnis“ [Büchner 1979: 1243 f.]) v. a. auf die römische Stoa. Freilich kaum ohne Vermittlung des italienischen Humanismus, und so auch gestützt auf den biblisch-christlichen Gedanken der Gottebenbildlichkeit, ohne den man die „Heiligkeit“ des Menschen „doch vielleicht nicht versteht“ (Klingner 1965: 716). Aber ehe wir darauf eingehen, ist nochmals die Polemik des jungen J. G. Herder gegen die „Affen der Humanität“ (Klingner 1965: 706, 738) aufzunehmen.

3. Humanitarismus

Unter dem Titel „Humanitarismus“ hat v. a. Arnold Gehlen seine Kritik am neuzeitlichen Ethos vorgetragen. Er meint damit eine zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe als leere Ausweitung des familialen gegenüber dem staatlich institutionellen Ethos. Zur Weltreichs-Ethik der Stoa und der christlichen Idee der Nächstenliebe tritt seit der Aufklärung der Sozialeudaimonismus als „Kernstück des ethischen Wandels der Neuzeit“ (Gehlen 1969: 61). Daraus entsteht, in Deutschland durch die Kriegsniederlage begünstigt, eine „Moralhypertrophie“ (Gehlen 1969: 141 ff.), die auch die christliche Verkündigung gefährdet. A. Gehlens Kritik krankt an ihren biologisch-pragmatischen Voraussetzungen. Wer als Aufgabe für Individuum wie Staat nur die Daseinserhaltung erblickt, kann nicht zeigen, wieso man gegen privaten wie sozialen Hedonismus dafür optieren sollte, „sich von den Institutionen konsumieren zu lassen“ (Gehlen 1969: 75). Und wie wird die Universalität der sittlichen Vernunft missdeutet, wenn sie dem „Staatsethos“ gegenüber als Humanitarismus erscheint.

Tiefer lotet Max Schelers Analyse, die von Friedrich Nietzsche den Ressentimentbegriff übernimmt, um Tendenzen der Moderne zu charakterisieren. Ressentiment ist am Werk, wo man H. der Gottesliebe entgegensetzt. Sodann, wo man einen Egalitarismus verficht, für die „Menschheit als Masse“ (Scheler 1923: 219), gegen den Sinn für das Edle wie Liebe zum Nächsten und zum kleinen Kreis („Summenprinzip“ gegen „Solidaritätsprinzip“); mit Verabsolutierung der Wohlfahrtsförderung unter Verwerfung höherer Ziele, weil diese nicht direkt förderbar sind. Meint H. also eine Verbindung von Gerechtigkeit und Liebe, so ist Humanitarismus deren beider Verkehrung. An die Stelle der Würde der Person und der Wahrung ihrer Freiheit tritt die Forderung nach Wohlfahrt und Versorgung. Nicht als ob das Rechtsprinzip das Sozialprinzip ausschlösse. Den Kampf für dieses als humanitär-ökonomische Bewegung statt als politische Grundforderung verstanden zu haben, sieht Karl-Heinz Volkmann-Schluck als folgenreiches Missverständnis des liberalen Bürgertums. Im Wohlfahrts– und Versorgungsstaat aber wird dieses Missverständnis zum Prinzip. Staat und Politik gehen im Gesellschaftlichen unter. Ähnliche Tendenzen gibt es bezüglich des Völkerrechts auf eine „universale Sozialdoktrin, die das Glück des ganzen Menschengeschlechts anstrebt“ (Pictet 1969: 15), mit Plädoyer für Verständnis und Nachsicht statt Gerechtigkeit, universellen Bedürfnissen entspr.

Demgegenüber ist mit Konstantinos Delikostantis festzuhalten, dass es bei den Menschenrechten fundamental um die Würde und deren Wahrungsbedingungen geht, was in der Rede vom „humanitären Recht“ (des Leidenden, Gefangenen usw.) nicht klar wird (Delikostantis 1982: 178). Und auch die sozialen Menschenrechte „haben ihren letzten Verpflichtungsgrund in der Freiheit des Menschen und nicht in der Daseinssicherung als solcher und in bloßem Wohlergehen“ (Delikostantis 1982: 179). Sonst ließe sich jede Wünschbarkeit zum Menschenrecht erklären, und andererseits gingen durch solche Ausuferung sowohl Geltungs-Ernst wie Durchsetzbarkeit verloren. Schließlich und gerade der Friede darf nicht grundlegend humanitär, von Bedürfniserfüllungen her, gedacht werden, will man nicht riskieren, dass zuletzt jegliche Ordnung als Repression ausgelegt wird, gegen welche als „strukturelle Gewalt“ dann „Gegengewalt“ gerechtfertigt wird (Delikostantis 1982: 181).

Es ist also einmal die Rechtsautonomie gegen schließlich despotischen Humanitarismus zu verteidigen; gleichermaßen das christliche Liebesethos gegen einen horizontalistischen Humanismus (in Jesu Namen), der heute v. a. politisch auftritt und angesichts des Pluralismus die salus christiana auf eine (obendrein oft einseitig fixierte) salus publica reduziert.

4. Theo-logisches Menschsein

Man muss unterscheiden: ein religiös-„vertikales“ Menschenverständnis ist in Gefahr, die horizontale Dimension zu vernachlässigen (oder gar dort bestehendes Unrecht positiv, als Ideologie, zu rechtfertigen); eine prinzipiell-horizontale Perspektive aber ist unfähig zu einer angemessenen Wertung des Vertikalen. Dieses erscheint in der (nicht auf Bedürfnisse reduzierbaren) Autonomie und Würde der Person mit ihrem Anspruch auf Gewissensfreiheit (Gewissen, Gewissensfreiheit), und zwar in seinem Kern so unabweisbar wie unbeweisbar als „Faktum“ der sittlichen Vernunft, unbeschadet der Geschichtlichkeit dieser Erkenntnis. Transzendental-Reflexion zeigt ihre Unumgänglichkeit und humanes Bewusstsein verbietet, sie als Prinzip ernstlich zu diskutieren.

Diskutiert werden müssen jedoch die Konkretionen des Prinzips. Und diskutiert werden sollten seine ontologischen Implikationen, etwa derart: Wie ist die – in sich fraglose, keiner Begründung bedürftige – Geltung des kategorischen Imperativs zu verstehen? Kann man Person(sein) angemessen denken ohne Rückbezug auf einen personalen Schöpfer? Ist Vergebung unter Menschen (als Hochgestalt von H.) im Ernst ohne Berufung auf göttliche Vergebung denkbar? Lassen sich letztlich Ethos (bis zur Selbsthingabe für den/die anderen) und Lebenssinn (Wahrung des Selbst und seiner Würde) zusammendenken ohne Hoffnungsausblick – für den je Einzelnen selbst – über die Todesgrenze hinaus? Diese Fragen meinen ein Doppeltes: eine reflexive Begründung – ohne die H. durchaus gelebt werden kann und gelebt wird, dann aber auch die H. selbst. Denn bei Ausfall dieser Perspektiven wird sie erheblich verkürzt (wenn auch nicht notwendig bis zum Humanitarismus). Dies begründet den Auftrag zu christlichem Zeugnis nicht allein als Christen-, sondern schon als Menschen-Pflicht.

II. Sozialethisch

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Wenn auch der ethische Gehalt des Begriffs der H. keineswegs der einzige ist, so ist er doch von Anfang an wesentlich und heute absolut vorherrschend; er zielt auf Philanthropie und Mitmenschlichkeit, v. a. gegenüber den Schwachen. Ist H. ursprünglich ein elitäres Bildungsideal und ein Tugendbegriff, so entwickelt sich in der Neuzeit ein spezifisch sozialethisches Verständnis, indem nun auch die Frage nach der H. der sozialen Ordnung aufkommt. Diese Ausweitung des Humanitätsbegriffs geschieht im Kontext einer geistesgeschichtlichen Bewegung, die Hans Joas im Anschluss an Émile Durkheim als einen Prozess der „Sakralisierung der Person“ (Joas 2011: 81) beschreibt und in der zunehmend die Einsicht in die Heiligkeit des menschlichen Lebens wächst. Dieser Prozess äußert sich etwa seit dem 16. Jh. in wachsender Kritik an der Folter, in Ansätzen zur Humanisierung des Kriegsrechts im 17. Jh. und in der Idee der Menschenrechte im 18. Jh. Für den Komplex dieser heute international anerkannten Rechte und Regeln hat sich der Begriff des humanitären Völkerrechts eingebürgert.

Zwar ist der H.s-Begriff etwa bei Johann Gottfried Herder noch stark durch biblisch-christliche Motive geprägt, aber die Mehrzahl der neuzeitlichen Autoren entfaltet die H.s-Idee losgelöst von diesen Voraussetzungen; v. a. den Aufklärungsphilosophen geht es um eine explizit nicht-religiöse Begründung. Eine positive Rezeption der H.s-Idee, wie sie die liberale protestantische Theologie seit Beginn des 19. Jh. vornimmt, wird innerhalb der katholischen Theologie durch die flächendeckende Durchsetzung der Neuscholastik zunächst verhindert. Das ändert sich erst in der Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien (Totalitarismus) des 20. Jh. Jacques Maritain entwirft 1936 einen „integralen“ bzw. „christlichen“ Humanismus; dieses Konzept übernimmt auch das Zweite Vatikanische Konzil (vgl. GS 55 f.). Auch evangelische Theologen (z. B. Arthur Rich) und säkulare Autoren (z. B. Wilhelm Röpke) verwenden nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff der H. als sozialethische Leitidee.

Andere, wie die Begründer der Kritischen Theorie, reflektieren dagegen die Tatsache, dass es trotz der großen humanistischen Tradition Deutschlands zur Barbarei des Nationalsozialismus kommen konnte. In der Verabsolutierung bestimmter H.s-Konzepte in der Vergangenheit sehen sie den Keim der späteren In-H. Ähnlich argumentiert Michel Foucault, der z. B. an der Humanisierung des Strafvollzugs zeigt, wie im Zuge dessen auch neue inhumane Sozialpraktiken etabliert wurden.

Demgegenüber betont Jürgen Habermas weiterhin die emanzipative Kraft der H. als sozialethischer Leitidee, sofern sie als für diskursive Kritik und Weiterentwicklung offenes Konzept vertreten wird. Eine solche Kritik und Weiterentwicklung ergibt sich freilich immer dann, wenn es zu Verletzungen der Menschenwürde und Menschenrechte kommt, die das überkommene H.s-Konzept nicht erkennt oder sogar deckt. Johann Baptist Metz plädiert daher dafür, den sozialethischen Fokus auf die Vulnerabilität der Menschen zu legen und ihren tatsächlichen geschichtlichen Verletzungen mit der Haltung der „Compassion“ zu begegnen.