Liberalismus

  1. I. Liberalismus der Ideen – Liberalismus der Tat
  2. II. Einige politiktheoretische Perspektiven

I. Liberalismus der Ideen – Liberalismus der Tat

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1. Historische Vielfalt und konstanter Kern

Es gibt einen L. der Ideen und einen L. der politischen Tat. Ihre Geschichte war miteinander verbunden, verlief jedoch nicht parallel, und auch die Akteure stimmten nur teilweise überein. Der L. der Ideen ist grenzüberschreitend angelegt, auch wenn er stets starke nationale Besonderheiten aufwies, der L. der Tat handelte im nationalen Raum, auch wenn es transnationale Kontakte gab. Beide Ausprägungen des L. veränderten sich, doch der L. der Ideen beruht auf Werthaltungen, deren Kern konstant blieb, wenn er auf neue Fragen Antworten suchte. Ob sie als politisches Handlungsprogramm taugten, hatten die Akteure des L. der Tat zu entscheiden, denn sie mussten sich stets aufs Neue auf die konkrete Situation im jeweiligen politischen Handlungsraum (insb. Staat und Gemeinde, Imperium, Staatenbünde) einstellen. Auch im L. der Ideen wurden und werden weiterhin liberale Wertideen nationalspezifisch entfaltet, doch die Debatten ließen sich nie gänzlich national einhegen. Es gab einen europäischen Diskursraum, aber in ihm entstand kein gemeineuropäischer L. Was L. bedeutete, wurde als Antwort auf zeitspezifische Probleme in Auseinandersetzung mit konkurrierenden weltanschaulichen Ordnungssystemen entwickelt. Dies führte zu einer beträchtlichen semantischen und politisch-programmatischen Vielfalt zwischen den nationalen Handlungs- und Diskursräumen und im zeitlichen Verlauf. Die neuere historische Forschung spricht deshalb von Liberalismen im Plural. Sie gehörten gleichwohl zu einer „liberalen Familie“ (Freeden 2015: 3) mit einem Kern von Gemeinsamkeiten, auch wenn manche Mitglieder nicht miteinander sprachen. Gemeinsam war ihnen eine Wertidee, welche die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt rückt. Sie bildet den überzeitlichen Kern des L. der Ideen. Wie sie der L. der Tat in Handlungsprogramme umzusetzen suchte, führt in die Vielfalt der Liberalismen, die sich seit dem ausgehenden 18. Jh. bis in die Gegenwart entwickelt haben.

2. Liberalismus der Ideen

Als John Stuart Mill sein wirkungsmächtiges Buch „On Liberty“ 1859 veröffentlichte, zeigte er sich besorgt über „die in der Welt vorgehenden Veränderungen“ (Mill 1860: 19), die alle darauf zielten, „die Gewalt der Gesellschaft über den Einzelnen […] ins Ungehörige auszudehnen“ (Mill 1860: 19). Dieses Übel sah er von der „Macht der öffentlichen Meinung“ (Mill 1860: 19) und von der Gesetzgebung ausgehen. Deshalb trete der Kampf zwischen „Freiheit und Machtgebot“ (Mill 1860: 1), der die geschichtliche Entwicklung seit ihren Anfängen geprägt habe, für die „gesitteteren Gesellschaftskreise“ (Mill 1860: 1), die zur „bürgerlichen oder gesellschaftlichen Freiheit“ (Mill 1860: 1) fähig seien, in eine neue Phase. Mit diesem Szenarium entwarf Mill ein Geschichts- und Gesellschaftsbild, das den Kern des liberalen Gesellschaftsmodells aufrief und als gefährdet auswies: den zur Autonomie fähigen Einzelnen. Warum und unter welchen Bedingungen das von Natur aus mit „perfect freedom“ (Locke 1689: 195) ausgestattete Individuum sich einem Staat einfüge, hatte John Locke 1689 in seinem Buch „Two Treatises of Government“ begründet. Es entwickelte sich zu einer der wichtigsten Programmschriften des europäischen L. und wurde bis heute immer wieder aufgenommen und den veränderten Verhältnissen angepasst. J. Locke bestimmte es als das Ziel des Menschen, friedlich und sicher Herr über sein Eigentum und seine Person zu sein. Galten zunächst absolutistische Monarchen und Kirchen, sofern sie die menschliche Autonomie verneinten, als Hauptwidersacher, erkannte man in den Revolutionen des späten 18. Jh. die Demokratie der Vielen als Gefahr für den liberalen Freiheitswillen, und in der zweiten Hälfte des 19. Jh. kam die medial erzeugte Öffentlichkeit hinzu. J. S. Mill verwies auf diese neuen Gefahrenquellen und erörterte immer wieder zwei Fragen, die bis heute den L. umtreiben: An welche Voraussetzungen ist die Fähigkeit zur individuellen Selbstbestimmung gebunden? Welche Aufgaben hat in der „bürgerlichen Gesellschaft“ der Staat zu erfüllen?

Die Antwort der Liberalen auf die erste Frage lautete: Besitz und Bildung. Eigentum ist notwendig für Freiheit und Kultur, erklärte Carl Theodor Welcker kurz und bündig, als er 1846 im liberalen „Staats-Lexikon“ „gegen communistische Theorien die Heiligkeit und Nothwendigkeit festen vertheilten Privateigenthums“ (Weckler 1846: 216) begründete. Er forderte jedoch zugleich eine „verhältnißmäßig gleiche Eigenthumsvertheilung und Eigenthumsgewährung für alle Familienväter“ (Welcker 1846: 217). Wie dieser Ausgleich zwischen Eigentumsgarantie für den Einzelnen und Eigentumserwerb für alle zu ermöglichen sei, ist ein konfliktreiches Dauerthema im L. der Ideen geblieben. Die Konzepte spiegeln die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen wider. Im frühen L. überwog die Hoffnung auf eine Gesellschaft der „mittlere[n] Eigentümer“ (Gall 1996: 303), eine Art „klassenlose Bürgergesellschaft“ (Gall 1975: 334) die man aber als bürgerliche Klassengesellschaft auf Zeit akzeptierte, denn Besitz und Bildung für alle verstand man als ein Entwicklungs- und Erziehungsprogramm. Als die Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) diese liberale Gesellschaftsvision, die noch vorindustriell geprägt war, illusorisch werden ließ, experimentierten Liberale mit Konzepten genossenschaftlichen Eigentums (Genossenschaften). Schließlich beteiligten sie sich daran, Konzepte für neue Formen von Sozialeigentum in Gestalt von Versorgungssystemen für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie allgemein zugängliche Bildungseinrichtungen von der Schule bis zur Universität zu entwickeln. Hier fand der L. zu keiner Zeit eine einheitliche Position. Zwischen den unterschiedlichen Formen von Sozial-L. und denen des Wirtschafts-L. gab es vielfach kaum Verständigungsmöglichkeiten. Stets ging es um die Frage, wie die Aufgaben zwischen Staat und Individuum bei der Sicherung von Eigentum für alle als Voraussetzung für individuelle Selbstbestimmung zu verteilen sind. Im Unterschied zu anderen Ordnungsvorstellungen zielt das liberale Gesellschaftsmodell darauf, möglichst viel in die Selbstverantwortung des Einzelnen zu legen. Diesen zur Autonomie fähigen Einzelnen konnte man sich auch im L. der Ideen, der für Zukunftsvisionen offener war als der L. der Tat, lange Zeit nur als Mann, meist als Familienvater, vorstellen. Doch Liberale – Männer und Frauen, J. S. Mill und seine Frau Harriet Taylor Mill gehörten zu den Pionieren – begannen im 19. Jh. für die Gleichstellung der Frau zu werben. Dies war jedoch bis weit ins 20. Jh. keine Mehrheitsposition im L.

Nicht nur das Gesellschaftsmodell, auch das liberale Staatsmodell war nie einheitlich. Es verlangte den Rechts- und Verfassungsstaat, doch jenseits davon begann die Vielfalt liberaler Konzeptionen. Der „Nachtwächterstaat“, der Gesellschaft und Wirtschaft möglichst dem „freien Spiel der Kräfte“ überlässt, gehörte zu keiner Zeit zum Kern der Wertideen, den der gesamte L. teilte. Auch in seinen Staatskonzeptionen suchte der L. der Ideen die gesellschaftlichen Entwicklungen theoretisch zu verarbeiten. In der Gegenwart bieten v. a. die Debatten in der politischen Philosophie neue Denkanstöße für die liberale Praxis. Gefragt wird, welchen Grundprinzipien eine liberale Politik in einer Gesellschaft, die nicht-liberale Wertegemeinschaften einschließt, verpflichtet sein müsse, um das Liberale zu bewahren, ohne die Freiheit des Einzelnen zur Gestaltung seines Leben zu bestreiten. Eine liberale Gesellschaft müsse Illiberalität nicht nur ertragen, sondern ihr faire Möglichkeiten bieten, sich zu entfalten. Philosophen wie John Rawls und Martha Craven Nussbaum suchen diesen Freiraum und seine Grenzen zu erkunden. Sie unterscheiden einen umfassenden L., der alle Lebensbereiche und das Gesamtbild vom guten Leben einschließe, vom politischen L. Er bestehe in einer „Konzeption der Politik und nicht des ganzen Lebens“ (Rawls 1997: 366). Eine solche Selbstbegrenzung suchen andere zu vermeiden, indem sie die Zukunftsfähigkeit des L. danach beurteilen, ob auf die großen Fragen unserer Zeit – Umgang mit Natur und Technik, Medizin am Lebensanfang und Lebensende, Bildung als Erziehung zur Freiheit, Freiheit in Wirtschaft, Gesellschaft und Kunst, politische und personale Freiheit, Krieg zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, neue Formen von suprastaatlicher und transnationaler Solidarität – spezifisch liberale Antworten gefunden werden. Dieser zeitgemäße L., der einen Pluralismus von Lebensformen und Werten bejahe, erkenne aus Erfahrung „das anthropologische Gesetz der Knappheit“ (Höffe 2015: 115; Herv. i. O.) als ein „Element der Conditio humana“ (Höffe 2015: 115) an, vertrete normativ einen „legitimatorischen Individualismus“ (Höffe 2015: 116; Herv. i. O.), der alles Soziale auf das Individuum beziehe, und erweitere die auf Friedenssicherung gestimmte Zukunftsvision „politisch[e] Gerechtigkeit“ (Höffe 2015: 116) um die Vorstellung von einem „vieldimensionalen Wohlstan[d]“ (Höffe 2015: 116). Dieser Versuch, die Aufgaben des gegenwärtigen L. unter Rückbindung an den überzeitlichen Kern liberaler Wertideen zu bestimmen, zeigt erneut, dass der L. der Ideen dem L. der politischen Tat keine konkreten Handlungsprogramme vorlegt und beide nicht in eins gesetzt werden können. Das gilt generell für die Geschichte des L. seit dem ausgehenden 18. Jh.

3. Liberalismus der politischen Tat

L. der politischen Tat ist nicht gleichzusetzen mit Partei-L. Das erschwert es, präzise zu bestimmen, welche historischen Entwicklungen, die zum Programm des L. gehörten, auf liberale Akteure zurückgingen. Die neuere Forschung wendet sich gegen eine Fortschrittserzählung, die den bürgerlichen L. zum „Geburtshelfer der Modernisierung“ (Doering-Manteuffel/Leonhard 2015: 15) erklärt, indem sie ihm die Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten, gewaltenteiliger Verfassung und Parlamentarismus, von Zivilgesellschaft und Wirtschaftsfreiheit aufs Erfolgskonto schreibt. Wenn man diese Modernisierungsgeschichte (Moderne, Modernisierung) als ein liberales Projekt bezeichnet, wie es oft geschehen ist, blendet man aus, dass an ihm viele Gegner des L. führend beteiligt waren. Ein Blick auf den deutschen L. soll dies verdeutlichen.

Wirtschaftsfreiheit und Freihandel gehörten zum Programm liberaler Fraktionen und Parteien, doch Hauptakteure der Liberalisierung der Wirtschaftsordnung deutscher Staaten waren zunächst politisch illiberale staatliche Regierungen und Bürokratien. Erst der Liberalisierungsschub im ersten Jahrzehnt des Deutschen Reichs – Zeitgenossen sprachen von der „liberalen Ära“ – wurde von den liberalen Fraktionen bestimmt. Die deutschen Liberalen wirkten im 19. Jh. weit über ihre Fraktionen und Parteien hinaus, weil sie zum Sprachrohr der Nationalbewegung geworden waren. Doch ihr großes Ziel, der Nationalstaat, ist von illiberalen Monarchen und ihren Armeen erzwungen worden. Liberale haben die Verfassungsordnung der Weimarer Republik entworfen, doch die Revolution, aus der diese Republik hervorging, war nicht ihr Werk.

Liberale suchten Revolutionen zu vermeiden, doch wenn dies nicht gelang, waren sie bereit, die revolutionären Handlungsspielräume für ihre Ziele zu nutzen. Dies gilt auch für die europäischen Revolutionen von 1848. Damals entstanden in etlichen Staaten Europas organisierte liberale Parteien. Im späten 19. Jh. traten sie in eine neue Phase. Sie begannen nun, den Eintritt der Vielen in die Politik (Demokratisierung des Wahlrechts) zu akzeptieren, beteiligten sich daran, den Staat zum interventionistischen Sozialstaat auszubauen, und es entstand ein imperialistischer L. Dies waren gemeineuropäische Entwicklungen, wenngleich auch dieser „Neue L.“ national differenziert blieb. Zu den europäischen Gemeinsamkeiten gehörten auch scharfe Konflikte zwischen L. und Katholizismus. In diesen Kulturkämpfen fügten sich Liberale illiberalen antikatholischen Koalitionen ein.

Im 20. Jh. erweiterten sich die politischen Handlungsspielräume zweimal für den L. sprunghaft: nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Auflösung der UdSSR. Die Erfahrung mit den totalitären Diktaturen (Totalitarismus) gab dem liberalen Staats- und Gesellschaftsmodell neue Überzeugungskraft, und das Ende der UdSSR wurde als Sieg des L. gedeutet. Doch wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg, als im Europa der parlamentarischen Demokratien ein liberales Zeitalter zu beginnen schien, war diese Liberalisierung nicht das Werk liberaler Parteien. Mit „Neoliberalismus“ ist vielmehr ein Kampfbegriff entstanden, der L. auf Marktrationalität verengt. Was die gegenwärtigen Tendenzen zur Renationalisierung politischer Orientierung und zum illiberalen Populismus für den politischen L. und sein Bekenntnis zur Freiheitssicherung des Individuums bedeuten werden, wird die Zukunft zeigen.

II. Einige politiktheoretische Perspektiven

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Liberale Vorstellungen bilden ein zentrales Fundament für die Idee des modernen demokratischen Rechtsstaats. Seine Genese ist eng an die Verbreitung von Begriffen und Werten wie Freiheit, Autonomie, Individualismus und Eigentum gebunden. Dabei werden in unterschiedlichen Konzeptionen die elementaren Bestandteile des L. verschieden gewichtet und bewertet, wie z. B. bei Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit oder der Ermöglichung von Freiheit und Sicherheit.

1. Frühe Neuzeit und Aufklärung

Mit den vertragstheoretische Ansätzen (Vertragstheorien) von Thomas Hobbes und John Locke erhält der Vorrang individueller Autonomie und Freiheit vor überindividuellen Entscheidungen staatlicher oder kollektiver Art einen theoretischen Begründungszusammenhang. Die Legitimation des Staates beruht auf der freiwilligen Entscheidung des Einzelnen, unter einer bestimmten politischen Ordnung leben zu wollen. Diese erheischt eher Zustimmung als Gehorsam. Dieser Wechsel des Legitimationsparadigmas weist den Weg zum liberalen Staats- und Gesellschaftsverständnis. Die Einzelnen selbst bilden den Staat, und es ist ihrer Beurteilung überlassen, ob sie ihm Loyalität leisten möchten oder nicht. Die Notwendigkeit zur Herausbildung des Staates beruht allerdings auf der Unfähigkeit des Menschen, ohne Herrschaftsinstitutionen ein friedliches Zusammenleben zu organisieren. Die Individuen sind allerdings vernünftig genug, ihre eigene Limitierung einzusehen und dadurch den (staats- und herrschaftslosen) unfriedlichen Naturzustand zu überwinden; denn das „Recht auf alles“ (Hobbes 2013: 265), das T. Hobbes den Menschen im Naturzustand als „Naturrecht“ (Hobbes 2013: 265) zuschreibt, ist für niemanden dauerhaft durchsetzbar. Bei Immanuel Kant wird im Naturzustand der Einzelne schon durch die bloße Anwesenheit des Anderen verletzt. Im klassischen L. wird der Staat als notwendige Institution neu legitimiert und zugleich in seinen Kompetenzen eingeschränkt. Nur diese Balance von Macht und ihrer gleichzeitigen Beschränkung sichert Freiheit. Das Verständnis vom Staat ist ambivalent: Er ist Lösung und Problem zugleich.

Die Aufklärung thematisiert in besonderer Weise die Fähigkeit des Einzelnen, selbstständig zu denken. Dazu bedarf es allerdings auch institutioneller Voraussetzungen, was Christoph Martin Wieland in seiner Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ andeutet: „Das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis besteht. […] doch wird dazu zweierlei notwendig erfordert: 1) dass Licht genug vorhanden sei, und 2) daß diejenigen, welche dabei sehen sollen, weder blind noch gelbsüchtig seien, noch durch irgendeine andere Ursache verhindert werden, sehen zu können oder sehen zu wollen“ (Wieland 1974: 23). Im Anschluss daran lässt sich folgern, dass staatlichen Institutionen zumindest die Aufgabe zukommt, die Bestrebungen der Aufklärung, die alle Menschen befördern können, wenigstens nicht zu behindern.

Im Mittelpunkt des liberalen Staats- und Gesellschaftsbildes bleibt das Individuum. Der Einzelne kann deshalb die Verantwortung, die er für sich trägt, nicht an den Staat delegieren. Andererseits darf sich der Staat nicht in die privaten Belange seiner Bürger einmischen. Für Wilhelm von Humboldt bedeutet das, „dass jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andern haben“ (Humboldt 1851: 16).

2. Wirtschaftlicher Liberalismus

Im wirtschaftlichen L. tritt neben den Staat – als zentraler Institution für die Organisation gemeinschaftlichen Zusammenlebens – der Markt. Er ist bei Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen dem Staat nicht nur aus Effizienzgründen überlegen, sondern auch wegen der Berücksichtigung individueller Präferenzen der Marktteilnehmer. Mit Adam Smiths Metapher von der „unsichtbaren Hand“ wird aufgezeigt, dass die Verfolgung individueller Interessen Wohlstand und Gemeinwohl generiert: „Tatsächlich fördert er [der Einzelne] in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat“ (Smith 1978: 371). Die staatliche Betätigung ist auf jene Bereiche einzuschränken, in denen privatwirtschaftliches Handeln nicht gewinnbringend realisiert werden kann. Die Bereitstellung öffentlicher Güter (wie z. B. die Aufrechterhaltung innerer und äußerer Sicherheit, insb. der Schutz der Eigentumsordnung) verbleibt in staatlicher Verantwortung. Der wirtschaftliche L. vertritt ein restriktives Staatsverständnis, das nur so viel Staat zulassen möchte, wie gebraucht wird, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Doch spätestens mit dem Aufkommen der Sozialen Frage, wird deutlich, dass sich der Staat auch sozialpolitisch betätigen muss (Sozialpolitik). Liberale Konzepte bieten unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie weit dieses Engagement muss. Bei Friedrich August von Hayek, Vertreter des Neoliberalismus, hat der Staat zwar die Verpflichtung, Menschen, die nicht (mehr) als Marktteilnehmer fungieren können, durch eine Mindestsicherung zu unterstützen, er darf sich jedoch nicht als Sachwalter der sozialen Gerechtigkeit definieren, da die Herstellung von Gerechtigkeit ein Anliegen der Individuen darstellt. Deshalb soll sich der Staat auf die Schaffung eines rechtlichen Ordnungsrahmens beschränken, der den freien Verkehr zwischen Menschen ermöglicht. Empfänger staatlicher Transferleistungen und Staatsbedienstete sollten von Wahlen ausgeschlossen werden. Weiter wird der Rahmen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten bei der Sozialen Marktwirtschaft gespannt. Alfred August Arnold Müller-Armack sieht es (im Gegensatz zu F. A. von Hayek) als wissenschaftliche Aufgabe an „die rechte Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu finden“ (Müller-Armack 1976: 242). Dabei steht für ihn außer Zweifel, dass die Idee der Sozialen Marktwirtschaft auf dem freien Wettbewerb beruht: „Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“ (Müller-Armack 1976: 245).

3. Libertäres Denken

Im schroffen Widerspruch zur Sozialen Marktwirtschaft wie zum Neoliberalismus steht das libertäre Denken, das den Staat als Institution mit äußerster Skepsis betrachtet. Für Robert Nozick ist nur die Form eines „Minimalstaates“ gerechtfertigt, „der sich auf einige eng umgrenzte Funktionen, wie den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug oder die Durchsetzung von Verträgen beschränkt“ (Nozick 1976: 11). Sozialpolitisches Handeln ist im Minimalstaat nicht vorgesehen, denn auf hierfür benötigte finanzielle Mittel hat der Staat keinen zu rechtfertigenden Anspruch. Hinzu kommt, dass die Empfänger sozialpolitischer Leistungen in ihrer Autonomie beschnitten werden. Dem einzelnen Menschen muss das Eigentum an sich selbst, sowie an den von ihm (in gerechter Aneignung) erworbenen Güter genügen. Noch radikalere Ansichten lehnen den Staat überhaupt ab. Hans-Hermann Hoppe, der u. a. vom Anarchokapitalismus Murray N. Rothbards (Anarchie, Anarchismus) beeinflusst ist, sieht in ihm einen Machtmonopolisten, der immer seine eigenen Interessen durchzusetzen vermag. Seine verheerendste Ausprägung erfährt der Staat in der Demokratie, in der seine unzulänglichen Eigenschaften (z. B. Kapitalverschwendung und die Unverantwortlichkeit des politischen Personals) bes. stark zutage treten. Gegenentwurf ist die „Privatrechtsgesellschaft“ (Hoppe 2012), in der der Staat sein Gewaltmonopol einbüßt und Konflikte durch private Instanzen geregelt werden. Libertäre Konzeptionen zeigen einerseits Probleme auf, die mit überbordenden (Sozial-)Staatsvorstellungen verbunden sind. Andererseits markieren ihre hyperindividualistischen Grundannahmen die Grenzen des L.

4. Kritische Einwände

Liberale Denkmodelle sind vielfacher Kritik ausgesetzt. Zentraler Aspekt ist dabei das auf Individualität fußende Menschenbild. Der Einzelne ist wenig bzw. nicht an soziale Konstellationen gebunden und ihnen daher nicht verpflichtet. Michael J. Sandel nennt dies kritisch das „ungebundene Selbst“ (Sandel 1993: 24), auf die Sozialphilosophie von John Rawls abzielend, aber auch R. Nozick treffend. Diese Sichtweise lässt sich auch bei anderen Vertretern des Kommunitarismus finden. Es ist die Frage, ob die liberale Grundidee von einem in Freiheit agierenden Individuum in der sozialen Welt realistisch ist, oder ob es sich dabei um eine per se a-soziale und a-historische Vorstellung handelt. Vom politisch rechten Spektrum wird vor den gemeinschaftsgefährdenden bzw. -zerstörenden Wirkungen des L. gewarnt, wie z. B. in Armin Mohlers polemisch-abrechnender „Liberalenbeschimpfung“ (Mohler 1992).

Die linke Kritik stellt die Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Mittelpunkt. Der Kapitalismus, der durch neoliberales und libertäres Gedankengut noch forciert werde, wirke sich negativ auf Arbeitswelt und gesellschaftliche Solidarität aus. Das auf dem L. beruhende Wirtschaftssystem des (globalisierten) Kapitalismus führe zu Entfremdung, Ausbeutung und Entsolidarisierung und müsse daher überwunden werden.