Bildung

  1. I. Begriff und Bedeutung
  2. II. Bildung und Gesellschaft im 20. und 21. Jh.
  3. III. Sozialethische Perspektiven

I. Begriff und Bedeutung

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Das deutsche Wort B. (englisch: education, sophistication, knowledge; französisch: éducation, formation; italienisch: formazione; spanisch: formación, educación, creación) erlaubt im Unterschied zu anderen Sprachen die Zuordnung von Bilden und Bild. Der moderne (deutsche) B.s-Begriff ist eine Erfindung des späten 18. Jh., hat aber wesentliche Grundlagen in der griechischen Antike, insb. bei Platon und in der mittelalterlichen Mystik, bes. bei Meister Eckhart.

Platons Begriff der Paideia, wie er in seiner Staatsschrift („Politeia“) entwickelt wird, geht davon aus, dass Menschen in ihren alltäglichen Lebensumständen „Gefangene“ gegebener, in ihren Grundlagen nicht durchschauter Strukturen sind. Gegenüber diesem normalen Zustand der Unbildung wird B. als ein ebenso anstrengender wie schmerzlicher Weg der Befreiung aus den vorherrschenden Meinungen und Lebensweisen durch die Hinwendung zu den Ursachen und Gründen (Ideen als Urbilder) und zu einer neuen Weltsicht und Lebensweise (Aufklärung, soziale und politische Verantwortung) durch die Suche nach dem Wahren (Wahrheit) und Guten (Gute, das; kritische Reflexion, ethische Einstellung; Ethik) begriffen. Platons B.s-Begriff besagt: Was wir als Wirklichkeit (Realität) unmittelbar wahrnehmen und annehmen, sind nur Abbilder oder Effekte einer komplexeren Wirklichkeit; erst durch die Abkehr von diesem unbefragten Wirklichkeitsbezug und die „Umkehr“ zu den (wahren) Urbildern oder Gründen können wir zur Freiheit im Sinne eines Denkens und Handelns aus dem Wahren und Guten (Primat der Idee des Guten) gelangen. B. ist nur eine Möglichkeit: Ohne Sozialisation und Wissenserwerb sind Menschen nicht überlebensfähig; ohne B. sind sie nicht frei.

Der mittelalterlichen Wortprägung bei Meister Eckhart liegt die christliche Imago-Dei-Lehre zugrunde. Sein Begriff bildunge (nach althochdeutsch bildunga für Gebilde, Gestalt) legt die Formung des Menschen nach dem Bild Gottes nahe, womit einerseits auf biblische Sichtweisen der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26) und Christusnachfolge (2 Kor 3,18), zum anderen auf neuplatonische (v. a. plotinische) Gedanken der Rückführung von Welt und Mensch in Gott zurückgegriffen wird. B. ist nach Meister Eckhart ein stufenweiser Prozess des Freiwerdens von unzureichenden Bildern und „Einbilden“ in Gott bis hin zu einer letzten Einheit (unio mystica), in der der Mensch sein Ich aufhebt („Vergottung“). Die Dialektik des Gestaltens im Prägen und Leerwerden, im „bilden“ und „entbilden aller Bilder“ kennzeichnet jede Stufe des Prozesses und zielt auf ein letztes Loslassen auch noch der Gottesbilder.

Die naturmystisch-organologische B.s-Lehre des Paracelsus im 16 Jh. betont den Gedanken einer allen Dingen mitgegebenen Zielrichtung auf eine durch göttliche Einbildung keimhaft angelegte Form, die sich im Prozess ihres Wachsens und Werdens erst entfaltet. Bilden bedeutet hier, das eingestiftete Bild dynamisch auszuformen.

Bei Jan Amos Comenius führt die Imago-Dei-Lehre in der Synthese platonisch-plotinischen Denkens mit christlichen und ersten aufklärerischen Motiven zu einem weitreichenden bildungstheoretischen Entwurf mit praktischem Impetus. Er rückt allgemeine B. (Pan-paideia) in den Mittelpunkt eines umfassenden Reformprojekts religiöser, wissenschaftlicher und politischer Erneuerung. Erstmals fordert er B. für alle Menschen, in jeder Lebensphase anders („Lebensschulen“).

Bis weit ins moderne B.s-Denken hinein hat die Imago-Dei-Lehre fortgewirkt, am ungebrochensten in seiner religiös-christlichen Bedeutung bei Johann Gottfried von Herder und Johann Heinrich Pestalozzi. Seit Humanismus und Aufklärung verbindet sich damit zunehmend der Gedanke einer freien Selbstbestimmung, der schließlich ganz in den Mittelpunkt rückt. Bereits bei Giovanni Pico della Mirandola wird die „Würde des Menschen“ als Freiheit und Selbstbestimmung durch B. gedeutet. Gott habe ihm im Unterschied zu allen anderen Geschöpfen „kein deutlich unterscheidbares Bild“ mitgegeben, sondern ihn aufgefordert: „[…] du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen“ (Pico della Mirandola 1996: 8 f.).

Die Aufklärung macht diesen Gedanken zum Projekt der Menschheit. In neuer Befragung der menschlichen Natur als offenem Spielraum menschlicher Anlagen wird der Vernunft (Vernunft - Verstand) die geschichtliche Selbstentfaltung der Menschheit zugewiesen. Nach Distanzierung traditioneller Bestimmungen formuliert Jean-Jacques Rousseau: „Wir wissen nicht, was unsre Natur uns zu sein erlaubt“ (Rousseau 1978: 156). Immanuel Kant erhebt zur Aufgabe der Menschheit, alle Anlagen in freier (ethischer) Selbstbestimmung zu entfalten. Leitend wird dabei der allgemeine Anspruch auf Befreiung aus Heteronomie, sei es durch metaphysisch und religiös begründete Welt- und Gesellschaftsordnungen, sei es durch strukturelle und politische Bevormundung. Moderne Anthropologie im Sinne humaner Selbstreflexion und Selbstorientierung wird dadurch erst möglich (I. Kant, J. G. von Herder). Im Neuhumanismus individualisiert sich dieser Anspruch: Unter dem Bezugshorizont einer als solche erst langsam sichtbar werdenden Menschheit wird jeder einzelne auf unvorgreifliche Weise in der Entfaltung seiner Person zum Selbstzweck (Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt). Der Mensch entwirft und gestaltet sein eigenes Bild durch B.; es ist nach W. von Humboldt die „letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen […]“ (Humboldt 1959: 25). Während für W. von Humboldt die entfaltete Individualität, die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt 1959: 5), als je andere Repräsentation der Menschheit zum Ziel der B. wird, fassen Friedrich Schleiermacher und Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Wechselwirkung zwischen Allgemeinem und Besonderem in eine dialektische Theorie (Dialektik). Nach F. Schleiermacher zielt B. in einem offenen, spannungsreichen Prozess gleichermaßen auf persönliche Individualität und auf Gesellschaft als Kulturgemeinschaft, nach G. W. F. Hegel tritt die individuelle B. als „Abarbeiten“ von Subjektivität in den Dienst des objektiven Geistes, der sich durch seine geschichtlichen Gestalten und die Aufhebung seiner Widersprüche hindurch zur absoluten Identität des Geistes mit sich selbst erhebt. B., bei W. von Humboldt und F. Schleiermacher gedacht als offener Prozess menschlicher Selbstverständigung, geht bei G. W. F. Hegel als vorbereitendes Moment in einen absoluten Prozess ein.

Sowohl die Autonomie des Subjekts als auch die Macht des Geistes werden bereits Ende des 19. Jh. fraglich. Karl Marx stellt das Hegelsche System „vom Kopf auf die Füße“ und betont die Abhängigkeit allen geistig-kulturellen Lebens und des Bewusstseins selbst von gesellschaftlich-ökonomischen Strukturen. Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche relativieren die Vernunft durch die Macht des Begehrens. F. Nietzsches B.s-Kritik dokumentiert die Pervertierung des humanistischen B.s-Ideals in seiner bloßen Instrumentalisierung für nationalökonomische Zwecke des Staates und soziale Aufstiegswünsche des Bürgertums (Bürger, Bürgertum). Eine für politische Berechnung und materiellen Gewinn „in Dienst genommene“ (Nietzsche 1980, Bd. 1: 667) B. verliere ihre geistige Weite und humanisierende Kraft. Dem könne nur durch individuelle B.s-Arbeit über die Masse hinaus und in unzeitgemäßer Verantwortung vor der „Genialen-Republik“ (Nietzsche 1980, Bd. 7: 562) entgegengewirkt werden.

Søren Kierkegaard stellt den empirischen endlichen Menschen in seinem Einzeldasein heraus, der in seiner Selbstverwirklichung vor dem unausweichlichen „Entweder-Oder“ seiner eigenen Existenz steht, die durch je situative Entscheidungen (Entscheidung) immer aufs Spiel gesetzt werde. In Kritik an G. W. F. Hegels absolutem Systemdenken werden in der Existenzphilosophie des 20. Jh. spannungsreiche und unversöhnliche Gegensätze als Gefährdung des je eigenen Selbstwerdens und Seinkönnens bedacht (Jean-Paul Sartre, Karl Jaspers, Romano Guardini). Wilhelm Dilthey und seine Schüler greifen, bes. in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, auf F. Schleiermachers Kulturphilosophie zurück und deuten B. als wechselseitigen Prozess von Kulturschaffen und Selbstwerden.

In Anknüpfung an G. W. F. Hegel und K. Marx betonen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Kritischen Theorie den engen dialektischen Zusammenhang von gesellschaftlicher und geistiger Entwicklung. Im Begriff der B. wird vor diesem Hintergrund eine innere Widersprüchlichkeit aufgedeckt, die ihren Verfall bedingt: B. richtet sich in dem Moment gegen sich selbst, in dem sie sich als reine Geistes-B. von der Gestaltung der Welt abkoppelt, und sie macht sich zum beliebigen Herrschaftsinstrument, indem sie objektivierend fixiert und benutzbar wird. Die grundlegende Spannung zwischen Hingabe und Selbstgewinn, Entfremdung und veränderter Selbstwerdung, die B. zu einem geschichtlichen Drama und existenziellen Wagnis macht, geht verloren durch die gesellschaftliche Transformation von B. in Halbbildung. Befördert durch Kulturindustrie wird B. zur „sozialisierten Halbbildung“ (Adorno 2006: 8), wo das „Halbverstandene und Halberfahrene“ (Adorno 2006: 42), das nicht Schwundstufe, sondern „Todfeind“ (Adorno 2006: 42) der B. ist, genügt, um den Warenhandel mit Zertifikaten zu ermöglichen und die gesellschaftlichen Belohnungssysteme zu bedienen. B. hat sich im – nach T. W. Adorno irreversiblen – Verfall zur Halbbildung in ihr Gegenteil verkehrt, da sie nicht mehr das Fraglichwerden und Neugestalten von Selbst- und Weltverhältnissen meint, sondern nur noch Anpassung an gesellschaftliche und ökonomische Systeme. In seiner „Theorie der Unbildung“ hat Konrad Paul Liessmann kürzlich eine Zuspitzung der Diagnosen T. W. Adornos vorgenommen: Während der Zustand der Halbbildung noch im Verfall an der Idee der B. festgehalten habe, verabschiede sich die Gegenwart durch „akklamierte Geistlosigkeit“ (Liessmann 2006: 70) von dieser Idee als Maßstab.

Von Anfang an wurde B. im Modus der Möglichkeit gedacht, ihre Verwirklichung als Wagnis. Soweit dieses Wagnis nicht (mehr) von religiösen und metaphysischen Sicherungen getragen ist, wird die Verantwortung für die Gestaltung des Menschseins eine radikale. Sie hat anthropologische und politische, gesellschaftliche und individuelle, persönliche und mitmenschliche Dimensionen. Die Frage: „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ (Bieri 2012) fordert kein fertiges Bild, sondern einen Entwurf menschlichen Seins, und nicht nur menschlichen Könnens, in allen diesen Dimensionen heraus. Im Hinblick auf eine in konkreten gesellschaftlichen Bedingungen immer nur unzureichend verwirklichte Humanität muss ein solcher Entwurf immer auch als Gegen-Bild zu faktischen Verhältnissen angelegt sein. B. ist ein normativer Begriff, insofern er auf Veränderung als Erweiterung und Verbesserung zielt; er ist ein offener Begriff, insofern er die Maßstäbe der Humanisierung nicht fixieren kann, sondern in einen geschichtlichen Diskurs aussetzen muss. Zum Grundgedanken der B. gehört dabei die Einsicht: Je weiter der Blick in die Geschichte zurückreicht, desto differenzierter kann das Urteil über Gegenwart und Zukunft werden. Der prinzipielle Zukunftsbezug der B. kann durch Geschichtsvergessenheit nicht unterstützt, sondern nur beschnitten werden (Helmut Peukert, Peter Bieri). Ein aktueller Begriff von B. wird auch unter Berücksichtigung veränderter Bedingungen wie globaler Technologisierung und Ökonomisierung aller Beziehungen die Würde und Freiheit der Person schützen und Einseitigkeit sowie Reduktionen von Sachansprüchen vermeiden helfen. Dehumanisierungsprozessen entgegenzuwirken, ist dem B.s-Begriff mit dem „Humanismus als Leitkultur“ (Nida-Rümelin 2006) eingeschrieben.

Als Grundmomente von B. sind demgemäß zu nennen:

a) Unvertretbarkeit der Person: B. betrifft Menschen in ihrem eigenen Personsein und ist daher nur begrenzt vermittelbar. B. meint vom Begriff her immer Selbst-B., da sie in der reflexiven Verbindung von Weltverhältnis und Selbstverhältnis ihren Ursprung hat. Sie kann angeregt und angestoßen, aber niemals bewirkt oder produziert werden. Wie immer B. pädagogisch herausgefordert oder unterstützt werden mag; vollzogen werden muss sie vom Sich-Bildenden selbst.

b) Betroffenheit der gesamten Person: B. betrifft das Werden der Person als solche bzw. die Menschwerdung des Menschen. Sie lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb von Kompetenzen, die auf ein fixierbares und beherrschbares Können vom lebendigen Subjekt ablösbar sind, sondern meint die Wege, durch die Menschen ihr Zur-Welt-Sein gewinnen und gestalten, einschließlich der Umwege und des Scheiterns (seit Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister). Die kritische Unterscheidung von B. und Ausbildung gehört daher zum Kern der B.s-Theorie, nicht um die große Bedeutung professioneller und (hoch)spezieller Ausbildung zu leugnen, sondern um die unterschiedlichen Zielsetzungen beider nicht aus den Augen zu verlieren.

c) Spannung von Selbstwerden und Fremdwerden: B. schließt die Notwendigkeit der Entfremdung ein, die durch ein Sich-Einlassen auf Unbekanntes und die Distanz, das Fraglichwerden des bisher Selbstverständlichen entsteht. Ein Sich-Fremdwerden gehört notwendig zum B.s-Prozess, insofern es mit dem Grad der Auseinandersetzung die Möglichkeit einer komplexeren neuen Sichtweise bestimmt. Statt Abwehr und Immunisierung setzt B. voraus, dass Auseinandersetzung mit Sachfragen und Mitmenschen dem Prozess der Selbstwerdung nicht äußerlich bleibt.

d) Anspruch der Sache, Ansprache von Mitmenschen: Die Bewegung des Selbsttranszendierens hat in der B.s-Theorie nicht nur die Zielrichtung der Aneignung, sondern auch die der Anerkennung des Anderen. Der Modus des Im-Anderen-zu-sich-selbst-Kommens kann immer nur eine Seite von B. sein, die als Veränderung immer auch die Akzeptanz des Andersseins und Anderswerdens beinhaltet. Damit verbindet sich sowohl der Toleranzgedanke (Toleranz) als Anerkennung des vom Anderen Begrenztseins als auch der Anspruch der Verantwortung als Anerkennung des vom Anderen Beanspruchtwerdens.

e) Suche nach Erkenntnis, Aufklärung, Kritik: B. geht immer über die Beschaffung von und den Umgang mit positiven Kenntnissen hinaus und fragt nach deren sachlichen Gründen bzw. den geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen der Entstehung von Denkweisen. Sie vollzieht sich als reflexiver Prozess der Aufklärung über die Abhängigkeiten und Verstricktheiten des Subjekts, das ihnen nie entkommen, aber sich auf diese Weise neu zu ihnen verhalten kann, wie auch über Widerständigkeiten der Sache, die sich durch kritische Verschiebungen von Perspektiven neu zur Sprache bringen kann.

f) Reflexion des Handelns, moralische Sensibilität: B. geht mit dem Bedenken von Kontexten und Konsequenzen des eigenen Handelns einher. Das schließt Verantwortung im ethischen Sinne ein, ohne sich auf je bestehende Moralkodizes (Moral) von Normen und Werten zu reduzieren, deren Grundlagen vielmehr kritisch überprüft und im historischen und interkulturellen Vergleich erwogen werden müssen.

g) Haltung, Ethos, Selbstsein und Mit-sein: Zielhorizont von B. ist eine auf eigenes und fremdes Sein gerichtete verantwortliche Haltung, die die Sorge für das eigene gute Leben mit den Lebensbedingungen anderer Menschen und Lebewesen zusammen sieht und sie nicht nur als Ressourcen nutzt und evtl. zerstört. Sorge für ein gemeinsames gutes Leben schließt Sorgsamkeit im Umgang mit kulturellen „Lebensmitteln“, mit Sprache, mit Kunst und mit Medien ein. Gegenüber der Bedienung eingespielter Muster erfordert dies eine Zeitstruktur des Wartens, der Unterbrechung und Verzögerung.

h) Gesellschaftliche und politische Verantwortung: B. schärft Bewusstsein für gewordene gesellschaftliche Ungleichheiten, für Herrschaftsstrukturen und Machtstrategien, durch die Freiheitsspielräume eröffnet und geschlossen werden. Politische B. zielt nicht nur auf die Ermöglichung aktiver Beteiligung am politischen Leben, sondern auch auf Widerständigkeit gegen dehumanisierende Strukturen und Entwicklungen im Sinne einer wehrhaften Demokratie.

Insgesamt ist B. als Grenzbegriff zu verstehen, der bloß technologische Sichtweisen in Erziehung und Gesellschaft in Frage stellt und auf die Möglichkeit von Personen verweist, sich in den sie unterwerfenden Strukturen ein eigenes Bild zu machen und zu verändern. Solche Veränderung ist kein bloßer Selbstvollzug, sondern immer auch Selbstüberschreitung und kann nur von Herausforderungen des Anderen und Fremden in Gang gesetzt und mitgetragen werden. B. ist deshalb im strengen Sinne weder planbar noch messbar und dient umgekehrt als kritisches Korrektiv bei allen Planungen und Messungen von Leistungen in pädagogischen Bereichen.

II. Bildung und Gesellschaft im 20. und 21. Jh.

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Bis zur Mitte des 19 Jh. dominierte eine (neu-)humanistische Lesart des B.-Begriffs. Unter B. wurde Persönlichkeits-B. verstanden, also eine Aneignung von Welt, die einer zweckrationalen an berufliche Positionen ausgerichteten Betrachtung von B. entgegengesetzt war. Der Ort, an dem B.s-Arbeit geleistet wurde, war die Familie. Gegen Ende des 19. Jh. wurden viele Leistungen, die zuvor innerhalb der Familie erbracht werden mussten, institutionalisiert. Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen entlasteten die Familie von wichtigen Aufgaben. Zu dieser Transformation familialer Aufgaben in staatliche Verantwortung gehört auch die Institutionalisierung von B. Im 20. Jh. wurde daher ein Großteil der B.s-Zeit sukzessive in staatliche Institutionen (Institution), dem B.s-System, verlagert; B. erhielt ein Curriculum und eine Funktion. Gerade die zweite Hälfte des 20. Jh. ist gekennzeichnet durch einen Bedeutungswandel von einer gestiegenen Nachfrage nach und einer Institutionalisierung von B.

1. Bedeutungswandel von Bildung

Für die Gesellschaft der Nachkriegszeit stellte zuerst der Soziologe Pierre Bourdieu einen umfassenden Wandel der Unternehmensstrukturen fest. In den Nachkriegsjahren entwickelten sich viele Familienunternehmen zu großen Unternehmenskonzernen (Konzern), sodass ein neuer Organisationsmodus erforderlich wurde. Die Unternehmen führten für die Rekrutierung von Mitarbeitern „rationale“ Rekrutierungsmechanismen ein. Begehrte Positionen konnten nicht mehr einfach durch den Firmenpatriarchen bestimmt, sondern mussten durch formale Organisationseinheiten (Personalabteilungen oder Aufsichtsräte) legitimiert werden. Als neutrales Entscheidungskriterium für die Vergabe beruflicher Positionen fungierten B.-Zertifikate. B., verstanden als formelle B., erhielt eine Aufwertung ihrer Qualifizierungsfunktion. Durch die enge Verbindung zwischen (Aus-)B., Beruf und Einkommen bzw. sozialer Position bekam B. nun auch eine soziale Allokationsfunktion. B. wurde sukzessive als Mittel des Statuserhalts eingesetzt. Durch die gestiegene Bedeutung von B. für die berufliche und somit auch soziale Verortung stieg die B.s-Aspiration. Diese gestiegene Nachfrage nach B. seit den 1960er Jahren führte zu einem massiven Ausbau des B.s-Systems und wird daher in der Summe auch als B.s-Expansion bezeichnet.

2. Die Bildungsexpansion

2.1 Bildungsreformen

Die 1950er Jahren waren durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges geprägt. Es herrschte ein Mangel sowohl bzgl. der Infrastruktur als auch des Personals. Ferner machten unterschiedliche Vorstellungen von der Ausgestaltung staatlich organisierter B.s-Prozesse eine Koordination auf Bundesebene erforderlich. So wurde 1948 die KMK gegründet, um u. a. Absprachen über B.s-Reformen zu treffen. 1955 unterzeichneten die Kultusminister das „Düsseldorfer Abkommen“, in dem sich auf eine Dreigliedrigkeit des B.s-Systems geeinigt wurde. Erst 1964 unterzeichneten die Kultusminister das „Hamburger Abkommen“, in dem wegweisende B.s-Reformen auf den Weg gebracht wurden. Bes. folgenreich für das B.s-System war, dass nun erstmalig Schulversuche zugelassen wurden, die eine andere Schulstruktur neben der Dreigliedrigkeit zuließen. Gesamtschulen konnten jetzt in einigen Bundesländern eingeführt werden. Die 1960er waren somit der Startpunkt eines Prozesses, der eine Ausdifferenzierung des B.s-Systems zur Folge hatte. Trotz der zahlreichen B.s-Reformen blieb aber die Grundstruktur des deutschen B.s-Systems bis zum Ende des 20. Jh. erhalten. Die Reformen hatten nicht dazu geführt, dass die Dreigliedrigkeit des B.s-systems grundsätzlich in Frage gestellt oder gar durch ein anderes Modell abgelöst wurde.

Dies änderte sich erst zu Beginn des 21. Jh. 2001 sorgte eine internationale Vergleichsstudie (die PISA-Studie) erneut für große Bewegung im B.s-System. Wie bereits in den 1960er Jahren wurde die Wettbewerbsfähigkeit der BRD durch das schlechte Abschneiden deutscher Schüler in Gefahr gesehen. Im Gegensatz zu der ersten „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) wurde nun aber in fast allen Bundesländern die Dreigliedrigkeit des B.s-Systems aufgelöst. Zwar blieb das Gymnasium als eigenständige Schulform (Schule) unangetastet, daneben existiert nun aber in fast allen Bundesländern nur noch eine weitere Schulform (Schulen mit mehreren B.s-Gängen oder Gesamtschulen). Das dreigliedrige Schulsystem wurde durch ein Zwei-Säulen-Modell ersetzt. Auch das Gymnasium wurde reformiert. In den meisten Bundesländern wurde das 13. Schuljahr abgeschafft und durch ein achtjähriges Gymnasium (G 8) ersetzt. Die Hochschulen sind ebenfalls zum Gegenstand der größten Reformmaßnahmen der Nachkriegszeit geworden. Die Diplom- und Magisterstudiengänge wurden durch Bachelor- und Masterstudiengänge ersetzt und modular aufgebaut. In der Zeit nach 2000 wurden so zahlreiche B.s-Reformen durchgesetzt, die die Reformen der 1960er Jahre weit übertreffen. Die B.s-Reformen waren eine Reaktion auf eine zunehmende Nachfrage nach B., wobei sicherlich einige Reformen selbst eine höhere Nachfrage ausgelöst haben.

2.2 Bildungsbeteiligung

Zwischen 1955 und 2010 nahm der Anteil an Schülern die ein Gymnasium besuchten von 16 % auf 36 % zu. Der Anteil an Realschülern verdreifachte sich von 9 % auf 27 % und der Anteil an Schülern, die eine Hauptschule besuchten, reduzierte sich von 74 % auf 17 %. Seit 1995 werden auch die Anteile an Schülern von Schulen mit mehreren B.s-Gängen berücksichtigt. Ihr Anteil hat seit 1995 (17 %) leicht zugenommen und betrug im Jahr 2010 22 %. Trotz steigender Zahlen von Personen mit einer (Fach-)Hochschulreife ist aber der Anteil der (Fach-)Hochschulabschlussquoten von 77 % für die Geburtskohorte 1949–53 auf 54 % für die Geburtskohorte 1974–78 gesunken. Von der gestiegenen B.s-Aspiration waren daher die Hochschulen zumindest bis zu Beginn des 21. Jh. ausgeschlossen. Die gestiegenen absoluten Zahlen der Studierenden sind daher auf die starke Expansion der Gymnasien zurückzuführen.

2.3 Soziale Ungleichheit trotz Bildungsexpansion

Mit der B.s-Expansion war der Wunsch nach sozialer Aufwärtsmobilität verbunden. Michael Vester kann für die zweite Hälfte des 20. Jh. in Westdeutschland aufzeigen, dass die B.s-Expansion nicht zu einer vertikalen sondern zu einer horizontalen Mobilität innerhalb des sozialen Schlichtungsgefüges geführt hat. Die gestiegene Nachfrage nach gymnasialer Schul-B., so sein Befund, wird eher durch ein verändertes B.s-Verhalten der oberen Schichten erklärt. Die Kinder aus der Mittelschicht hingegen besuchten zunehmend eine Realschule. Darüber hinaus fanden auf dem Arbeitsmarkt eine Ausdifferenzierung und eine Kompetenzsteigerung vieler Berufsfelder statt, die eine Höherqualifizierung erforderlich gemacht haben. Dies ging aber nicht mit einer sozialen Aufwertung der Berufe einher, sodass eine höhere Qualifikation lediglich eine Voraussetzung für den Statuserhalt war. Zwar erhöhte sich gegen Ende des 20. Jh. auch die Beteiligung am Gymnasium für alle sozialen Schichten, dafür verschob sich die sozial selektive B.s-Beteiligung auf den tertiären Bereich, den (Fach-)Hochschulen (Hochschulen). Mit seiner Analyse kann M. Vester das Paradoxon auflösen, weshalb trotz der massiv gestiegenen Nachfrage nach höherer B. sich nicht automatisch soziale Ungleichheiten aufgelöst haben, denn bis heute lassen sich für Deutschland starke Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und B.s-Beteiligung feststellen. Dabei haben sich die Dimensionen sozialer Ungleichheit durchaus verschoben.

Während Ralf Dahrendorf noch in den 1960er Jahren v. a. Mädchen, Landkinder und Arbeiterkinder als benachteiligte Gruppen beschrieb, zeigt Rainer Geißler, dass sich der Rückstand der Mädchen in einen Vorsprung bzgl. der Partizipation am Gymnasium umgewandelt hat und dass eine neue Dimension sozialer Ungleichheit, der Migrationsstatus, hinzugekommen ist. Der Ungleichheitsabbau im Bezug auf das Geschlecht ist aber nur dann zu beobachten, wenn man den Fokus auf das allgemeinbildende Schulsystem legt. Ungleiche Zugangschancen für Frauen sind nach wie vor im Berufs- bzw. Ausbildungssystem festzustellen sowie bei dem Einstieg in den Beruf. Auch weisen aktuelle Studien den Migrationsstatus als eigenständigen Einflussfaktor zurück. Unter Kontrolle soziokultureller Merkmale verliert der Migrationsstatus seine Erklärungskraft für ungleiche B.s-Chancen zwischen Migranten und Nicht-Migranten. Konsens besteht aber weiterhin darin, dass es nach wie vor einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und B.s-Beteiligung gibt. Obgleich einige Studien darauf hinweisen, dass sich die Stärke des Zusammenhangs seit den 1960er Jahren reduziert hat, gilt heute immer noch, dass je höher der B.s-Abschluss der Eltern, je höher deren Einkommen und/oder je höher deren beruflicher Status ist, desto größer sind die Chancen ihrer Kinder hohe B.s-Abschlüsse zu erreichen.

3. Ausblick

Während für die zweite Hälfte des 20. Jh. eine Expansion der Realschulen und Gymnasien beobachtet werden konnte, so scheint sich nun im zweiten Jahrzehnt des 21. Jh. diese Entwicklung an den Hochschulen fortzusetzen. Seit 2009 hat der größte Anstieg der Studierendenquote in der Nachkriegszeit stattgefunden. In nur zwei Jahren ist der Anteil von ca. 35 % auf ca. 50 % angestiegen. Diese Entwicklung ist höchst wahrscheinlich auf die Etablierung der neueren Bachelorstudiengänge und auf die damit einhergehende Verkürzung einer hochschulischen Ausbildung zurückzuführen. Diese Entwicklung wirft aber einige Fragen auf: Wenn die Anzahl der Studienanfänger in eine ähnlich hohe Absolventenzahl übergehen wird, dann bleibt es abzuwarten, ob der Arbeitsmarkt auch eine entspr. große Anzahl an Arbeitsplätzen für die große Zahl der Absolventen zur Verfügung stellen wird. Es wird sich dann zeigen, ob der propagierte Fachkräftemangel tatsächlich so groß ist. Aus soziologischer Sicht wiederum ist die Frage spannend, wie sich diese B.s-Expansion sozialstrukturell zusammensetzt und welche sozialstrukturellen Auswirkungen diese Expansion auf das soziale Gefüge der Gesellschaft haben wird. Mit Blick auf die empirischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte ist nicht davon auszugehen, dass sich die sozialstrukturellen Unterschiede aufgelöst haben. Wahrscheinlicher ist, dass die sozialen Selektionsmechanismen durch die vertikale Zweiteilung der hochschulischen Ausbildung in Bachelor- und Masterstudiengänge, nur nach hinten verlagert werden. Auch wenn sich soziale Disparitäten der B.s-Beteiligung in den letzten Jahrzehnten verlagert oder verschoben haben, nivelliert haben sie sich nie.

III. Sozialethische Perspektiven

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1. Bildungsgerechtigkeit

B. ist in mehrfacher Hinsicht eine Ressource: um sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen zu können, Anerkennung durch andere zu erfahren, Selbstachtung zu erwerben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ohne angemessene B.s-Abschlüsse hat man kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt, verdient i. d. R. weniger und trägt ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Menschen mit niedriger B. beteiligen sich meist weniger an politischen Prozessen (Partizipation), sind weniger in Gewerkschaften oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Zivilgesellschaft) engagiert, sind weniger gut informiert und haben dementsprechend weniger Möglichkeiten, ihre Interessen (Interesse) effektiv zu vertreten. Ohne entsprechende Kompetenzen ist es auch schwer, im Alltag zurechtzukommen und bspw. effizient einen eigenen Haushalt zu führen, v. a. wenn man nur über geringe finanzielle Mittel verfügt. Nicht zuletzt gibt es einen klaren Zusammenhang von B. und Gesundheit. Menschen mit niedriger B. haben eine geringere Lebenserwartung. All diese Hinweise machen deutlich, dass die im GG garantierten Freiheitsrechte, die über den Sozialstaat angestrebte Bedarfsgerechtigkeit und die über Marktprozesse zu erreichende Leistungsgerechtigkeit ohne faire Chancengerechtigkeit nicht viel wert sind. Dabei ist B. diejenige Ressource, die es erlaubt, Chancen überhaupt wahrzunehmen. Wie B. und B.s-Chancen in einer Gesellschaft verteilt sind, ist deshalb eine eminent wichtige Gerechtigkeitsfrage (Gerechtigkeit).

2. Menschenrecht auf Bildung

Das Menschenrecht auf B. ist erstmals prominent im Art. 26 der AEMR der UNO 1948 formuliert worden. Es fordert für alle Menschen eine allgemeine, kostenfreie und verpflichtende Teilnahme an der Grund-B. und einen diskriminierungsfreien, nach Leistung und Begabung ausgerichteten Zugang zu höherer B. Im zweiten Absatz werden auch B.s-Ziele wie die volle Entfaltung der Persönlichkeit, Toleranz gegenüber anderen Nationen, Rassen und Religionen sowie die Förderung der Friedenstätigkeit der UNO formuliert. Der dritte Absatz fordert ein vorrangiges Erziehungsrecht für die Eltern. Inzwischen hat das Menschenrecht auf B. auch Eingang in verschiedene internationale Konventionen und Menschenrechtspakte gefunden. Im GG der BRD wird es nicht explizit formuliert, in den Landesverfassungen kommt es teilweise in expliziter, teilweise in eher indirekter Formulierung vor.

3. Konkretionen

Gemäß der für alle Menschenrechte geltenden Pflichtentrias (respect – protect – fulfil) müssen die Staaten (Staat) selbst das Menschenrecht auf B. respektieren, dürfen insb. niemanden daran hindern sich zu bilden und B.s-Einrichtungen zu besuchen, müssen also insb. einen diskriminierungsfreien Zugang garantieren. Das bedeutet auch, dass bspw. Kindern von Migranten, selbst solchen ohne legalen Aufenthaltsstatus, der Besuch einer Schule nicht verweigert werden darf. Die Staaten müssen das Recht auf B. eines jeden Menschen auch gegenüber Dritten, notfalls auch gegenüber den Eltern schützen. Dem dient im Grunde auch die Schulpflicht. Schließlich müssen Staaten selbst auch B.s-Einrichtungen betreiben, sofern, was die Regel ist, nicht andere Anbieter genügend viele B.s-Einrichtungen, die ja für die Grund-B. auch kostenlos sein müssen, zur Verfügung stellen. Dabei dürfen staatliche Schulen nicht von schlechterer Qualität sein als andere, da sonst das Prinzip der Diskriminierungsfreiheit (Diskriminierung) nicht gewährleistet wäre. Zur Operationalisierung des Rechts auf B. hat sich ein „4-A-Schema“ als bes. fruchtbar erwiesen, das in UN-Menschenrechtsausschüssen entwickelt und durch die B.s-Berichterstatter der UNO auf das Menschenrecht auf B. angewandt worden ist. Es umfasst Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (accessibility), Annehmbarkeit (acceptability) und Adaptierbarkeit (adaptability). Verfügbarkeit meint, dass überhaupt B.s-Einrichtungen in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Diese müssen dann allerdings auch für diejenigen, die sie benötigen, zugänglich sein. Das allein würde jedoch noch nicht ausreichen, wenn die Art des B.s-Angebots aus der Perspektive der zu bildenden Menschen aus moralischen oder religiösen Gründen oder aus Mangel an Qualität nicht akzeptabel wäre. Schließlich müssen B.s-Angebote so gut wie möglich auf die Bedürfnisse der zu bildenden Personen ausgerichtet sein, insb. auf ihre Sprache, ihren lebensweltlichen Hintergrund, ihre späteren beruflichen Möglichkeiten usw. B. ist nämlich nur dann möglich, wenn das Angebot zu den B.s-Nachfragern passt.

4. Bildungsreformen

Verschiedene empirische Untersuchungen, darunter v. a. die bekannten PISA-Studien, haben gezeigt, dass es dem deutschen B.s-System kaum gelingt, Unterschiede der Herkunftsfamilien auszugleichen und so Chancengerechtigkeit herzustellen. Kinder von Eltern mit einem hohen B.s-Abschluss werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen hohen B.s-Abschluss erreichen, während Kinder von Menschen mit einem niedrigen B.s-Abschluss meist nur einen solchen erreichen werden. Die Ursachen dafür sind vielfältig, werden aber durch entsprechende Reformen allmählich abgemildert. Wegen hoher Kindergartengebühren kamen lange Zeit gerade Kinder aus sozial schwachen, insb. aus Migrantenfamilien, kaum oder erst spät in den Genuss frühkindlicher B. (Früherziehung). Die Schullaufbahnempfehlungen nach der Grundschule zum Übergang in Hauptschule, Realschule oder Gymnasium orientierten sich oft nicht in erster Linie an Begabung oder Leistung, sondern an der sozialen Herkunft. In einem mehrgliedrigen Schulsystem gibt es latent immer die Versuchung für die Lehrpersonen, schwächere Schüler auf niedrigere Schularten zu verweisen, anstatt sie so zu fördern, dass sie dem Lernprozess der Klasse folgen können. Während Schüler von gebildeteren Eltern am schulfreien Nachmittag ein vielseitiges Freizeitprogramm, oder, wo nötig, auch teuer bezahlte Nachhilfestunden angeboten bekommen, erhalten Schüler aus sozial schwächeren Familien selten eine solche zusätzliche Förderung. Dementsprechend lauten die (immer auch umstrittenen) Reformforderungen: Die frühkindliche B. sollte bei kostenlosem Zugang zu entsprechenden Einrichtungen verbessert werden. In dieser Phase sind sprachliche Defizite und Mängel in den sozialen Kompetenzen, die sich bei einigen Kindern aus dem familiären Hintergrund ergeben, noch am ehesten auszugleichen. Außerdem besteht hier die Chance, auch bildungsferne Eltern in die Arbeit mit einzubeziehen und für die Notwendigkeit von B. zu sensibilisieren. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Angebote für Kleinkinder und Vorschulkinder nicht als „Betreuungsangebote“, sondern dezidiert als „B.s-Angebote“ verstanden werden. Durch den Aufbau von Ganztagsschulen sollten auch Kinder aus sozial schwächeren Familien eine über den reinen Unterricht hinausgehende, umfassendere Förderung erhalten. Dies wäre außerdem ein Beitrag zur leichteren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der ganztägige Besuch müsste jedoch für alle Schüler obligatorisch sein, weil sonst der Besuch der Schule am Nachmittag möglicherweise eine diskriminierende Wirkung haben könnte oder durch eine Selektion bestimmter Schüler für den Nachmittagsunterricht Segregationswirkungen entstehen könnten. Durch die Abschaffung der Mehrgliedrigkeit zugunsten integrierter Gesamtschulen wird vermieden, dass schon sehr früh falsche Schullaufbahnentscheidungen getroffen werden und sich in einer Hauptschule als „Restschule“ nur noch die schwächeren Schüler sammeln, die sich nicht gegenseitig fordern und fördern, sondern eher entmutigen und Leistung sozial ächten, Mechanismen der Selbstexklusion gegenseitig fördern und so eine Spirale nach unten in Gang setzen. Integrierte Gesamtschulen können auch dazu beitragen, dass Schüler unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Begabungen diese Differenzen schätzen lernen und damit ein Potenzial für gesellschaftliche Integration bilden. Für den B.s-Erfolg ist letztlich jedoch die Qualität der direkten Interaktion im Unterricht selbst entscheidend, insb. dann, wenn die notwendigen Differenzierungen für je individuelle Förderung nicht über Schultypen, sondern über die Binnendifferenzierung erfolgen sollen. Deshalb sind zusätzlich auch eine Verbesserung der Diagnosefähigkeiten und der didaktischen Fähigkeiten der Lehrer sowie eine Verbesserung der Anreize für Schulen notwendig, damit sie selbst kreativ werden, um die Qualität ihrer Einrichtung und des Unterrichts zu steigern. Einige dieser Forderungen stoßen auf heftigen Widerstand einer Mittelschicht, die in einer gewissen „Bildungspanik“ (Bude 2011) um die Chancen ihrer Kinder fürchtet, wenn sie sich dank einer Verbesserung des B.s-Systems einer größeren Konkurrenz „von unten“ ausgesetzt sehen. Angesichts des demographischen Wandels, des zunehmenden internationalen Wettbewerbs und der notwendigen Investitionen für eine Transformation der Gesellschaft in Richtung von mehr Nachhaltigkeit werden jedoch auch die gehobeneren Schichten ihre Position nicht halten können, wenn nicht in Zukunft die B.s-Potenziale aller Schichten, bes. auch der Kinder mit Migrationshintergrund, genutzt werden – abgesehen davon, dass diese darauf tatsächlich auch ein Recht haben.

5. Kooperative Bildungsverantwortung und Bildungsfinanzierung

An B.s-Prozessen sind i. d. R. viele Personen und Instanzen beteiligt, was die Steuerung eines B.s-Systems (Educational Governance) erschwert: die zu Bildenden selbst, ihre Eltern, Peergroups, Lehrpersonen, Einrichtungen, die Träger derselben, zivilgesellschaftliche Organisationen (Zivilgesellschaft), Religionsgemeinschaften, Wirtschaftsunternehmen (Unternehmen) und der Staat. Es kommt darauf an, dass diese verschiedenen Akteure je nach Art der B. um die es geht, bestmöglich kooperieren und ihre Verantwortung für die Realisierung des Menschenrechts auf B. gemeinsam wahrnehmen. Dazu bedarf es eines höheren Maßes an Koordination und geeigneter Anreize; dazu gehört auch die Art der B.s-Finanzierung. B. sollte generell umso mehr aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, als es um allgemeine breite und mit hohen positiven externen Effekten verbundene B.s-Angebote geht; der Anteil privater Finanzierung sollte dort höher sein, wo die B.s-Investitionen auch mit hohen privaten B.s-Renditen verbunden sind. Dies ist ein Argument für den kostenlosen Kindergartenbesuch, aber auch für einkommensabhängig zu zahlende nachgelagerte Studiengebühren für den Besuch von Hochschulen und Universitäten. Die Kirchen, deren Angebote bisher eher im Bereich höherer B. verortet sind, sollten um einer verbesserten B.s-Gerechtigkeit willen und im Rahmen eines diakonischen Verständnisses von B. ihre Angebote stärker auf Angehörige unterer sozialer Schichten ausrichten.