Zivilgesellschaft

Der Begriff Z. ist heute verbreiteter als je zuvor, sowohl in der Theorie als auch in der politischen Praxis. Entstanden und ausgeformt im europäischen Denken des 18. und 19. Jh. hat er längst den alten Kontinent verlassen und ist zu einem global verwendeten Konzept geworden. Die jüngste Renaissance des Begriffs der Z. fällt zeitlich und ursächlich mit der Endzeit des Kommunismus in Europa zusammen: Den osteuropäischen Dissidenten erschien die Z. schlicht als freiheitliches Gegenbild zur leninistischen Tyrannei. Es drückte ein ideales Programm zur Entwicklung „unabhängiger Formen des sozialen Lebens von unten aus, die frei sein sollten von staatlicher Bevormundung“ (Taylor 1993a: 118). Seitdem ist „die“ Z. unter östlichen Dissidenten und westlichen Postmarxisten ebenso zu einem zentralen Konzept für die Weiterentwicklung der Demokratie aufgestiegen, wie sie dies in der liberalen Tradition (Liberalismus) stets gewesen war.

Was aber ist unter dem Begriff der Z. konkret zu verstehen? Er wurde stets unterschiedlich ausgedeutet und theoretisch untermauert. Eine allgemeine Definition lautet so: Die Z. existiert in einer vor- oder nichtstaatlichen Handlungssphäre und besteht aus einer Vielzahl pluraler, auf freiwilliger Basis gegründeter Assoziationen, die ihre materiellen und normativen Interessen artikulieren und autonom organisieren. Sie ist im Zwischenbereich von Privatsphäre und Staat angesiedelt; doch ihre Zielsetzungen betreffen immer auch die res publica. Akteure der Z. (z. B. Bürgerinitiativen und die Beteiligten an Runden Tischen) sind in die Politik involviert, ohne jedoch nach staatlichen Ämtern zu streben. Entspr. sind Gruppen, die ausschließlich private Ziele verfolgen (Familien, Unternehmen etc.) ebenso wenig Teil der Z. wie politische Parteien, Parlamente oder staatliche Verwaltungen. Die Z. ist auch kein unitarischer „Akteur“, sondern ein pluralistisches Sammelbecken höchst unterschiedlicher Akteure, die allerdings einen normativen Minimalkonsens teilen. Dieser beruht im Kern auf der Anerkennung des Anderen (Toleranz). Ausgeschlossen ist die Anwendung physischer Gewalt. Dieser zivile Konsens bildet das genuin zivilgesellschaftliche Ferment, das sich auf individueller Ebene in der Ausbildung eines Bürgersinns wiederfindet.

Obwohl diese Definition in normativer Hinsicht nicht annähernd so voraussetzungsvoll ist wie die Z.s-Konzepte im Umkreis der Kritischen Theorie, ist sie doch auf einen normativen Kern verpflichtet: die Gewaltfreiheit. In freien Gesellschaften lassen sich gewalttätige Aktionen gegen Personen nicht als zivil verstehen. D. h. allerdings nicht, dass Gewalt in politischen Handlungen a priori immer illegitim ist; etwa lassen sich für den Tyrannenmord in der politischen Philosophie seit der Antike gute Gründe finden. Doch wie legitim auch immer in bestimmten Situationen politischer Unterdrückung: Gewaltanwendung gegenüber Personen ist – auch wenn diese Aussage in der Z.s-Forschung durchaus bestritten wird – nicht mehr der zivilgesellschaftlichen Sphäre zuzurechnen. Dort aber, wo die Z. normativ unbestimmt konzipiert wird, werden gesellschaftliche Gruppen, die Gewalt anwenden, als die „dunkle Seite“ der Z. bezeichnet.

Die Überzeugung, dass eine entwickelte Z. zur Stärkung der Demokratie beiträgt, besitzt eine lange Tradition. Sie stützt sich auf gewichtige Argumente, die in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit etwa von John Locke über Charles de Montesquieu und Alexis de Tocqueville bis hin zu Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas entwickelt wurden. Die fünf wichtigsten Kernargumente werden im Folgenden skizziert.

1. Schutz vor staatlicher Willkür: John Locke

In der auf J. Locke zurückgehenden liberalen Tradition wird v. a. der Wert einer unabhängigen gesellschaftlichen Sphäre gegenüber dem Staat betont. Dieser vor- bzw. unpolitische Bereich kann im günstigsten Falle unter dem Schutz der staatlichen Autorität, keinesfalls aber unter deren Leitung stehen. Als zentrale Aufgabe der civil society werden aus dieser Perspektive der Autonomieschutz des Individuums (Autonomie), die Entfaltung seiner natürlichen Rechte sowie die Sicherung seines Eigentums thematisiert. Der Z. wird deshalb v. a. eine negative Freiheitsfunktion zugewiesen, d. h. der Schutz individueller Freiheit vor staatlichen Übergriffen. Man könnte dies als die „Lockesche Funktion der Z.“ oder die conditio sine qua non aller liberalen Demokratien betrachten. Dieser Gedanke wird später bei Thomas Paine radikalisiert, der neben einer starken Z. nur noch einem Minimalstaat Legitimität zubilligt.

2. Die Balance zwischen Staat und Gesellschaft: Charles de Montesquieu

C. de Montesquieu löst den scharfen Kontrast zwischen Staat und Gesellschaft auf. In seinem komplexen Modell der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung thematisiert er das Gleichgewicht einer zentralen politischen Autorität und eines gesellschaftlichen Netzwerkes von „corps intermédiaires“. Diese „corps intermédiaires“ sind „amphibische“ Körperschaften, die sowohl in als auch außerhalb der politischen Struktur „ein Leben“ besitzen und damit die gesellschaftliche und staatliche Sphäre miteinander verbinden. Denn um die Freiheit zu sichern, muss eine mächtige Zentralautorität durch Gesetz eingehegt (s. auch Immanuel Kant), mit einer großen Anzahl von Assoziationen verzahnt und auf diese Weise begrenzt sowie kontrolliert werden.

3. Schule der Demokratie: Alexis de Tocqueville

A. de Tocqueville arbeitet die Vorstellung von „freien Assoziationen“ als den wichtigsten Garanten eines freien Gemeinwesens weiter aus. Für ihn sind zivilgesellschaftliche Vereinigungen jene „Schulen der Demokratie“, in denen demokratisches Denken und ziviles Verhalten durch alltägliche Praxis eingeübt werden. Damit aber die Assoziationen der Bürger tatsächlich Orte der Selbstregierung sein können, dürfen sie nicht übermäßig groß, müssen aber zahlreich sein. Solche zivilen Vereinigungen dienen der Wertebildung und -verankerung von Bürgertugenden wie der Toleranz, der wechselseitigen Akzeptanz, der Zuverlässigkeit, des Vertrauens sowie der Zivilcourage. Damit akkumulieren sie Sozialkapital, ohne das, wie der amerikanische Demokratieforscher Robert Putnam 150 Jahre später formulieren sollte, Demokratien weder entstehen noch längerfristig sich konsolidieren können. In der Tocqueville’schen Perspektive stellt die Z. der Demokratie ein großes normatives und partizipatorisches Potenzial (Partizipation) zur Verfügung, das dem Schutz der Freiheit gegenüber den autoritären Versuchungen des Staates dient und den tyrannischen Ambitionen gesellschaftlicher Mehrheiten interne Schranken setzt.

4. Die Gesellschaft aktiver Bürger: Ralf Dahrendorf

An diese Traditionslinie knüpft v. a. R. Dahrendorfs Konzept der Bürgergesellschaft an. Die Bürgergesellschaft ist „eine Welt, die dem einzelnen Lebenschancen offeriert, ohne dass der Staat eine Rolle spielen muss“ (Dahrendorf 1992: 80). Allerdings ist die Bürgergesellschaft eine aktive Gesellschaft, die zum Tun herausfordert: „Etwas tun heißt, selbst etwas tun, in freier Assoziation mit anderen. Es führt zur bunten Welt der freiwilligen Verbände und Organisationen, dann auch zu den autonomen Institutionen. Es führt also zur Bürgergesellschaft. Sie ist das Medium des Lebens mit Sinn und Bedeutung der erfüllten Freiheit“ (Dahrendorf 1994: 495).

5. Öffentlichkeit und Kritik: Jürgen Habermas

Noch einen Schritt über A. de Tocqueville und R. Dahrendorf hinaus gehen die von der Kritischen Theorie beeinflussten Konzepte der Z. Die Z., so lautet deren Argument, erweitert den Bereich der Interessenartikulation und Interessenaggregation durch den Aufbau einer „vorinstitutionellen“ pluralistischen Interessenvermittlung (Pluralismus). Insb. benachteiligte und schwer organisierbare Interessen erhalten hier Möglichkeiten eines öffentlichen Raumes (Öffentlichkeit). Von diesem aus sollen die Agenden der Politik beeinflusst werden, also durch eigenbestimmte Partizipationsformen auch jenseits der etablierten Strukturen und Organisationen des politischen Systems. Jede wahrhaft demokratisch verfasste Meinungs- und Willensbildung in Verbänden, Parteien und Parlamenten ist nämlich auf die „Zufuhr von informellen öffentlichen Meinungen angewiesen“, wie sie sich nur außerhalb der Strukturen auch einer „nicht vermachteten politischen Öffentlichkeit bilden“ (Habermas 1992: 374) können. Das Konzept der Z. von J. Habermas ist außerordentlich voraussetzungsvoll. Es schließt nicht nur staatliche Institutionen und politische Parteien, sondern auch ökonomische Interessengruppen aus.

6. Die Demokratisierungspotenziale der Zivilgesellschaft

Diese fünf Funktionen der Z. schützen das Individuum vor staatlicher Willkür (J. Locke), stützen die Herrschaft des Gesetzes und die Balance der Gewalten (C. de Montesquieu), schulen die Bürger und rekrutieren politische Eliten (A. de Tocqueville), kreieren eine aktive Bürgergesellschaft (R. Dahrendorf) und institutionalisieren mit dem öffentlichen Raum ein Medium demokratischer Selbstreflexion (J. Habermas). Indem die Z. diese Funktionen erfüllt, erzeugt und ermöglicht sie Machtkontrolle, Verantwortlichkeit, gesellschaftliche Inklusion (Inklusion, Exklusion), Toleranz, Fairness, Vertrauen, Kooperation und nicht selten auch Effizienz bei der Umsetzung akzeptierter politischer Programme. Damit leistet sie nicht nur einen Beitrag zur Demokratisierung, Pazifizierung und Selbstorganisation der Gesellschaft als Formen von Bürgerbeteiligung und bürgerschaftlichem Engegement, sondern vermag auch den Staat besser zu kontrollieren und demokratisieren.

7. Ausblick

In allen fünf Theorietraditionen werden die positiven Funktionen vitaler Z.en für die Demokratie betont. Allerdings lassen sich auch negative Seiten erkennen.

a) Erstens darf der Aspekt der Vermachtung der Z. und die Existenz von Machthierarchien in einer kritischen Durchsicht nicht unterschlagen werden. Denn die Z. ist trotz ihres Kerns der Gewaltfreiheit keine Sphäre herrschaftsfreier gesellschaftlicher Kommunikation und Aktion.

b) Zweitens ist die pluralistische Z. immer auch eine Konfliktgesellschaft (Sozialer Konflikt): In ihr konkurrieren und konfligieren Interessen, Werte und Weltanschauungen, die mit unterschiedlichen Durchsetzungschancen ausgestattet sind und auf differierende Geltungsgründe verweisen können. Etwa sind populistische Bewegungen (Populismus) wie PEGIDA, die weitestgehend ohne direkte Gewaltanwendung auskommen, doch mit fremdenfeindlichen und intoleranten Stereotypen Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten diskriminieren (Diskriminierung), immer noch Teil der Z. und zeigen gleichsam deren „dunkle Seiten“ an.

c) Ein dritter Aspekt betrifft Struktur und Form von Interaktionen innerhalb der Z. Es ist durchaus möglich, dass die jeweiligen Mitgliedschaften und Kommunikationsnetzwerke in zivilgesellschaftlichen Subkulturen entlang bereits bestehender Konfliktlinien ausgerichtet sind und damit Trennlinien und Differenzen weiter verstärken. Dies kann zu wachsender Ignoranz, Abgrenzung und Fremdheit gegenüber den jeweils anderen führen. Im Sinne R. Putnams produzieren solche segmentierten Teilzivilgesellschaften „bonding social capital“ (Putnam 2000: 20; Hervorhebung nicht im Original), also exklusives Sozialkapital für sozial, ethnisch oder weltanschaulich Gleiche, nicht aber Kapital für den Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft. Deshalb hält der Sozialkapitalforscher R. Putnam „bridging social capital“ (Putnam 2000: 20; Hervorhebung nicht im Original), also Sozialkapital, dass Brücken über unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen, Klassen und Weltanschauungen schlägt, als den eigentlichen Integrationskern moderner komplexer Gesellschaften.

„Die“ Z. hat also keineswegs per se positive Wirkungen auf jede Form und Phase der Demokratie. Obwohl Demokratie und Z. einander in vielen Aspekten ergänzen und verstärken, bleiben doch Spannungen bestehen. Gerade der Blick auf die „dunkle Seite der Z.“ schützt dann vor jener Überidealisierung der Z., die sich in Theorie und Praxis während der letzten drei Jahrzehnte ausgebreitet hat.