Totalitarismus

1. Totalitarismus – ein umstrittener Begriff

Der Begriff „T.“ wurde 1923 von dem liberalen Mussolini-Gegner Giovanni Amendola zur Kennzeichnung des faschistischen Staates in Italien („sistema totalitario“) geprägt. Gemeint war damit eine Herrschaftsform, die mit ihrem uneingeschränkten Machtanspruch jeden Bereich des Lebens umfasst und keinen Raum jenseits des Politischen mehr lässt. Diese Totalität des staatlichen Zugriffs, von Theoretikern wie Carl Schmitt und Ernst Forsthoff positiv bewertet, wurde in der Folge zum Negativmerkmal einer modernen Form von Herrschaft, in der Staat und Gesellschaft verschmelzen. Da man dieses Phänomen nicht nur im Faschismus, sondern auch im Kommunismus wahrnahm, wurde der T.-Begriff ab Ende der 1930er Jahre auf beide Systemarten angewandt. Dadurch rückte der Begriff aus der publizistischen und wissenschaftlichen Betrachtung in die politische Debatte, in der v. a. von linker Seite heftig kritisiert wurde, ein Vergleich von Faschismus und Kommunismus verharmlose Ersteren und delegitimiere Letzteren.

Doch nicht nur der im T.-Begriff angelegte Vergleich zweier inhaltlich entgegengesetzter Systemtypen war umstritten, sondern auch, inwiefern die als totalitär bezeichnete Herrschaft tatsächlich eine neue Herrschaftsform darstellt oder nur eine moderne Variante der Diktatur. Sofern die Anwendung des T.-Begriffs akzeptiert wurde, war strittig, für welche politischen Konstellationen er Geltung beanspruchen kann – nur für den Nationalsozialismus oder auch für weniger rigide faschistische Systeme? Bei der UdSSR: nur für die Zeit des Stalinismus oder auch für die Zeit nach der Entstalinisierung durch Nikita Sergejewitsch Chruschtschow? Bei anderen kommunistischen Regimen: auch für China, Nordkorea und die sowjetischen Satellitenstaaten? Da der Begriff nur noch negativ gebraucht wird, bedeutet seine Verwendung i. d. R. auch eine politische Positionierung; von daher lässt sich die wissenschaftliche Debatte um den Begriff von der politischen kaum trennen.

2. Kennzeichen des totalitären Systems

Die Diktatur bezeichnet im Allgemeinen eine unbeschränkte Machtkonzentration in den Händen eines Einzelnen oder einer Gruppe, die Tyrannis die Willkürherrschaft eines Einzelnen, das autoritäre Regime eine der Machtkontrolle durch das Volk entrückte Herrschaft, die Autokratie die unkontrollierte Herrschaft aus eigener Machtvollkommenheit. So unscharf die Trennlinien zwischen den genannten Herrschaftsformen auch sein mögen, ist diesen doch gemeinsam, dass sie Macht per Zwang ausüben, der sich in Sanktionsmechanismen aller Art ausdrückt. Darüber geht das totalitäre System noch hinaus: Es will den Menschen nicht nur von außen zwingen, sondern ihn auch von innen vereinnahmen. Das Besondere des totalitären Systems ist die Totalität des Zugriffs auf den Menschen. Er soll nicht nur so handeln, wie vom Regime gewünscht, sondern auch so denken.

Deshalb sind totalitäre Systeme Ideologie-geleitete Systeme. Eine staatlich verordnete Ideologie wie z. B. der Marxismus-Leninismus oder die nationalsozialistische Weltanschauung richtet das staatliche Handeln aus. Zugleich soll die Ideologie per Schulung, Indoktrination oder Gehirnwäsche die vom System erfassten Menschen in ihrer gesamten Existenz ergreifen. Das Ideal ist, dass zur Umsetzung der staatlichen Ziele irgendwann keine Gewaltanwendung mehr nötig ist, weil die Menschen diese Ziele verinnerlicht haben. Letztlich wollen totalitäre Regime den „neuen Menschen“ hervorbringen – den Menschen, der alle überkommenen Werte und Normen hinter sich gelassen hat und nur noch im Sinne des Systems funktioniert.

Weil mit den Ideologien heilsgeschichtliche Erwartungen verbunden werden (die „klassenlose Gesellschaft“, die „arische Kampfgemeinschaft“), wurden sie als „politische Religionen“ (Voegelin 1938) gekennzeichnet. Was bei traditionellen Religionen in der Transzendenz verortet ist, nämlich Heil, Erfüllung, Vollkommenheit, soll bei politischen Religionen bereits irdisch realisierbar sein. Der damit einhergehende Absolutheitsanspruch an den Bereich des Politischen erfordert in der Umsetzung jene Totalität des Staatlichen, die zur Auslöschung von Individualität, Privatheit und Freiheit führt. Totalitäre Regime müssen alle autonomen Bestrebungen in der Gesellschaft vernichten, Staat und Gesellschaft werden eins.

Inhaltlich sind sich Marxismus und NS-Weltanschauung entgegengesetzt. Der Marxismus verspricht universelle menschliche Gleichheit, die Abschaffung von Herrschaft, den ewigen Frieden; die NS-Weltanschauung setzt auf Ungleichheit, die bedingungslose Durchsetzung von Herrschaft, den ewigen Kampf. Strukturell aber sind sie sich ähnlich: Ihr Ziel ist die Erlösung der Menschheit aus einer Geschichte des Verfalls, ihr Weg dazu ist der Kampf gegen den als Inbegriff des Bösen definierten Feind, ihre Legitimation ist ihr privilegiertes Bewusstsein, das alle Verblendungszusammenhänge durchschaut und den Gesamtzusammenhang der bisherigen Geschichte (Geschichte) erkannt hat. Jenseits des je spezifischen Feindes („die Kapitalisten“, „die Juden“) ist der gemeinsame Feind der Liberalismus. Mit seinem Individualismus, seinem Freiheitsversprechen (Freiheit) und seiner Forderung nach individueller Verantwortung widerstreitet er dem Kollektivismus, der behaupteten historischen Notwendigkeit und der kollektiven Verantwortungslosigkeit in beiden Ideologien.

Strukturelle Gemeinsamkeiten wiesen aufgrund dessen auch die politischen Systeme des Kommunismus und des Nationalsozialismus auf. Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski nennen neben der Ideologie fünf weitere Faktoren: eine monopolistische Massenpartei, das Terrorsystem, das Monopol der Kommunikationsmittel und Kampfwaffen sowie die zentral gelenkte Wirtschaft (Zentralverwaltungswirtschaft). Der modernen Technik kommt dabei als Herrschaftsmittel eine zentrale Rolle zu. Dieses später wegen fehlender Einbeziehung der Entwicklungsdynamik totalitärer Systeme kritisierte Schema vermittelt aber einen wesentlichen Zug dieser Systemart: die totale Zentralisierung der Macht, die Ausschaltung aller autonomen Zwischeninstanzen. Natürlich ist dies keinem der real existierenden totalitären Systeme restlos gelungen, es liegt aber in der Logik ihres Ansatzes. Weil die Ideologie die gesamte Wirklichkeit aus einem Punkt heraus erklärt (der Klassenkampf; der Rassenkampf [ Rassismus ]) und sich das Wissen darum in der herrschenden Partei konzentriert, muss auch alles von ihr her organisiert werden bzw. auf sie zulaufen. Und auch der Terror ist ideologisch begründet: Er mündet in den Massenmord, die Auslöschung der als Feind bestimmten Kollektive.

Das Zusammenspiel von Ideologie und Terror im totalitären System betonte v. a. Hannah Arendt. Die geistige Gleichschaltung und die allgegenwärtige Drohung der Gewalt vereinzelt die Menschen und zerstört den öffentlichen Raum, der der Raum des Politischen ist. In der Tat kennen totalitäre Systeme keine Öffentlichkeit jenseits der von der Partei inszenierten. Dort kommt der einzelne Mensch nur als Teil des Kollektivs vor. So versuchen die Menschen im totalitären System, sich letzte Reste von Privatheit zu sichern und sich dorthin zurückzuziehen, sofern sie nicht der Indoktrination erliegen oder den Weg des Widerstands gehen.

3. Totalitarismus – ein Phänomen der Vergangenheit?

Der liberale Verfassungsstaat hat auf die totalitäre Erfahrung reagiert und die anti-totalitären Elemente in der Demokratie gestärkt. Schutz der Menschenrechte als Individualrechte, Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat), Gewaltenteilung, Pluralismus, Kontrolle der Regierung (Politische Kontrolle) durch Opposition, Wähler und freie Medien sowie wehrhafte Demokratie, d. h. Abwehrbereitschaft gegen extremistische Gegner (Extremismus) der Demokratie, sind Mittel, einen Rückfall in totalitäre Strukturen zu verhindern. Doch die Herausforderungen bleiben: Mit dem Islamismus ist eine neue Ideologie ins Blickfeld gerückt, die gegen die westliche Trennung von Politik und Religion antritt, das totalitäre Freund-Feind-Schema durch die Entgegensetzung Gläubige – Ungläubige religiös wendet und mit dem weltumspannenden Anspruch auftritt, an die Stelle staatlicher Souveränität die Souveränität Gottes zu setzen. Die Herbeiführung des Gottesstaates (Theokratie) durch terroristische Mittel sowie die subkutan erfolgende Einführung der Scharia in demokratische Verfassungsstaaten stellen Letztere vor eine Bewährungsprobe.

Doch auch ein Wiederaufleben der bekannten Ideologien in neuem Gewand stellt eine reale Gefahr dar. Links- und Rechtspopulismus (Populismus) berufen sich wie ihre Vorgänger-Ideologien darauf, den wahren Volkswillen zu vertreten, der in der parlamentarischen Demokratie (Parlament) angeblich nicht hinreichend berücksichtigt wird. Direkt-demokratische Ansätze werden gegen das Prinzip der Repräsentation ausgespielt, rechtsstaatliche Verfahren verunglimpft oder für eigene Zwecke ausgebeutet. Systemverdrossenheit und gesellschaftliche Spaltung bieten einen gefährlichen Nährboden für antidemokratische Tendenzen. Insofern darf die Gefahr des T. nicht als gebannt gelten.