Interessengruppen

1. Wurzeln und Entwicklung

I., verstanden als frei organisierte und im pluralistischen Wettbewerb (Pluralismus) um die Gestaltung demokratischer Gemeinwesen ringende Organisationen, sind ein Signum der Moderne. Zwar gab es auch vorher schon immer organisierte Interessen, die Politik zu beeinflussen suchten, doch unterlagen sie durchweg einer anderen Logik: In der Ständegesellschaft des Ancien Régime dienten sie in Form von Gilden, Zünften oder Korporationen gerade nicht der autonomen Vertretung spezifischer Belange, sondern bildeten Sammlungsbecken aller Angehöriger bestimmter Berufsstände (Stand). Ihr primärer Zweck bestand infolgedessen darin, diesen Personengruppen ihren Platz in der gesamten Ständeordnung zuzuweisen. Deshalb waren diese Gruppierungen regelmäßig mit einem Repräsentationsmonopol ausgestattet, wie wir es heute noch im deutschen Kammerwesen (Berufskammern) kennen: Nicht verschiedene Standesorganisationen erfüllten diese Funktionen also gleichzeitig und in Konkurrenz zueinander, sondern nur einer einzigen stand dieses Privileg gemäß obrigkeitlicher Autorisierung zu, und alle Standesangehörigen gehörten ihr dann durch Pflichtmitgliedschaft bindend an.

Erst das bürgerliche Zeitalter, eingeläutet durch die soziale Emanzipation des alten Dritten Standes sowie politisch entfaltet durch die sukzessive Parlamentarisierung der monarchischen Obrigkeits- und die Herausbildung moderner Rechtsstaaten, schuf dann die Voraussetzungen für I. im hier verstandenen Sinne. Denn erst jetzt konnte sich ein Spektrum freier und von ständischen Reglementierungen unabhängiger privatrechtlicher Vereine bilden, wofür das moderne bürgerliche Recht bis heute die zentrale Basis darstellt. Diese neuen Möglichkeiten ergriff das sich entwickelnde Bürgertum dann auch konsequent. Dies entsprach sowohl seiner gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung als auch insb. seiner Rolle als dominierender Kraft in der modernen industriellen Marktwirtschaft. Diese bürgerlich geprägten I. wurden daher im 19. Jh. zu den entscheidenden Trägern der Demokratiebewegung, denn sie verliehen nicht nur den im monarchischen Obrigkeitsstaat unzureichend repräsentierten neuen Kräften ein wirksames Sprachrohr, sondern bildeten regelmäßig auch das soziale Fundament der nun entstehenden modernen Parteien: Liberal und christlich geprägte Parteiorganisationen sind ohne eine gewachsene Basis aus bürgerlichen und konfessionellen Vereinen gar nicht denkbar, und auch die mit zeitlichem Abstand entfaltete sozialistische Parteibewegung fand hier ihr gesellschaftliches Korrelat in Form ihr zugehöriger Arbeitervereinigungen. Die damit auch organisatorisch verfestigten liberalen, christlichen und sozialistischen Milieus verliehen den nun Schritt für Schritt entstehenden modernen Demokratien eine neue, nun aber stark von gegenseitiger Konkurrenz geprägte Struktur. Sie traten damit die Erbfolge der überwundenen ständischen Ordnung an, die ja gerade auf dem Prinzip organischer Einheitlichkeit gegründet hatte.

2. Typen und Funktionen

Diese so gewachsene verbandliche Vielfalt lässt sich je nach Erkenntnisinteresse unterschiedlich typisieren: Zum einen unterscheidet I. das jeweilige Handlungsfeld: Wirtschaftsverbänden, wiederum ausdifferenziert in eine Vielzahl spezialisierter Branchenorganisationen, stehen Sozialverbände gegenüber, die nicht nur die Träger der Wohlfahrtspflege repräsentieren, sondern auch eine Vielzahl divergierender Betroffeneninteressen (Patienten, Behinderte, Rentner etc.). Auch das Spektrum der Kulturverbände ist mit Wissenschafts-, Musik- oder Bildungsorganisationen breit gefächert; Gleiches gilt für Freizeitorganisationen und die gerade in den letzten Jahrzehnten boomenden Ökologieverbände. Nicht zuletzt sind auch Vertretungen politischer Akteure (Gebietskörperschaften, Kammern etc.) zu verbuchen.

Gleichsam quer dazu liegt die Unterscheidung nach ihrer Organisationsform: Denn nicht zwingend müssen I. eine formalisierte Struktur besitzen, sondern können auch in Gestalt lockerer und damit variabler Netzwerke in Erscheinung treten. Sind sie fest organisiert, gibt es wiederum Unterschiede: Zum einen können die Gruppierungen über eine formelle Mitgliedschaft der Klientel verfügen; zwingend ist dies jedoch nicht. Zum anderen gibt es auch bei den Mitgliedern selbst Unterschiede: Klassische Mitgliedsverbände bestehen im Regelfall aus natürlichen Personen, bei wirtschaftlichen Branchenverbänden jedoch in Gestalt der Unternehmen häufig auch aus juristischen. Spitzen- bzw. Dachverbände schließlich sind dann im Regelfall nicht mehr aus Einzelpersonen zusammengesetzt, sondern fassen als „Verbände der Verbände“ zusammengehörige Branchenorganisationen zusammen. Gerade sie geraten damit organisatorisch bes. komplex und schwer steuerbar.

Die zentrale Bedeutung, die I. für die Effektivität moderner Demokratien besitzen, wird v. a. an ihrem umfangreichen Funktionsspektrum deutlich. Die Aufgaben der Interessenartikulation und der politischen Integration liegen dabei schon begrifflich bes. nahe und bilden in der Praxis einen engen Verbund: Durch die Definition und die lobbyistische Vertretung (Lobby) spezifischer Belange sorgen Vereinigungen dafür, dass diese im politischen Willensbildungsprozess nicht übergangen werden. Für die Bindung der einzelnen Interessenspektren an den demokratischen Staat ist das naturgemäß von zentraler Bedeutung.

Dabei haben sich typische Muster herausgebildet, die den generellen Ablauf des politischen Verfahrens reflektieren: Regelmäßig ist die Ministerialbürokratie für derlei Einflussnahmen die wichtigste Anlaufstelle, werden doch dort die meisten Gesetzentwürfe erstellt, und in diesem Entwurfsstadium verspricht verbandliche Einflussnahme den größten Erfolg. Sinngemäß gilt dies auch für die nachherige Anwendung derartiger Normen. Denn auch dort sind die Behörden federführend und auch hier ist es für I. wichtig, die regelmäßig Spielräume lassende Anwendungspraxis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Den parlamentarischen Entscheidungsgang dürfen I. demgegenüber zwar nicht vernachlässigen. Doch dort ist in erster Linie der Ort punktueller Nachkorrekturen, bzw. bei Anhörungen das Podium für öffentlichen Schlagabtausch mit Konkurrenten.

Schon weniger deutlich sichtbar, aber gerade für die I. selbst oft sehr schwierig, ist das Funktionsbündel von Interessenaggregation und -selektion. Regelmäßig stehen sie vor der Herausforderung, divergierende Interessen ihrer Einzelmitglieder erst einmal zu katalogisieren und dann zu einer einheitlichen Verbandsposition zu verdichten. Ohne Reibungsverluste und heftige interne Kontroversen geht das nicht ab, die häufig zu Austritten unterlegener Mitglieder und punktuell sogar zu Verbandsspaltungen führen können. Bes. Dachverbände nach dem Muster der BDA müssen immer wieder Zerreißproben meistern. Gleichwohl ist diese schwierige Aufgabe für die Funktionsfähigkeit moderner Demokratien unabdingbar. Denn nur so kann es gelingen, den politischen Entscheidern ein überschaubares, weil verbandlich „vorsortiertes“ Set an Optionen zu präsentieren, das mit vernünftigem Aufwand bearbeitbar ist.

Drittens, und in der öffentlichen Wahrnehmung am wenigsten gewürdigt, ist auf die Funktion der Selbstregulierung hinzuweisen, mit der I. auch zu einer wirkungsvollen Aufgabenentlastung des Staates beitragen. Hier geht es darum, dass die öffentliche Hand eigentlich ihr zukommende Funktionen an Verbände delegiert, die diese dann treuhänderisch wahrnehmen und dafür oft auch finanziell alimentiert werden – für viele I. im Übrigen eine sehr wichtige Einkommensquelle! Derart privilegierte Verbände treten damit in ein bes. Vertrauens- und auch Austauschverhältnis zum Staat, für das sich die Bezeichnung Korporatismus eingebürgert hat. In Deutschland etwa ist die eigenverantwortliche Regulierung der Arbeitsbeziehungen durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie das prominenteste Beispiel.

3. Wandel und Herausforderungen

Mit diesem vielfältigen Funktionsspektrum haben organisierte Interessen die Entwicklung moderner Demokratien maßgeblich mitgestaltet. Zugleich wurden sie aber auch selbst zum Gegenstand von Wandlungsprozessen, die ihr Profil gerade in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verändert haben. Zum einen finden hier verschiedene Dimensionen gesamtgesellschaftlicher Modernisierung ihren Niederschlag: Mit der Herausbildung von Dienstleistungsökonomien bei gleichzeitigem Bedeutungsschwund des primären und des sekundären Wirtschaftssektors nehmen auch die dem tertiären Sektor verpflichteten I. massiv an Bedeutung zu, während die Verbände der anderen beiden Sektoren an Gewicht verlieren. Auch der in Form wachsender Individualisierung und zunehmenden Risikobewusstseins fassbare soziale Wandel schlägt sich in der Entstehung einer Vielzahl neuer Selbsthilfe- und Protestbewegungen nieder, die gerade den bislang unterrepräsentierten Schwachen ein Artikulationsorgan verschaffen. Die eng damit verbundene politisch-kulturelle Modernisierung hin zu einer ausgeprägt partizipativen Bürgerkultur (Politische Kultur) trug zu diesem Prozess ebenfalls maßgeblich bei und induzierte zudem ein neues Spektrum an locker gefügten Bürgerbewegungen (Zivilgesellschaft). Kulturelle Wandlungsprozesse hin zu einer datengesättigten Wissensgesellschaft schlagen sich dann auch noch in der Entstehung einer Vielzahl von Wissenschafts- und Kulturvereinigungen nieder, wie auch das Spektrum moderner Umweltverbände nur auf Basis des in den letzten Jahrzehnten gewachsenen ökologischen Bewusstseins denkbar ist.

Parallel zur Änderung dieser gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterlagen I. auch etlichen organisatorischen Entwicklungsmustern. Zum einen zog die zunehmende Internationalisierung der Politik auch einen strukturellen Wandel der Verbände nach sich: Je mehr politische Entscheidungen im europäischen Mehrebenensystem (Mehr-Ebenen-Regieren) in Brüssel getroffen und anschließend in den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden, desto mehr müssen sich die I. selbst zu einer mehrgliedrigen Organisation aus europäischem Dachverband, nationalen und auch subnationalen Teilverbänden wandeln, um den komplexen europäischen Willensbildungsprozess auf allen Ebenen gleichzeitig professionell begleiten zu können. Sinngemäß gilt dies auch für die globale Ebene, wovon das rapide Wachstum weltweit operierender NGOs zeugt.

Zudem setzen die beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse die einzelnen I. auch organisationsintern stark unter Druck: Denn mit der sozialen Individualisierung geht regelmäßig auch ein Schwund verbandlicher Organisationsbereitschaft einher: Weniger denn je wollen sich Bürger dauerhaft und langfristig durch formelle Mitgliedschaften an I. binden; lockere Netzwerke und kurzfristig variierende Zugehörigkeiten liegen demgegenüber im Trend. Verbände haben darauf entweder durch Mitgliedschaften mit reduzierten Verpflichtungen reagiert, oder sie verzichten von vornherein auf sie und organisieren sich stattdessen als „politische Unternehmen“ mit einer kleinen Stabsorganisation hauptamtlicher Funktionäre, die eine Klientel locker assoziierter Fördermitglieder v. a. durch regelmäßige Spendenaufrufe an sich binden. Organisationsmindernd macht sich schließlich noch der Boom kommerzieller Interessenvertreter bemerkbar, die von Klienten jeweils von Fall zu Fall und projektorientiert engagiert werden können, ohne dafür einem Verband dauerhaft verpflichtet zu sein.

Diese vielfältigen Wandlungsprozesse sollten aber nicht in erster Linie als Problem, sondern als Beleg für die Anpassungsfähigkeit organisierter Interessen verstanden werden. Denn nur wenn das System der I. ein gutes Abbild der gesamtgesellschaftlichen Realität darstellt und sie nicht verzerrt repräsentiert, bleiben Demokratien langfristig lern- und zukunftsfähig. So gesehen gibt diese Gesamtdiagnose Anlass zu begründetem Optimismus.