Sozialisation

Die S.s-Forschung ist ein interdisziplinäres Arbeitsfeld, das insb. in den 1970er und 1980er Jahren eine große Fülle theoretischer Konzeptualisierungen und empirischer Untersuchungen zur Bedeutung objektiv gegebener, historisch entstandener Lebensbedingungen für die Subjektgenese hervorbrachte. Gegenstand sozialisationstheoretischer Untersuchungen sind Prozesse des Werdens und Geworden-Seins von Individuen im Schnittpunkt von gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, Praktiken, Interaktionen und Normierungen. Im Mittelpunkt steht die Erforschung eines wechselseitigen Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, der Verflechtung von „Sozialstruktur und Persönlichkeit“ (Hurrelmann 1993).

Das Themenfeld hat sich in den letzten Jahrzehnten stark ausdifferenziert und so ist der Begriff S. um die Entfaltung der Begriffe Biografie, Habitus, Identität, Lebenslauf und Subjekt-Konstitution ergänzt worden und haben ihn teilweise ersetzt. Allerdings unterscheiden sich die Zugänge hinsichtlich ihrer Fragestellungen und theoretischen Bezüge. Während weite Teile der S.s- und Identitätsforschung wie auch die Lebenslaufforschung untersuchen, wie sozialstrukturelle Unterschiede und Ungleichheiten sich in den und durch die Individuen fortsetzen, nehmen biografie- und habitustheoretische Ansätze und dekonstruktive Subjekt-Theorien (Dekonstruktion) auch die symbolisch-imaginäre Qualität des Selbst sowie diskursive Identitätseffekte in den Blick. Damit verbunden sind Unterschiede der Herangehensweise und des methodischen Instrumentariums. So favorisiert der erst genannte Forschungszusammenhang Umfragen und sozial-statistische Erhebungen, während in der zweiten Perspektive diskurs- und kommunikationsanalytische und hermeneutische Verfahren dominieren.

1. Nach den Regeln der Gesellschaft – Sozialisation als Prozess sozialer Integration

Eine Perspektive der Forschung denkt S. von der Gesellschaft her und zielt auf die Erarbeitung eines Verständnisses der sozialen Standardisierung und normativen Strukturierung von Individuen. Grundannahme ist, dass Menschen in einer jeweils spezifischen Umwelt geformt, wahrgenommen, interpretiert und bewertet werden. So galt das anfängliche sozialisationstheoretische Interesse der Erfassung des Zusammenhangs zwischen der Transformation westlicher Gesellschaften zu industriekapitalistisch wirtschaftenden, national organisierten Staaten und der Herausbildung eines handlungs- und leistungsfähigen Subjekts, das in diesen Strukturen seine Persönlichkeit und Biografie ausbildet. Diese übergreifenden Prinzipien von S. wurden später mit Blick auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der Individuen zu unterschiedlich positionierten und identifizierten Personen werden, nach Klasse/Milieu, Geschlecht und Ethnie/Kultur differenziert. Ab Mitte der 1970er Jahre artikulierten sich Forderungen nach grundlegender Erweiterung: die Forschung sollte die Fokussierung auf die frühen Altersphasen Kindheit und Jugend überwinden und sich von der Annahme verabschieden, dass S. mit dem Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen sei. Auch wurde bemängelt, dass S. zumeist als Einbahnstraße vom Erwachsenen zum Kind gedacht und auf das Bild des erfolgreich sozialisierten Erwachsenen enggeführt werde.

2. Produzenten sozialer Verhältnisse – Sozialisation als Prozess individueller Verarbeitung und interaktiver Herstellung von Sozialität

Die zweite Perspektive konzipiert S. mit Blick auf das Individuum. Schon 1890 hatte Georg Simmel seinen Begriff der „Socialisierung“ eingeführt, wonach die Individuen in Wechselwirkung zueinander ihr Verhalten fortlaufend aufeinander abstimmen und so ihre Vergesellschaftung selbst betreiben. Diese Perspektive erhielt ab 1980 durch Klaus Hurrelmann neuen Schub. Sein Modell der „produktiven Realitätsverarbeitung“ (Hurrelmann 2012) macht den Gedanken stark, dass Subjekte nicht einfach durch die Gesellschaft geprägt werden, sondern sie vielmehr aus eigenem, wenn auch nicht immer bewusstem Interesse verarbeiten und so die Bedingungen ihrer S. gewissermaßen selbst produzierten. Dies lenkte den Blick auf die Frage nach den praktischen Vollzügen von „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000). Dabei machte insb. Ulrich Oevermann die Sozialität und Gesellschaftlichkeit der Herausbildung von Bewusstseinsstrukturen, moralischen Vorstellungen, Motivationen und Kompetenzen deutlich: das Kind wird in eine spezifische Familienstruktur hineingeboren, die Eltern transportieren in allem, was sie erwarten, sagen und tun, gesellschaftliche Vorstellungen darüber, wie sich ein Kind normal entwickelt und was eine Familie ist und leisten soll. Indem U. Oevermann zeigt, dass sozialisatorische Interaktion strukturell von kollektiven Deutungsmustern mit normativ-objektivierender Bedeutung bestimmt ist, die subjektive Absichten tendenziell konterkarieren, setzt er der Vorstellung des aktiven und selbst-sozialisierenden Individuums Grenzen.

3. Leerstellen und offene Fragen

Forschungen zur S. thematisieren die normative und regulative Wirkung gesellschaftlicher Lebensbedingungen und deren subjektive Verarbeitung und Ausgestaltung. Verbunden damit sind drei Verkürzungen, die es für weitere Konzeptualisierungen von S. zu bedenken gilt. Die erste betrifft das konstitutionslogische Paradoxon sozialisationstheoretischer Annahmen, die schon am Beginn der Ontogenese von einer Interaktion zwischen Individuum und einer gegebenen Außenwelt ausgehen, obwohl sich doch die Subjekte erst ausbilden müssen. Dies verweist auf den ungeklärten theoretischen Status der gegebenen, sozialen und natürlichen Außenwelt einerseits und den Status der Konstruktivität des Individuums andererseits. In dem einschlägigen Diskurs wird dieses Verhältnis als Innen-Außen-Dichotomie begriffen und dementsprechend spielt in der S.s-Forschung die Idee des „Akteurs“ eine herausragende Rolle, der durch methodisches und diszipliniertes Handeln (Handeln, Handlung), durch rationale Kontrolle seine affektiven Regungen durch die Ausrichtung an äußeren Bedingungen zu bearbeiten sucht. Damit verbunden ist ein zweites Problem, nämlich die theoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Körper und Psyche. Weite Teile der S.s-Forschung gehen von der Unterscheidung eines gegenständlichen, mit Wahrnehmungsfunktionen ausgestatteten Körper-Individuums einerseits und einer immateriellen, sprachlich und spirituell konstituierten Psyche bzw. Persönlichkeit andererseits aus. Die Erklärungsreichweite dieser Dichotomie findet ihre Grenzen im Bereich emotionaler S. Da Emotionen sowohl leiblich erfahren (z. B. in Form von Schwitzen, Gänsehaut oder Rot-Werden) als auch kognitiv gedeutet werden und zudem gesellschaftlich reguliert sind, stößt hier die Dichotomie von Innen und Außen an ihre Grenzen. Drittens schließlich stellt sich die Frage, wie erklärt werden kann, dass in Prozessen der S. nicht nur Bekanntes weitergegeben und reproduziert wird, sondern auch Variation und Erweiterung von Bestehendem stattfinden kann. Bis heute fehlt es in der S.s-Forschung, neben den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen des Handelns auch die Entfaltung von kreativen und transzendierenden Praktiken theoretisch zu bestimmen.