Vertragstheorien

1. Geschichte

V. begegnen schon in der Antike. Sie werden propagiert von Sophisten, die den Nomos als bloße Konvention oder Vereinbarung betrachten (Hippias, in: Plat. Prot. 337; Antiphon, in: Diels/Kranz 1952: 335 A 12; Kallikles, in: Gorg. 482 a ff.). Auch dienen sie Epikur und seinen Schülern zur Herabstufung der Polis als bloßer Nutzengemeinschaft, als Vereinbarung „einander nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen“ (Epic. rat. sent. 33).

Im Mittelalter wurde der Einfluss des römischen Rechts bestimmend, bes. die Formel Ulpians von der einerseits unbegrenzten, andererseits aber vom Volk übertragenen Herrschaftsgewalt (Ulpian D. I, 4,1). Diese lex regia genannte Tradition harmonierte mit der germanischen Rechtsauffassung, welche ebenfalls eine Übertragung der Herrschaftsgewalt durch das Volk vorsah.

Die Verträge des Mittelalters zwischen König und Volk waren Herrschaftsverträge, die keine neue Ordnung schaffen, sondern der schon bestehenden eine Rechtsform geben sollten. Sie drückten nur aus, was als wechselseitige Treueverpflichtung schon bestand. In diesem Sinne führt Engelbert von Admont zu Beginn des 14. Jh. den Begriff des Unterwerfungsvertrages (pactum subjectionis) ein. Die erste Vertragstheorie des Mittelalters begegnete allerdings schon früher bei Manegold von Lautenbach. Sein „Liber ad Gebehardum“ (1085) ist eine der vielen Streitschriften, welche die Ansprüche von Kaiser und Papst gegeneinander ausspielen. Nach Manegold wird dem Kaiser die Herrschaftsgewalt durch das Volk übertragen. Herrscher, welche die Übereinkunft nicht einhalten, können abgesetzt werden.

Am Beginn der Neuzeit tritt bei den „Monarchomachen“ die Verbindung von V. und Widerstandsrecht hervor. „Monarchomachen“ waren vornehmlich calvinistische Autoren wie François Hotman, Theodore Beza oder der Anonymus Brutus (wohl Philippe Duplessis-Mornay). Angesichts der Massaker der Bartholomäusnacht entwickelten sie Widerstandslehren. Deren Grundlage war die Föderaltheologie, d. h. die im AT und im NT bezeugten Bünde Gottes mit den Menschen. Sie kehrten nun als Bund Gottes mit dem König und des Königs mit dem Volk wieder. Die Föderaltheologie war für alle Konfessionen attraktiv. Die konsequenteste Ausformung findet sich bei Johannes Althusius. In seiner „Politica methodice digesta“ (1603) lässt er den gesamten Staat aus koordinierten, auf Vertrag gegründeten consociationes hervorgehen.

Zum eigentlichen Ursprung der neuzeitlichen Vertragstheorie wurden der von der aufstrebenden Naturwissenschaft und Technik befeuerte Rationalismus, die Aufklärung und last but not least die bürgerliche Gesellschaft, die allen Status in Vertrag verwandelt. Eine Gesellschaft von Freien und Gleichen schien nur noch durch Zustimmung und Abmachung begründbar zu sein. Einflussreiche Wortführer waren Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Hobbes entwarf eine kühl-rationalistische Theorie eines Friedens- und Überlebensvertrages. Locke berief sich auf einen historischen Urvertrag (original contract). Rousseau forderte im „Contrat social“ (1762) einen Gesellschaftsvertrag, der die einzelnen so frei lasse, wie sie es schon zuvor gewesen seien. Die Paradoxie (Sich-Binden und doch frei bleiben wie zuvor) versuchte Rousseau durch die Einführung vertragsfremder Elemente zu beheben, sei es durch einen von außen kommenden Verfassungsgeber (législateur), sei es durch eine Zivilreligion (religion civile).

V. haben weder eine eindeutige politische Tendenz noch verfügen sie über ein eindeutiges Vertragsmodell. Sie werden kombiniert mit Absolutismus (Hobbes), Frühliberalismus (Locke, Immanuel Kant [ Liberalismus ]) oder Republikanismus (Rousseau, der junge Johann Gottlieb Fichte).

2. Kritik der traditionellen Vertragstheorie

Gegner der Vertragstheorie waren David Hume, Jeremy Bentham, John Austin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hume schrieb eine einflussreiche Kritik von Lockes original contract. Zustimmung sei zwar eine wichtige Ressource der Legitimation, sie liege jedoch selten vor. Selbst die von den Whigs gefeierte Glorious Revolution sei von individueller Zustimmung denkbar weit entfernt gewesen: „eine Minderheit von nur siebenhundert beschloss die Änderungen für fast zehn Millionen“ (Hume 1988: 308). Gehorcht werde eher aus Gewohnheit und eigenem Interesse oder weil man den Schrecken einer aufgelösten Regierung fürchte. Viele Staaten seien nicht aus freier Zustimmung, sondern aus Eroberung oder Erbfolge hervorgegangen. Lockes Berufung auf tacit consent und dass man doch auswandern könne, wenn man nicht zustimme, wird als unrealistisch verworfen. Man könne dann ebenso behaupten, „dass ein Mann durch seinen Aufenthalt auf einem Schiff die Herrschaft des Kapitäns freiwillig anerkennt, obwohl er im Schlaf an Bord getragen wurde und ins Meer springen und untergehen müsste, wenn er das Schiff verlassen wollte“ (Hume 1988: 311). In „A Fragment of Government“ (1776) stimmt Bentham der Kritik Humes vorbehaltlos zu. V. seien bloße Fiktionen. Das Recht solle sich nicht auf Fiktionen oder Fakten gründen, sondern auf Nützlichkeit. Hegel wiederum hielt Verträge nur als privatrechtliches Instrument für sinnvoll, geeignet nur für willkürliche Abmachungen. Der Notwendigkeit des Staates werde ein Vertrag per se nicht gerecht. Die mit V. oft kombinierten Naturzustandslehren seien zirkulär. „Es wird vorausgesetzt, wohin man gelangen will“ (Hegel 1968: 425 f.).

3. Die aktuelle Diskussion

Hegelianismus, Marxismus, Machtstaatslehren und Positivismus haben den V. im 19. und 20. Jh. zunächst den Garaus gemacht. Seit den 70er Jahren des 20. Jh. erleben sie jedoch eine erstaunliche Renaissance. New contractarians wie John Rawls, Robert Nozick und James M. Buchanan entwickeln neo-kantianische, neo-lockeanische oder neo-hobbessianische V., die sich zudem moderner Theorien wie der Entscheidungs- [ Entscheidung ], Sozialwahl- und Spieltheorie bedienen. Die einflussreichste dieser Theorien ist Rawls „A Theory of Justice“ („Eine Theorie der Gerechtigkeit“ [1975]). Rawls ging aus von einem Urzustand (original position), in dem jedem ein „Schleier der Unwissenheit“ (Rawls 1975: 160; veil of ignorance) vor Augen hängt. Niemand weiß, was seine natürlichen Talente sein werden, zu welcher Schicht er gehören und welchen Platz er in der Gesellschaft einnehmen wird. Jeder würde deshalb eine „faire“ Ordnung befürworten, die ein größtmögliches System gleicher Grundfreiheiten gewährt und Grundgüter (Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen, soziale Grundlagen der Selbstachtung) gleich verteilt, es sei denn, Ungleichheiten seien zum Vorteil von jedermann oder zum Vorteil der schlechter (oder schlechtest) Gestellten (difference principle).

Etwa ab 1985 revidierte Rawls seine ursprünglich universalistisch und zeitlos gemeinte Position. Er schwenkte um zu einem politischen Liberalismus, der in einem „überlappenden Konsens“ (Rawls 2005: 133; overlapping consensus) verschiedene Gerechtigkeitsauffassungen (Gerechtigkeit) vereinen soll. Dieser Konsens werde möglich durch die Ausklammerung „umfassender Doktrinen“ (Rawls 2005: 243; comprehensive doctrines) metaphysischer oder religiöser Art. An die Stelle des Vertragsmodelles tritt eine öffentliche Rechtfertigung unterschiedlicher „vernunftgemäßer“ (Rawls 2005: 4; reasonable) Gerechtigkeitskonzeptionen.

Rawls „liberale“ (im europäischen Sprachgebrauch eher als „sozialdemokratisch“ zu bezeichnende) Theorie erhielt Konkurrenz von Libertären, Kommunitaristen sowie jenen, die man Globalisten nennen könnte. Libertäre oder Anarchokapitalisten sind radikale Liberale, die den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft so weit wie möglich beschränken wollen. Einer ihrer Wortführer war der Philosoph Nozick. In „Anarchie, Staat, Utopia“ (1976) behauptete er, dass der Wohlfahrtsstaat nicht nur ineffektiv, sondern sogar amoralisch sei. Steuern zum Zwecke der Umverteilung zu erheben, komme der Sklavenarbeit gleich. Rechtfertigen lasse sich nur ein Minimalstaat, der sich auf den Schutz individueller Rechte beschränkt. Rawls’ Differenzprinzip wird verworfen. Was Menschen einander geben, sei Sache ihrer freien Wahl. „Jeder, wie er will, und jedem, wie die anderen wollen“ (Nozick 1976: 152).

Zu noch radikaleren Schlussfolgerungen gelangte Buchanan, berühmt geworden durch seine Public Choice Theory (1962, zusammen mit Gordon Tullock), für die er 1986 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt. In „The Limits of Liberty“ (1975) preist er den Charme einer anarchischen Gesellschaft (Anarchie, Anarchismus), die wie der Straßenverkehr nur minimal geordnet sein müsse. Angesichts des Hobbesschen bellum omnium contra omnes sei dies jedoch illusorisch. Eine Fülle von Verträgen wird nötig: ein einstimmig zu vereinbarender Verfassungsvertrag (constitutional contract), der eine Instanz schafft, welche die Einhaltung der Verträge sichert, sowie ein post-konstitutioneller Vertrag (post-constitutional contract), der die Schaffung öffentlicher Güter regelt. Vorauszugehen hat ein Abrüstungs- und Entwaffnungsvertrag, in dem die einzelnen darauf verzichten, ein Gut gewaltsam an sich zu reißen. Buchanan will die Hobbessche Fehlkonstruktion vermeiden, welche die Freiheit der Individuen einer unbeschränkten Macht ausliefert. Er hält sich jedoch schadlos mit der Anerkennung von Sklavereiverträgen, die moralisch fragwürdig und vertragstheoretisch unsinnig sind.

Schüler von Rawls wie Charles R. Beitz, Thomas Pogge u. a. wollen Rawls’ Gerechtigkeitslehre zu einer Theorie globaler Gerechtigkeit weiter entwickeln. Man steht an der Schwelle zu Weltgesellschaftsverträgen, die jedoch sehr unterschiedlich verstanden werden. Eine globale Ursituation soll helfen, die Grundzüge globaler Gerechtigkeit zu bestimmen. Sie wird angesetzt mal mit Individuen (Beitz, Pogge), mal mit Repräsentanten der „Völker“ (Rawls), mal mit beiden zugleich Rawls selbst hatte schon früh mit der Überlegung gespielt. Er orientierte sich dabei weitgehend am Status quo des Völkerrechts (Gleichheit der Nationen, das Selbstbestimmungsrecht, Interventionsverbot, das Recht auf Selbstverteidigung, pacta sunt servanda). Herausgefordert durch seine „globalistischen“ Schüler ging Rawls in „Law of peoples“ (1999) noch einmal auf die Frage ein. Er blieb dabei auf der Linie, die seine Andeutungen von 1971 vorgezeichnet hatten. Allerdings fügte er Hilfspflichten und eine Theorie der Menschenrechte hinzu. Seine Orientierung an der Selbständigkeit der Völker trug Rawls den Vorwurf ein, die Globalisierung nicht ernst genommen zu haben. Er habe Regeln für eine westfälische Welt aufgestellt, die nicht mehr existiere.

Die „Globalisten“ behaupten dagegen, Grenzen seien moralisch irrelevant. Das führt bei Joseph H. Carens zu der fantastischen Forderung nach offenen Grenzen. Jeder kann demnach wohnen und arbeiten, wo er will. Oder es ruft Forderungen hervor, jedem Menschen ein gleiches Recht auf die Ressourcen dieser Erde zuzusprechen (Beitz) oder eine globale ressource tax zu erheben, die an die ärmeren Länder verteilt werden soll (Pogge). Hier werden rechtliche Fragen (gehören die Ressourcen nicht schon jemand?), moralische Unterscheidungen (wie die zwischen Nah- und Fernethik) und praktische Probleme (Wer erhebt die Ressource-Steuer? Wer erhält sie?) umstandslos eingeebnet. Ein Weltstaat wird nicht gefordert. Stattdessen paaren sich Individualismus und Kosmopolitismus, ohne dass letzterer institutionell konkretisiert würde.

Der Kommunitarismus ist eine um 1980 herum in den USA entstandene Strömung der politischen Philosophie, die sich auch politisch organisierte. Einflussreiche Repräsentanten waren Robert Bellah, Amitai Etzioni, Michael Sandel, Alasdair MacIntyre, Benjamin Barber, Charles Taylor und Michael Walzer. Sie grenzen sich ab vom Liberalismus im Allgemeinen und von der Rawlsschen Variante im Besonderen. Bellah kritisierte den utilitaristischen und den expressiven (nach Selbstverwirklichung strebenden) Individualismus. Er belebte das Konzept der Zivilreligion neu, das auch in Deutschland neue Anhänger gewann (Hermann Lübbe, Niklas Luhmann). Bellah erinnerte an Alexis de Tocquevilles „Gewohnheiten des Herzens“ (1987). In „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982) wirft Sandel Rawls vor, von einem unencumbered self auszugehen. Die Ursituation klammere aus, dass Menschen in Traditionen lebten und dass ihre Auffassungen von Moral sich auf gemeinsame Vorstellungen von einem guten Leben gründeten. Barber kritisiert die liberale Demokratie, die er für die Vereinzelung und Apathie der Bürger verantwortlich macht. Sie kenne nur ein Vertragsdenken und die Mechanik der Verfahren. Ihr setzt er ein von Rousseau inspiriertes Modell einer „starken Demokratie“ (Barber 1994) gegenüber. Walzer lässt in „Spheres of Justice“ (1983) an die Stelle von Rawls’ Grundsätzen der Gerechtigkeit einen Pluralismus von Sphären und Gütern treten, die jeweils bereichsspezifischen Gerechtigkeitskriterien unterliegen. Was gerecht ist, entscheiden die Bürger partikularer Gemeinschaften aufgrund ihrer gemeinsam gemachten Erfahrungen. Diese können in anderen Gemeinschaften wiederkehren, was ein „re-iterativer Universalismus“ (Walzer 1996: 140) berücksichtigen kann. Entscheiden können aber nur reale Menschen in realen Situationen.

4. Systematik

Die V. der Neuzeit setzen auf freiwillige Zustimmung, wechselseitige Bindung und ein Sich-Vertragen-Wollen, das sich aus Nutzenüberlegungen oder höherrangigen moralischen Motiven speist. Sie begründen ein Versprechen, das als ein Versprechen zum Gehorsam wie zur Einhaltung der rechtlichen Bedingungen der Herrschaft zu deuten ist. Karl Graf Ballestrem gab 1983 eine erste systematische Klassifikation der Vertragstypen. Demnach ist zu unterscheiden zwischen ursprünglichen, faktisch einmal vollzogenen Verträgen, wie sie etwa Locke ansetzt, impliziten Verträgen, d. h. Abmachungen, die sich durch Schweigen oder Kooperieren dokumentieren, sowie hypothetischen Verträgen, die methodische Konstruktionen oder Fiktionen sind (Hobbes, Kant, Rawls). Die Klassifikation erlaubt es, sämtliche bekannten V. zu verorten. Die einzelnen Typen setzen sich jedoch, je für sich, erheblichen Einwänden aus.

Der ursprüngliche Vertrag setzt sich dem Einwand aus, dass viele, wenn nicht die meisten Staaten nicht aus Vertrag oder Konsens, sondern aus Unterwerfung, Eroberung, Usurpation etc. hervorgegangen sind. Die Annahme eines Gründungsvertrages wird umso fragwürdiger, je weiter sie in geschichtliche Anfänge zurückverlagert wird. Ein Urvertrag bindet nur jene, die ihn selbst schließen. Unter der Voraussetzung individueller Zustimmung müsste er von jeder Generation wieder neu bestätigt, in veränderter Form affirmiert oder gänzlich revidiert werden. Die Vertragsidee als solche garantiert keine Tradition und keine Stabilität. Verträge kann man schließen, aber ebenso kündigen. Wenn die Forderung nach individueller Zustimmung meint, dass alle zustimmen müssen, entsteht ein Problem mit denen, die nicht zustimmen wollen (Dürfen sie bleiben? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Oder müssen sie gehen?). Wenn Einstimmigkeit gefordert wird, kann eine moderne pluralistische Gesellschaft wohl kaum der Hintergrund einer V. sein.

Der implizite Vertrag hat den Vorzug, dass er das Schon-Bestehen von Staaten berücksichtigen kann. Man wird gewöhnlich in Staaten geboren, und es fragt sich, in welcher Form man diesem schon existierenden Staat und seiner Staatsform nachträglich zustimmen kann (oder nicht). Gemäß diesem Vertragstypus genügt es, dass jemand schweigt oder kooperiert, um daran seine Zustimmung festmachen zu können. Hier wird an die Rechtsfigur des konkludenten Handelns und an das qui tacet consentire videtur angeknüpft. Schon Sokrates berief sich auf einen impliziten Vertrag mit Athen (Plat. Krit. 50 e). In der Neuzeit rekurrieren auf diesen Vertragstypus Hugo Grotius oder Walzer. Schweigen und Mitmachen können allerdings nur als Zeichen von Zustimmung gelten, wenn die Äußerung von Kritik nicht mit schweren Sanktionen belastet wird. In autoritären oder totalitären Systemen (Totalitarismus) ist die Figur des impliziten Vertrages nicht anwendbar. Außerdem fragt sich, was als konkludenter Akt zählt und wie viele zu geben sind. Bei Locke genügen schon das Bleiben im Land, das Benutzen der Straßen und das Erbenwollen als Zeichen der Zustimmung. Aber partikulare Kooperation führt nicht zu genereller Legitimation eines Systems.

Der dritte Typus, der hypothetische Vertrag, ist argumentativ der schwächste, auch wenn er von so bekannten Autoren wie Hobbes, Kant oder Rawls propagiert wird. Herrschaft ist demnach legitim, wenn sie aus einem Vertrag freier und gleicher Personen „hätte“ hervorgehen können. Ein fiktiver Vertrag bindet jedoch keine konkreten Personen. Es lässt sich sogar bezweifeln, ob einer solchen Fiktion überhaupt der Status eines Vertrages zukommt. Fiktionen mögen aufschlussreiche Gedankenexperimente sein. Anders als ursprünglichen oder impliziten Verträgen fehlt ihnen jedoch ein wesentliches Element: die willentliche Zustimmung. Argumente ergeben noch keinen Vertrag, und Schlussfolgerungen sind noch keine Gebote.

Es ist eine fatale Neigung mancher Schulen der Philosophie, aus einem Nullpunkt heraus begründen zu wollen, quasi out of nowhere. Henry Sidgwicks „Standpunkt des Universums“ (Sidgwick 1907: 382; the point of view […] of the universe), die hypothetischen Verträge und die beliebten Lehren vom Ur- oder Naturzustand geben Beispiele dafür. Man denkt sich den Staat weg und nicht nur ihn, sondern auch die historische und gesellschaftliche Lage, ja sogar den Menschen, wie er leibt und lebt. Die Entleerung der Wirklichkeit durch die Flucht in fiktive Zustände und hypothetische Verträge will die V. durch Anthropologien kompensieren, die jedoch widersprüchlich sind. Der Mensch ist mal ein rationaler Egoist, mal ein Altruist, mal ein „Wolf“, mal ein „Lamm“. Die einen wären unfähig, Verträge glaubwürdig zu schließen und einzuhalten, die anderen hätten keine Verträge nötig, da sie sowieso schon leisten, was ihnen der Vertrag abverlangt. V. müssen von einer gemäßigten Anthropologie ausgehen, nach der der Mensch zwar eigennützig ist, aber auch kooperationsfähig und willens, einmal gegebene Versprechen zu halten. Rationaler Egoismus und Utilitarismus können dagegen nicht erklären, warum jemand Verträge nicht nur zum Schein abschließt und sich als free rider verhält.

V. sind nützliche Instrumente für die Analyse von Kooperationen und Organisationen, die durch Individualismus, Nutzenaggregation und Kooperationsgewinn gekennzeichnet sind. Sie sind deshalb bes. geeignet für ökonomische und soziologische Theorien von Märkten, Verbänden und Interessengruppen. In der politischen Theorie stoßen sie an Grenzen, wenn sie ein Mehr oder Weniger an Kooperation erfassen sollen. Bürgerfreundschaft überbietet Verträge, Feindschaft erschwert sie oder macht sie unmöglich. Es gibt aktuell Versuche, die ökonomische Rationalität auf bisher nicht dem Markt unterworfene Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit, Ehe, Familie, Gefängnisse, Schulen etc. auszudehnen. Jedoch kommt diese Transgression der Zerstörung moralischer und sittlicher Verhältnisse gleich. Schon eine Ehe ist mehr als ein Vertrag. Wenn die Eheleute sich nur auf diesen berufen, geht ihre Ehe vermutlich ihrem Ende entgegen. Analog ist ein Staat mehr als ein Vertrag oder eine Gesellschaft zum wechselseitigen Nutzen. Er ist auch eine Gemeinschaft auf Leben und Tod, eine Gemeinschaft der Generationen sowie eine Gemeinschaft des guten Lebens, der Sitten und der Kultur. Der mit vielen V. verbundene Individualismus startet schon auf dem falschen Fuß, seine tendenzielle Geschichts- und Traditionsferne ebenso. Mit V. allein ist jedenfalls kein Staat zu machen.