Pluralismus

1. Grundlagen

Politische und gesellschaftliche Pluralität ist offensichtlich conditio sine qua non einer Freiheit, die im Selbstentfaltungsrecht des Individuums wurzelt. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem reicht bis in die bittere Erfahrung der Religions- und Glaubenskriege zurück, die zugunsten des Herrschaftsanspruchs hochaufgeladener Wahrheitsprogramme diese Grundlagen menschenwürdiger Existenz zerstörten. Daher ist der Verfassungsstaat der Neuzeit weltanschaulich neutral, aber nicht Wertneutral. Er ist gebunden an jenen humanitären Grundkonsens, den seine Vorläufer wie auch seine ideologischen Wahrheitsansprüchen verhafteten totalitären Widersacher im 20. Jh. destruiert hatten.

P. kennzeichnet daher moderne, von der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen präformierte Gesellschaften, die ihre konkrete Ausprägung im 20. Jh. nicht ohne Widerstreit erfahren haben. P. bedeutet die Existenz einer Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Wertvorstellungen, Meinungen und Interessen, die sich auch in miteinander konkurrierenden Gruppierungen (Verbände, Parteien) organisieren können und i. d. R. beanspruchen, ihren Positionen Einfluss zu verschaffen. Partielle oder generelle Verbindlichkeit erlangen sie allein im Legitimität erzeugenden institutionellen Entscheidungsprozess, in dem die Priorität des an einer Vorstellung von allgemeinem Nutzen („Gemeinwohl“) orientierten Politischen vor dem Sektoralen realisiert werden soll. Hochbedeutsame und allgemein akzeptierte Spielregeln für diesen Prozess sind der Verfassung oder anderen Gesetzesnormen zu entnehmen. In der BRD wie in liberalen Demokratien ist P. durch die Grundrechte, insb. die politischen Artikulations- und Organisationsrechte garantiert.

Insoweit sie P. nur als formales Strukturprinzip versteht, fragt die analytisch-soziologische P.-Theorie akzentuiert nach Bildung, Konsistenz und Aktionsformen sowie nach den Kooperations- und Konkurrenzformen entsprechender Gruppierungen. In dieser Konzentration auf die empirische Beobachtung, dass Willensbildung in der Massendemokratie weniger durch Einzelne als durch soziale Gruppen bestimmt wird, geraten jedoch die individualistischen Wurzeln jeglicher Gruppenbildung aus dem Blick, die idealtypisch immer eine Zusammenführung individueller Positionen darstellt, um diese effektiver zu vertreten. Da P. aber genau dadurch praktikabel wird, besitzen entsprechende Analysen trotz ihrer normativen Abstinenz hohe Relevanz.

Politikwissenschaftliche P.-Theorie verfolgt dagegen einen normativen Ansatz, orientiert an der klassischen Frage nach der Existenz des Individuums in einer menschenwürdigen Ordnung, als welche die freiheitliche, Entscheidungsspielräume und Partizipationschancen garantierende, sozial sensible Demokratie gilt, welche, auf dem Selbstentfaltungsrecht des Individuums (Autonomie) basierend, eine offene, plurale Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Daraus folgt zweierlei: zum ersten das Bekenntnis zur Kardinaltugend Toleranz jenseits bloßen Ertragens i. S. d. normativen Anerkennung und Aufforderung an Individuen und Gruppen, ihre Profile in den pluralistischen Wettbewerb einzubringen; zum zweiten die Erkenntnis der Notwendigkeit, den Prozess pluraler Konkurrenz permanent offen zu halten i. S. d. Legitimitätssicherung des freiheitlichen Systems. Demokratie bedeutet eben nicht „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (Schmitt 1969: 15), sondern dessen Akzeptanz in einer differenzierten Herrschaftsordnung, die Robert A. Dahl als „polyarchy“ (Dahl 1972) von Hegemonien absetzt.

In diesem Kontext ist auch die Antwort auf ethnisch-kulturelle P.-Theorien zu verorten, da alle Inklusionspolitik keineswegs zu Konzessionen an gesellschaftliche – auch religiös begründete – und politische Gestaltungsansprüche führen darf, die individuelle Freiheit in Zweifel ziehen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung steht weder Mehrheiten noch Minderheiten zur Disposition, und Toleranz gegenüber Intoleranten bedeutet Selbstpreisgabe. Insofern ist P. „kein absoluter, sondern ein relationaler und relativer Begriff“ (Schwan 1988: 428).

Vier Kernelemente liegen ihm nach Ernst Fraenkel zugrunde:

a) das Prinzip der legitimen Vielfalt, durch das die vorgefundene gesellschaftliche Heterogenität zum gewollten und akzeptierten P. wird;

b) das Prinzip der regulativen Idee des Gemeinwohls (welches nicht als Vorgabe, sondern als Ergebnis eines offenen politischen Prozesses betrachtet wird), welches die pluralen Kräfte an Wertüberzeugungen bindet und verhaltensleitend wirken soll i. S. einer Disziplinierung der Interessenvertretung durch Anerkennung des gleichen Rechts des anderen;

c) das Prinzip der permanenten Spannung zwischen Konsens und Konflikt, das einerseits Konflikte und ihre Austragung legitimiert und akzeptiert, anderseits aber an den Basiskonsens über gemeinsame, gesellschaftsstiftende Wertüberzeugungen und Spielregeln erinnert;

d) das Prinzip der Konkurrenzdemokratie, das nicht Identität und Homogenität, sondern Alternativen in der politischen Willensbildung postuliert.

2. Entwicklung

Als Harold Joseph Laski 1915 den Terminus P. in die Sozialwissenschaft einführte und sich gegen den Souveränitätsanspruch des Staates, später (1925) gegen wirtschaftliche Macht wandte, war das Phänomen zwar auf den Begriff gebracht; erkannt jedoch war es längst vorher: Die Theoriegeschichte beginnt in Amerika mit den Debatten um die Unionsverfassung seit 1787. In den „Federalist Papers“ beschrieb James Madison Gruppen-P. und Freiheit in ihrer Interdependenz und ihrem Spannungsverhältnis: Effektivierung von Gruppenpluralität galt, neben der Anerkennung verfassungsgeschützter Spielregeln, bereits als wirksamer Minderheitenschutz (Minderheiten). Alexis de Tocqueville betonte wenig später den partizipatorischen Aspekt des P., den er als Schlüssel zum Verständnis amerikanischer Politik überhaupt begriff. In Europa setzt die Entwicklung erst im letzten Drittel des 19. Jh. mit Otto von Gierkes im Genossenschaftsrecht wurzelnder Lehre von der „realen Verbandspersönlichkeit“ ein, die auf „das bildnerische Prinzip freier Assoziationen“ (Steffani 1980: 34) abhob. O. von Gierkes Anerkennung legitimer sozialer und weltanschaulicher Zusammenschlüsse unterhalb der staatlichen Ebene trug zur Ausbildung politischer und sozialer Freiheit maßgebend bei. In ihrer Tradition steht auch der englische Gildensozialismus, der seinen Akzent auf Dezentralisierung und Demokratisierung der Willensbildung legte und in H. J. Laskis Theorie der Souveränitäten eine – von ihm selbst später verworfene – unangemessene anarchistische Zuspitzung fand. Diese ist jedoch verantwortlich dafür, dass von einer Position der Betonung staatlicher Einheit her immer wieder pluralismuskritisches Potential freigesetzt wird. Die negative Besetzung des Begriffs in der deutschen politischen Kultur seit Carl Schmitt, der ihn mit entsprechenden kritischen Intentionen während der Weimarer Republik einführte, hat hier ihre Wurzeln. Der Neo-P. nach dem Zweiten Weltkrieg, untrennbar mit E. Fraenkel verbunden, wandte sich bewusst gegen den totalen Staat, begriffen als Negation des P., und machte es sich zur Aufgabe, „durch eine Negation der Negation zu versuchen, den Totalitarismus […] zu überwinden“ (Fraenkel 1991: 307). Als wissenschaftliche Konzeption verdeutlicht der Neo-P. den Totalitarismen unterschiedlicher Ausprägung diametral entgegengesetzte anthropologische Prämissen und ein ebenso gegensätzliches Verständnis von Politik und Demokratie. E. Fraenkel hatte sich bewusst an die moderne amerikanische Demokratietheorie insb. R. A. Dahls angelehnt und die Verknüpfung von freiheitlicher Demokratie und P. vollzogen. Über das Analytische hinaus verband sich damit, zeithistorisch leicht erklärbar, die politische Intention zur Überwindung autoritärer und totalitärer Herrschaftspraxis und zur Verteidigung liberaler und pluraler Demokratie. Wenn sich gelegentlich erneut Positionen artikulier(t)en, welche die „Aufhebung“ des P. in einem Medium weltanschaulich-ideologischer Homogenität fordern – etwa die „‚Aufhebung‘ des Pluralismus im Sozialismus“ (Eisfeld 1972: 91) – dann liefern gerade die analytischen und politischen Intentionen des Neo-P. Kriterien zur kritischen Überprüfung solcher Ansätze.

3. Missverständnisse

Das P.-Konzept wendet sich gegen den Herrschafts- und Wahrheitsanspruch partikularer Zielentwürfe, keineswegs gegen die Idee des Gemeinwohls; dieses bleibt Handlungsmaxime der politischen Entscheidungsträger und strukturiert als regulative Idee den politischen Prozess. Aber was das Gemeinwohl darstellt, darüber darf gestritten werden. Ebenso wenig leidet die Integrität der Wahrheit Schaden, wenn man sie politischer Indienstnahme und politischen Definitionsversuchen entzieht; Wahrheit ist nie im Ganzen verfügbar, sondern bleibt eine stets zu suchende; Politik aber unterliegt Entscheidungszwängen, welche zum Abbruch wahrheitssuchender Diskussionen nötigen. Am allerwenigsten gerechtfertigt sind Versuche, P. als wertneutral oder wertrelativistisch zu diffamieren. Geht man von der Freiheit des Individuums und der Gruppen in einer offenen Gesellschaft aus, offenbart das in Relation dazu stehende Prinzip seine eigentümliche Dialektik: Indem es unterschiedlichsten Interessen und Wertvorstellungen Artikulations- und Entfaltungsspielraum einräumt – eingegrenzt durch den schmalen verpflichtenden Basiskonsens – eröffnet es überhaupt erst einem breiten Spektrum normativer Orientierungen die Chance zur Inwertsetzung. Dieses normativ basierte Formale bildet die Voraussetzung für die Entfaltung von Inhalten.

Pluralität in Politik und Gesellschaft folgt aus der Entscheidung für Menschenwürde und Freiheit, die in der BRD der politischen Ordnung ihre Wertbindung auferlegt. Insofern ist zum P. und zum Dissens, den er ermöglicht, immer auch der unumstrittene, nicht-kontroverse Sektor hinzuzudenken, in welchem jener allgemein akzeptierte Wertkodex angesiedelt ist, ohne den Gesellschaft nicht integrations- und überlebensfähig wäre. Die Bestreitung dieser Werte – Menschenwürde konkretisiert durch Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – wäre identisch mit dem Auszug aus der Gesellschaft. Sie bleiben zugleich so allg., dass ihre Verwirklichung von unterschiedlichen politischen Positionen aus betrieben werden kann. Daher bezeichnet die immer wieder aufgeworfene Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen P. und gesellschaftlichen Werten aufzulösen sei, ohne einerseits die Freiheit des Einzelnen zu beschädigen und anderseits die Gesellschaft zerfallen zu lassen, ein Scheinproblem, solange die Würde des Menschen das Maß einer politischen Ordnung bestimmt. Konflikt zwischen Freiheit und Ordnung entsteht nur dann, wenn Freiheit diese Bindung abstreift und zur Willkür entartet.

Für das Akzeptanzproblem des P. im Alltag darf als plausible empirisch-sozialpsychologische Erklärung die Tendenz einer jeden Position gelten, Richtigkeit und Gültigkeit für sich zu reklamieren und Konkurrenz einzudämmen. Daran trägt nicht allein spezifisches Durchsetzungsinteresse Schuld, sondern auch die menschliche Schwäche, Spannungen unterschiedlicher und widersprüchlicher Meinungen und Positionen auszuhalten und sich mit einer offenen Gesellschaft zu arrangieren. P.-Toleranz ist leichter zu beschwören als einzulösen.

4. Kritik

Daran knüpft, nachdem die bes. in Amerika kultivierte Phase des pluralistischen Optimismus sich ihrem Ende zugeneigt hat, jene Kritik an, die auch im Gefolge der „Neuen Linken“ zunehmend auf Funktionsschwierigkeiten im Ausgleich sozialer Interessen hinwies. Wer P. stets als Aufgabe und Herausforderung verstanden und nicht als wohlfunktionierenden Gleichgewichtsautomatismus fehlinterpretiert hat, ist durch den Nachweis solcher Defizite alles andere als überrascht. E. Fraenkels plastisches Sprachbild vom Gemeinwohl als Resultante des pluralistischen Kräfteparallelogramms verleitete zahllose oberflächliche Beobachter zu diesem Irrtum und ließ sie die einschränkenden Bedingungen übersehen, die diesem Sprachbild folgen. Ein großer Teil der Kritik, die empirisch beobachteten Gleichgewichtsstörungen entspringt, folgt aus solch irrtümlicher Rezeption. In der amerikanischen Diskussion führten solche Defizite bei Interessenberücksichtigung und demokratischer Partizipation sogar zur wissenschaftlichen Revidierung der P.-Theorie in der im Wesentlichen von David B. Truman bestimmten Ausprägung: Revidierte P.-Theorie verkürzte das Demokratiepostulat und die Partizipationserwartung auf die schmale Schicht politischer Eliten und wendet geringe Partizipation als Ausdruck von Zufriedenheit und Systemstabilität normativ ins Positive. Dieser Abfall von überkommenen Postulaten ist als reaktionäre Verteidigung des Status quo, Verfestigung ungleicher Chancen, Verweigerung des Zutritts neuer Gruppen und Interessen zur Konkurrenz der Etablierten, als Politik der Immobilität oder gar der Nichtentscheidung scharfer Kritik unterzogen worden, die bei der Herausforderung der westlichen Systeme durch die Linke eine dominierende Rolle spielte. Ihr Ansatzpunkt war insb. der Befund, dass „the heavenly chorus sings with a strong upper-class accent“ (Schattschneider 1960: 35).

Diese Kritik ist auch auf die BRD übertragen worden. Allerdings teilte der theoretische Ansatz E. Fraenkels keineswegs den mechanistischen Optimismus der amerikanischen Gruppen- und Gegenmachttheoretiker, noch hat die sozialstaatliche Entwicklung und die Politik der sozialen Gerechtigkeit hierzulande in den Vereinigten Staaten auch nur im Entferntesten ihresgleichen. Gleichwohl hat diese Diskussion nachhaltig daran erinnert, dass Verbands-P. nicht allein in der Lage ist, dem politischen System ausgleichende Impulse zu geben. Denn in der Tat gibt es keinen Interessenverband für die allgemeinen, die „Jedermanns-Interessen“. Zum zweiten bestehen unstrittig Wettbewerbsverzerrungen zugunsten der mächtig organisierten und hochkonfliktfähigen und zuungunsten der kaum artikulations-, geschweige denn organisationsfähigen Interessen in der Gesellschaft. Zum dritten scheint es an der Zeit, sich eines vorrevolutionären Problems zu erinnern, nämlich der Macht von gesellschaftlichen Organisationen gegenüber Dritten.

Dazu bedarf es politischer Entscheidung, welche die allgemeinen Interessen identifiziert und die sektoralen Egoismen gemeinwohlorientiert korrigiert. Sensibilität und Potenz zentraler politischer Entscheidungsinstanzen sind anzumahnen, damit die Politik den Primat ausübt, der ihr kraft demokratischer Legitimität zukommt.

E. Fraenkels Ansatz war hier keineswegs naiv. Wer von den „Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung“ (1991: 34) spricht und von Ergebnissen, die „von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden“ (1991: 34) werden, formuliert keine Illusionen, sondern eine permanente politische Aufgabe.

Dem ideologischen Anti-P. der „neuen Linken“, die P. wie Parlamentarismus lediglich als Instrumente der herrschenden Klasse begriff, um den tatsächlichen Klassenantagonismus zu verschleiern, kommt kaum mehr Bedeutung zu. Gleichwohl ist Anti-P. keineswegs überwunden, wie das weltweite Fortbestehen autoritärer oder tendenziell totalitärer Systeme, wie aber auch nach dem weltpolitischen Umbruch am Ende des 20. Jh. die Tendenz durchaus defekter Demokratien belegt, sich „illiberal“ zu konfigurieren und zwar stets durch die Intention, Pluralitätsentfaltung einzuschränken. Geht es dem klassischen Anti-P. von rechts um die Bewahrung der Einheit und Autorität des Staates über den gesellschaftlichen Interessen, so erstreben die Illiberalen die Instrumentalisierung des Staats zur Durchsetzung einer speziellen, in der Tat antiliberalen und daher antipluralistischen Weltanschauung.

Aus einer in sich selbst pluralistischen Philosophie, die anthropologischen Bestimmungen wie Grundwerten und Grundrechten für die Formulierung eines gesellschaftlichen Minimalkonsenses den Boden entzieht, in einem absoluten P. also, kämen gegen solche Aberrationen keine Einwände. Sie brächte aber die wertgebundene Demokratie selbst an ihr Ende. Noch immer kann von fragloser Selbstverständlichkeit des P. weltweit nicht die Rede sein.