Öffentlichkeit

  1. I. Begriffsgeschichte
  2. II. Soziologie

I. Begriffsgeschichte

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1. Antike

Wenn nicht schon die Sprache und das sich in ihr äußernde Bewusstsein, so ist doch spätestens die Schrift eine kulturelle Errungenschaft, deren Gebrauch in Handel, geschichtlicher Erinnerung und Verwaltung sich nicht ohne eine Sphäre öffentlichen Raumes vorstellen lässt.

Schon Platon stellt den Gründungsakt des Staates als öffentlich dar. Nach Titus Livius bekräftigte in der Königsherrschaft Roms ein öffentlich tätiger Priester die Anerkennung des Herrschers. Der Übergang in die Republik erfolgte dann in Erfüllung von Forderungen und nach Verhandlungen mit den Vertretern des versammelten Volks.

Ein griechischer Terminus ist tò phanerón, also das, was in der Erscheinung hervortritt und für viele erkennbar wird. Im Lateinischen finden sich Wortbildungen, die von publicus (dem Volk gehörig) abgeleitet sind; sie zeigen die Beteilung des Volkes an und sind von daher ursprünglich mit partizipativen Erwartungen (Partizipation) verbunden. In so gut wie allen Fällen ist die Beratung einer Menge von Menschen erforderlich, die übereinkommen, einen Staat zu bilden, ganz gleich, ob es sich um Königsherrschaft, Demokratie oder eine res publica handelt. Damit ist es möglich, die politische Geschichte der Ö. bis in die Anfänge des Politischen zurückzuverfolgen.

In der griechischen polis gibt es bereits aus der Zeit der Solonischen Reformen Hinweise auf die Bedeutung einer öffentlichen Meinung, die um 600 v. Chr. durch die Grundbesitzer majorisiert wird. Solon aber liegt daran, die Menge des Volkes von Schulden zu entlasten, um sie zum aktiven Eintreten für ihre polis zu gewinnen. Die Annahme, hier bereits eine Nähe zwischen Ö. und Demokratie erkennen zu können, ist nicht zwingend.

Gleichwohl lässt sich ohne Ö. das Werden der Demokratie in Athen nicht verstehen. Weitere Folgen der allgemeinen Teilhabe aller Bürger an der Meinungsbildung sind die politische Bedeutung der Aufführung und der Aussage der Tragödien, das Interesse an der Rhetorik und die auf Mitteilung abzielenden Wissenschaften. Perikles rühmt in seinem „epitaphios“ den öffentlichen Meinungsaustausch als zukunftsweisenden Vorzug gegenüber Sparta. In Platons „Nomoi“ geht der Entscheidung für das neu entworfene Gemeinwesen eine öffentliche Unterrichtung aller künftigen Bürger über die Prinzipien der Verfassung voraus. Wer nicht aus eigener Einsicht zustimmt, kann das Land verlassen.

2. Fortführung nach dem Untergang der Alten Welt

Auch nach dem Untergang der Alten Welt bewahrt die Begriffsgeschichte nahezu aller europäischer Sprachen den Bedeutungsgehalt der res publica sowohl in der Bezeichnung der öffentlichen Rede, des öffentlichen Rechts wie auch in der Kennzeichnung der Verfassung der sich selbst verwaltenden Städte, die sich Republiken nennen. Damit gibt es auch unabhängig von der öffentlichen Verkündigungspraxis in den christlichen Gemeinden und Kirchen eine politische Tradition des Begriffs über das Mittelalter und die Renaissance hinaus. Konzilien und Reichstage waren, ungeachtet zahlloser vertraulicher Treffen und Absprachen, öffentliche Ereignisse.

Realgeschichtlichen Schub bekommt das öffentliche Leben in Europa im Zeitalter des Humanismus und im Streit um die Reformation. Die Erfindung des Buchdrucks hat neue technische Bedingungen geschaffen; der Aufschwung, den die europäischen Staaten durch den Zustrom von Nachrichten und Gütern aus der Erkundung und Eroberung anderer Kulturen nehmen, kommt hinzu. Wachsende Vielfalt von Religionsgemeinschaften, die sich um öffentliche Wirksamkeit bemühen, verstärkt die Vielstimmigkeit im gesellschaftlichen Raum.

Der Humanismus mit seiner wirksam entfalteten Publizität versteht sich als Bemühung im Interesse der Ö. Giovanni Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus, Philipp Melanchthon und, zwei Generationen später, Michel de Montaigne, setzen mit ihren Schriften auf öffentliche Wirkung, ebenso der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas, wenn er vom spanischen König (und mittelbar auch von der Kurie) die Achtung der „Rechte der Menschen“ in den überseeischen Kolonien fordert. Auch die Beschlüsse des Konzils von Trient sowie des Augsburger Reichsabschieds sind ausdrücklich nicht nur an die Fürsten, sondern direkt an deren Völker gerichtet. Die Meinung der Menge, obgleich nicht formell beteiligt, gewinnt öffentliches Gewicht.

3. John Milton und die Folgen

Der mediale und politische Ausbau dieser rechtlich noch nicht gesicherten Ö. führt bereits in der ersten Hälfte des 17. Jh. zu einer Kontroverse, die ihre Bedeutung nicht allein mit Blick auf die ansteigende Flut der Publikationen, sondern auch vor dem Hintergrund des zunehmenden Gewichts parlamentarischer Debatten (Parlament, Parlamentarismus) hat. In England hatten König und Kirche, wie in vielen anderen europäischen Staaten, auf die Bücherflut mit massiver Zensur reagiert. Die publizistische Ö. wurde als Gefahr empfunden und entspr. reglementiert. Gegen die umstrittene Politik von Charles I. protestierte das englische Parlament und beschloss 1638 die Aufhebung der Zensur. Doch wenig später, nachdem der König vertrieben war, wurde sie vom selben Parlament wiedereingeführt.

Diese Kehrtwendung seiner Gesinnungsfreunde empörte den zuvor selbst als Zensor tätig gewesenen Dichter und Parlamentssekretär J. Milton derart, dass er in einer zwar nicht am Ort gehaltenen, aber 1644 unter dem Titel „Areopagitica“ veröffentlichten „Parlamentsrede“ in aller Ausführlichkeit widersprach. Sie ist das Gründungsdokument der modernen Pressefreiheit. Bemerkenswert ist, dass J. Milton die Probleme seiner Zeit in engem Zusammenhang mit der Praxis der altgriechischen polis darzustellen sucht, wie der an den Areopag erinnernde Titel zu erkennen gibt.

J. Milton leugnet die mit dem mechanischen Buchdruck veränderte Lage nicht. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, Bücher überall in Europa zu drucken, macht, so meint er, die Zensur in einem Land zur vergeblichen Mühe. Darüber hinaus sei sie eine politische Dummheit. Denn der Buchdruck eröffne der Bildung aller Bürger ungeahnte Chancen und fördere die individuelle Produktivität. Sie schaffe die Voraussetzung, dass Kenntnisstand und Tüchtigkeit des Einzelnen in dessen eigenem Interesse zunehmen; das komme dem Wohlstand aller zugute. Überhaupt sei das Schreiben und Publizieren von Texten „öffentlicher“ (Milton 1644: 927; more public) als Reden.

J. Miltons Text ist auch deshalb von Gewicht, weil er nicht nur alle politischen und pragmatischen Einwände gegen die Zensur zusammenfasst, sondern auch in einem groß angelegten, von der Antike bis in seine Gegenwart reichenden Rückblick für die Freiheit öffentlicher Äußerungen plädiert, und zwar im Namen der „Humanität“ (Milton 1644: 871; humanity). Es gehe ihm nicht primär um materielle Güter, sondern um „brüderliche Suche nach der Wahrheit“ (Milton 1644: 934).

Im Vergleich zu diesem umfassenden Bildungsanspruch, sind die in der soziologisch orientierten Geschichtsschreibung des 20. Jh. hervorgehobenen Debattierclubs in den Londoner Kaffeehäusern sekundär. Sie zeigen an, dass trotz der 1659 erfolgten Wiederherstellung der Königsherrschaft das Ansehen des Parlaments nicht gelitten hat. Die Anteilnahme der Bürger an den Vorgängen im House of Parliament wächst, und anspruchsvolle Londoner Bürger legen Wert auf eine Schulung im öffentlichen Reden, die in den Kaffeehäusern – auch andernorts – angeboten wird.

Unabhängig von ihnen, die es nach dem Sieg über die Türken auch in Wien, Triest und Venedig gibt, entfaltet sich in anderen Ländern Europas sowie in den nordamerikanischen Kolonien das bürgerliche Interesse an der Ö. Ursächlich dafür sind das sich ausbreitende Zeitungswesen mit seinen illustrierten Beilagen, die zunehmende Lesefähigkeit eines rasch wachsenden Publikums und der wachsende Anteil weiblicher Leser. In Amerika sind es die Gerichtsreden, die öffentliche Aufmerksamkeit finden und den Rechtsanwälten im Kampf um die Unabhängigkeit und um eine republikanische Verfassung führende Stellung verschaffen. Wie groß der Anteil der Ö. im vorparlamentarischen Raum ist, zeigen bis heute die „Federalist Papers“, die während der Verfassungsberatungen der Neu-Englandstaaten zuerst in verschiedenen New Yorker Zeitschriften und 1787 unter dem Pseudonym PUBLIUS erschienen sind, hinter dem sich die Autoren Alexander Hamilton, James Madison und John Jay verbargen.

Der Aufschwung der Wissenschaften und der Künste, die zunehmende Erschließung der Welt und der sich ausbreitende Handel, Kriegs- und Naturereignisse (z. B. die grausame Eroberung Magdeburgs durch Johann Tserclaes Graf von Tilly 1631 oder das Erdbeben von Lissabon 1755) wecken sprunghaft die Nachfrage nach (illustrierter) Berichterstattung. Das Zeitalter der Aufklärung vermittelt im Rückblick den Eindruck einer durchgängigen grenzüberschreitenden Diskussion in Europa und Nordamerika, die in die Erklärung der Menschenrechte sowie in die parallelen Revolutionen in den Neu-Englandstaaten und Frankreich (Französische Revolution) mündet.

4. Aufklärung: Öffentlichkeit als Voraussetzung des Staates

Die Vernunftaufklärung des 18. Jh. versteht die Welt als ein sich dem menschlichen Verstehen darbietende Ö., an der man durch Aufmerksamkeit und Mitteilung, durch Erkenntnis und eigene Tätigkeiten partizipiert. Darin tritt das zunehmende Selbstbewusstsein des Einzelnen, aber auch das durch die Leistungen des Wissens und der Technik verstärkte Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des menschlichen Handelns insgesamt hervor. Die Konjunktur der Berichte von Reisen in ferne Länder fördert das sich in Europa bildende Bewusstsein, als „Weltbürger“ Anteil an einer „Weltgeschichte“ zu haben, der, modern gesprochen, eine „Welt-Ö.“ entspricht.

Dass im letzten Drittel des 18. Jh. die Forderung nach der Wahrung von „Menschenrechten“ aufkommen kann, ist ohne die Verzahnung weitreichender kognitiver, kommunikativer, juridischer, kultureller und politischer Erwartungen gar nicht zu erklären. Die Philosophie stellt sich wie von selbst auf diese Perspektive ein, nachdem sie seit mehr als 200 Jahren an der natur- und völkerrechtlichen Debatte über den allgemeinen Zugang zu den Meeren teilgenommen und sich inzwischen zum Anwalt der gleichermaßen religiös, humanistisch und szientifisch fundierten Rede von der alle Menschen umfassenden Aufklärung gemacht hatte.

Immanuel Kant belegt das seit seinen ersten Schriften. Als junger Gelehrter erklärt er, wie man das Beben in Lissabon zu verstehen hat und welche städtebaulichen Maßnahmen die Schäden hätten verringern können. 11 Jahre später warnt er sein Publikum davor, einem in ganz Europa Aufsehen erregenden Hellseher Glauben zu schenken. Seit 1781 tritt I. Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ mit dem Anspruch hervor, „kritisch“ und „öffentlich“ zu denken und deklariert sein Zeitalter zwar nicht als schon „aufgeklärt“, aber als das einer „Aufklärung“ (Kant 1912: 40), in der jeder den „Mut“ aufbringen soll, sich öffentlich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant 1912: 35).

Darauf gründet er sowohl seine Erkenntnistheorie wie auch seine Moral- und Rechtsphilosophie. Selbst seine Ästhetik basiert auf dem öffentlichen Urteil, das ein Mensch angesichts des Schönen in Natur und Kunst seinen Mitmenschen „ansinnt“ (Kant 1908: 264), d. h. zur kritischen Selbstprüfung anbietet. Aus dem christlichen Glauben leitet I. Kant die Selbstverpflichtung ab, den Freiraum zwischen den rechtlich geforderten Verbindlichkeiten des Staates und der privaten Zuständigkeit für das eigene Dasein durch die freiwillige Übernahme unerlässlicher sozialer Aufgaben wohltätig zu füllen. So gelangt I. Kant zu einer liberalen Theorie (Liberalismus) eines soziale Leistungen erbringenden bürgerlichen Gemeinwesens, in dem, auch weil die Kirchen darin ihre Aufgabe haben, in jeder Hinsicht „frei und öffentlich“ geurteilt wird (Kant 1912: 369).

Eine weitere Innovation seiner Theorie besteht darin, die Handlungs- und Geltungsbedingungen des einzelnen Staates hin zu einer föderalen Gemeinschaft, ja, zu einer Weltrepublik zu überschreiten, deren „transzendentales Prinzip“ die Ö. ist: Die „eigentliche Aufgabe der Politik“ kann „nur durch die Publicität“ erreicht werden; denn erst mit der „Entfernung allen Mißtrauens“ gegen die Ö. ist die „Vereinigung der Zwecke Aller möglich“ (Kant 1912: 386). Damit ist es die Ö., die einen Staat möglich macht.

5. Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill

Der Aufweis der fundierten Rolle der Ö. für Wissenschaft, Moral, Kunst, Religion, Recht und Politik durch I. Kant bringt ihr zunächst nur geringe philosophische Aufmerksamkeit. Erst die Staatstheoretiker des Vormärz wissen sie zu schätzen, und in der Jurisprudenz trägt man ihrer das „öffentliche Recht“ von innen her ermöglichenden Stellung Rechnung. Die Zensur ist zwar weitgehend abgebaut, und das Prinzip öffentlicher Prüfung findet in der Verwaltung wie auch in nachgeordneten Behörden zunehmend politische Anerkennung. Aber das allgemeine Urteil über die politische Leistung der Ö. ist längst nicht so eindeutig positiv wie bei I. Kant. Die ambivalenten Erfahrungen in den Jahren der Revolution in Paris und angesichts der enttäuschten Begeisterung für Napoleon wirken nach. Zwar zeigt der faktische und der taktische Einsatz des Publikationswesens selbst bei erklärten Revolutionären, dass niemand auf Ö. verzichten möchte. Aber das „Prinzip“ der Ö. steht bei vielen Aktivisten so wenig in Ansehen wie das Menschenrecht.

Zwei Publikationen geben zwischen 1835 und 1861 der Urteilsbildung über die Ö. neue Impulse: Erstens A. de Tocquevilles zweibändiges Werk „De la démocratie en Amérique“ (1835/40), das den immer noch negativ bewerteten Begriff der Demokratie rehabilitiert und in Europa zu einer Wende im politischen Urteil über die Vereinigten Staaten führt. Noch die Väter der amerikanischen Verfassung hatten den Begriff vermieden. A. de Tocquevilles nüchternes und kritisches Urteil über die „öffentlichen Institutionen“ und ihre Rückwirkungen auf die „öffentlichen Sitten“ mündet in dem „Glauben“, dass die „demokratischen Nationen in Ehre und Wohlstand leben können, wenn sie nur wollen“ (Tocqueville 1840: 486).

Die eigenständige Presse sei „im wahrsten Sinne das demokratische Werkzeug der Freiheit“ (Tocqueville 1840: 473) und wirke als ausgleichende Stimme neben der Gerichtsbarkeit, obgleich ihn der rüde Ton in den Zeitungen irritierte. Zweitens J. S. Mills 1861 erschienene „Considerations on Representative Government“. In diesem Grundbuch der parlamentarischen Demokratie geht J. S. Mill von seiner auf die Individualität gegründete Theorie der Freiheit aus, begründet das allgemeine Wahlrecht unter Einschluss der Frauen, verwirft die Sklaverei, verteidigt das Prinzip der Repräsentation und rechtfertigt die Eigenständigkeit der freien Presse, die in allen wesentlichen politischen Fragen für Aufklärung sorgen kann. Aber er warnt vor ihrer Übermacht, sieht Gefahren für die Meinungsbildung der einzelnen Bürger und erkennt den schädlichen Einfluss ökonomischer Interessen. Dieser habe in den Vereinigten Staaten bereits zum „Verlust der republikanischen Tugenden“ und zu einer „Krisis“ der Demokratie mit einer „mehr und mehr verödenden amerikanischen Massenherrschaft“ geführt (Mill 1861: 18 f.). Die Befürchtung A. de Tocquevilles hat sich erfüllt. J. S. Mill schlägt das Thema an, das die Debatte über die Ö. des 21. Jh. sowohl in den USA wie auch in Europa beherrscht.

6. Kritik und Fortentwicklung

Aus der Kritik an der Medien-Ö. entsteht im Lauf des letzten Jahrhunderts die Publizistik. Am Anfang stehen grundsätzliche Einwände, die später kaum noch Beachtung finden. So hat Walter Lippmann bezweifelt, ob es überhaupt sinnvoll ist, in der Ö. Kriterien für das politische Handeln zu suchen. Er geht bis auf Platons Höhlengleichnis zurück, um zu demonstrieren, dass es die Ö. gar nicht gibt. Sie könne weder als Organ noch als verlässliches Indiz für die Meinung einer Menge angesehen werden. Vielmehr sei sie, wie die Schatten an der Höhlenwand, nichts als eine Täuschung, an die Menschen zu glauben genötigt sind. W. Lippmann sieht schon in der Annahme, die Ö. könne eine sachliche Bedeutung haben, einen Irrtum. Sie sei in sich viel zu disparat, um auch nur als einheitliches Phänomen begriffen zu werden. Vielmehr sei sie ein heterogenes Gebilde im „Dreieck“ zwischen der „Szene“ der Handlung, dem „Bild“ des Menschen von sich selbst und der niemals eindeutigen „Antwort“ auf beides. Folglich sei sie auch nicht als „Organ“ zu verstehen, mit dem sich ein Volk als Ganzes artikuliert. Also könne sie auch der Politik nicht als Korrektiv oder Kompass dienen. Wenig später verstärkt er seine Kritik an der politischen Aussagekraft der öffentlichen Meinung, die er zu einem „Phantom“ erklärt (Lippmann 1925). In diese Deutung gehen Beobachtungen des Aufstiegs Benito Mussolinis in Italien ein. Hellsichtig nimmt W. Lippmann ein Urteil vorweg, das wenige Jahre danach durch Adolf Hitlers Machtergreifung bestätigt wird. Er vewirft nicht die Demokratie als solche, sondern warnt primär vor einer Überschätzung der Ö. Sie kann in seinen Augen nicht die Instanz sein, die der Politik vernünftige Ziele setzt, hinter denen ein Volk seine Einheit findet. Derartiges sei nichts als „Mystik“ (Lippmann 1925: 147).

John Dewey teilt diese Bedenken gegen die Vorherrschaft der Zeitungsmacht und warnt vor leichtfertigem Vertrauen in sie. Doch seine 1927 in „The public and its problems“ gegen W. Lippmann vorgebrachte Kritik hebt dessen philosophische Deutung aus den Angeln. Dem Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Ö. liege ein individualistisches Missverständnis des Bewusstseins zugrunde. W. Lippmann hänge noch dem Irrtum des neuzeitlichen Skeptizismus an, das Bewusstsein als subjektives Organ der jeweiligen Person zu begreifen. Bewusstsein sei jedoch primär ein Bewusstsein von Gegenständen, die den Menschen in ihrer sie verbindenden Zugehörigkeit zur Welt und zur Gesellschaft – durchaus gemeinsam – vor Augen stehen. Verstehe man das Bewusstsein als die Fähigkeit eines die Menschen verbindenden Bezugs auf Gegenstände der Erfahrung, sei es auch möglich, zu Gemeinsamkeiten im politischen Urteil zu gelangen. Gerade das Bewusstsein ermögliche den Menschen ein in den Sachverhalten wie auch in den Zielen übereinstimmendes Handeln. Damit begründe es die Politik, die somit gute Gründe habe, sich in ihrem Urteil auf die öffentliche Meinung zu stützen. Überdies komme der Ö. eine unersetzliche kritische Aufgabe zur Korrektur politischen Handelns zu, wenn es um die Abwehr von drohenden Gefahren durch die Übermacht des Staates gehe.

J. Deweys Auffassung ist erst 2012 in eine Theorie der Ö. eingegangen. Bewusstsein wird hier nicht nur an die Erkenntnis von Gegenständen, sondern zugleich an die Funktion der Mitteilung von Meinung und Wissen gebunden. So kann das Bewusstsein selbst als das Organ angesehen werden, mit dessen Hilfe sich der einzelne Mensch den öffentlichen Raum erschließt. Hier also ist die Ö. des Bewusstseins mit dem sozialen Zugang zu einer Welt verbunden, in der sich technisch, moralisch und politisch handeln lässt.

7. Öffentlichkeit im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs

In dieser Grundsätzlichkeit wurde in der Philosophie des 20. Jh., zumindest in Deutschland, nicht über Ö. gesprochen. Zu sehr war man damit befasst, die verbreiteten, vermeintlich konservativen Zweifel an ihrer Bedeutung auszuräumen. Helmuth Plessner hat sich schon zu Beginn der zwanziger Jahre als einer der liberalen Anwälte der Ö. hervorgetan. Martin Heidegger hingegen hat sie grundsätzlich als bloßes „Gerede“ (Heidegger 1927: 167) disqualifiziert. Nach dem Krieg widersprach ihm Hannah Arendt im Verein mit Karl Jaspers.

Die interessantesten historisch-philosophischen Einsichten steuerte Karl Raimund Popper mit seinem im Exil geschriebenen Plädoyer für die „offene Gesellschaft“ bei (Popper 1957/58). Erst mit der Rezeption des Werkes von John Rawls entstanden in der deutschen Philosophie wieder Beiträge zur grundlegenden politischen Funktion der Ö. Die innere Verbindung zwischen Bewusstsein und Ö., die schon von I. Kant unterstellt und von J. Dewey zum Thema erhoben wird, kam gleichwohl lange Zeit nicht mehr zur Sprache.

Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften und die später hinzukommende Publizistik hatten es insofern leichter, als sie sich auf gesellschaftliche Prozesse der Meinungsbildung beschränken konnten, zumal die grundsätzlichen Zweifel W. Lippmanns nicht mehr erhoben wurden. Aus der Fülle der Literatur sind die große soziologische Studie von Ferdinand Tönnies, die verfassungspolitische Einbindung der Ö. durch Hans Kelsen und die umfassende Untersuchung von Gerhard Leibholz über das Wesen der Repräsentation hervorzuheben. Die neueren soziologischen Einsichten finden sich bei Friedhelm Neidhardt und Jürgen Gerhards im systematisierenden Überblick.

Die 1962 veröffentlichte politikwissenschaftliche Habilitationsschrift von Jürgen Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschrieb die Veränderungen in den drei Jahrhunderten zwischen 1650 und 1950 und veranschaulichte wesentliche Wandlungsprozesse der bürgerlichen Ö. Doch ihre Diagnose über den Funktionsverlust des Öffentlichen bestätigte sich nicht: Durch seine kritische öffentliche Präsenz hat J. Habermas selbst dazu beigetragen, dass die Ö. lebendig und wirksam geblieben ist.

Die digitalen Medien bewirken einen Strukturwandel ganz anderer Art. Die Ö. des World Wide Web, in der sich jeder Nutzer mit einem Klick augenblicklich selbst bewegt, setzt alles außer Kraft, was bislang über die aktive Teilnahme an einer medialen Kommunikation (Medien) galt. Die lange bezweifelte strukturelle Gemeinsamkeit zwischen Ö. und Bewusstsein hat inzwischen den Rang eines Faktums im technisch gesteuerten Prozess. Dadurch ist die konstitutive Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre selbst in Gefahr, verloren zu gehen.

Mit ihr verlören auch Moral, Recht und Politik ihren Sinn. Deshalb kommt alles darauf an, die Differenz zwischen dem persönlichen und dem politischen Leben aufrechtzuerhalten. Solange die Individuen selbst an der Wahrung dieses Unterschieds interessiert sind, müsste es dem Recht in einer demokratischen Ordnung möglich sein, ihn weiterhin verbindlich zu machen.

II. Soziologie

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Der Begriff der Ö. entsteht im 18. Jh. und bezeichnet ein im Zuge der Aufklärung sich ausbildendes soziales Ordnungsprinzip. Der Begriff der Ö. schließt an zuvor vorhandene adverbiale/adjektivische Verwendungen an, in denen „öffentlich“ als allgemeine Zugänglichkeit verstanden und von „geheim“ oder „privat“ unterschieden wurde. Über das Lateinische publicus gewann der Begriff eine politische Dimension (= alle oder das Gemeinwohl betreffend). Ideengeschichtlich führte dies – insb. über Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant – zur Vorstellung, dass die Ö. gemeinsame Willensbildung und politische Vernunft bestätigende oder gar begründende Funktion übernimmt oder übernehmen sollte.

Ö. steht demnach für eine Reihe von Phänomenen, mit denen sich auch die Soziologie befasst:

a) Ö. als das allen Zugängliche und Sichtbare.

b) Ö. als Publikum, das sich zunächst noch sozialstrukturell eingrenzen lässt (Gelehrte, bürgerliche Gesellschaft), dann aber immer mehr zu einem Begriff wird, der prinzipiell alle denkbaren Adressaten meint.

c) Ö. als Medium und Strukturmoment des politischen Systems sowie

d) Ö. als politische Vernünftigkeit gewährleistende Instanz.

Die erste Bedeutungskomponente spielt in der Soziologie eine eher nachrangige Rolle, wurde aber insb. von Erving Goffman bearbeitet. Dieser beschäftigte sich mit dem öffentlichen Charakter von face-to-face-Interaktionen und mit Verhaltensweisen in einem sich zusehends anonym gestaltenden öffentlichen Raum. Die zweite Bedeutungskomponente betrifft insb. Arbeiten zur Formierung und zum Wandel eines (politischen) Publikums. Einschlägig ist hier insb. Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas 1991). Im Übergang vom 17. zum 18. Jh. entstehe in Europa (in Kaffeehäusern, Salons und Gelehrtentreffen) eine bürgerliche Ö. Diese trage gemeinsam private Interessen in den öffentlichen Raum. Ö. meine daher eine „öffentlich relevant gewordene Privatsphäre der Gesellschaft“ (Habermas 1991: 76). Die bürgerliche Gesellschaft, obgleich noch exklusiv, vertrete dabei ein Grundprinzip der Demokratie, nämlich die gleichberechtigte Erwägung von Themen und Urteilen. Hierin sieht J. Habermas auch in seiner normativen Theorie den Ort einer auf Konsens zielenden und herrschaftsbegründenden kommunikativen Vernunft (u. a. im Anschluss an Hannah Arendt und John Dewey). J. Habermas zeichnet freilich ein düsteres Bild der Transformation dieser bürgerlichen Ö. am Ende des 19. Jh. Sie werde kommerzialisiert und entpolitisiert. Soziologische Arbeiten zum Publikum beschäftigen sich neben solchen zur „Masse“ häufig mit der „öffentlichen Meinung“, was die Soziologie an dieser Stelle eng mit der Meinungsforschung (Demoskopie) verbindet. Forschungen zum dritten Bedeutungsaspekt beziehen sich auf die Struktur und Infrastruktur öffentlichkeitswirksamer Medien (wie Buchdruck, Zeitungswesen, elektronische Medien und neuerdings internetbasierte Kommunikationsformen [ Internet ]), auf die politischen Implikationen dieser Medien (Mediendemokratie, Postdemokratie) sowie auf die Frage nach transnationalen oder globalen Ö.en und sozialen Bewegungen. Ö. ist schließlich ein deskriptiv-normatives Gebilde, weil es zur Selbstbeschreibung der Ö. gehört, in besonderer Weise der Legitimitätsgrund politischer Herrschaft zu sein. Als empirische Disziplin interessiert sich die Soziologie weniger für die normative Begründung dieses Anspruchs, fragt aber danach, in welchem Maße bestehende Ö.en und entsprechende zivilgesellschaftliche Institutionen (Zivilgesellschaft) dem Idealbild einer inklusiven und vernünftigen Abwägung sowie einer auf weitere Demokratisierung und Integration der Gesamtgesellschaft abzielenden Agenda tatsächlich entsprechen.