Dekonstruktion

Unter D. – zuweilen (kritisch) auch: Dekonstruktivismus – wird eine Theorietradition verstanden, die sich im Anschluss an Arbeiten Jacques Derridas in der französischen Philosophie und darüber hinaus herausgebildet hat. Während sich die Werke J. Derridas in den 1970er und 1980er Jahren v. a. auf die Sprachphilosophie und die Literaturwissenschaften konzentrierten und die ethische und politische Dimension der D. in den beginnenden 1990er Jahren zunächst in der Sekundärliteratur herausgearbeitet wurde, haben zahlreiche Schriften seither die D. auch als ethisches und politisches „Projekt“ expliziert.

Ausgehend von einer Sprach- und Zeichentheorie betont die D. die Überbestimmtheit von Sinnzusammenhängen: So wie das sprachliche Zeichen seinen Sinn vor dem Hintergrund eines Kontextes erhält, der seinerseits aber grundsätzlich unabschließbar ist, und wie es dennoch immer als sinnhaftes Zeichen begegnet, so zeichnet die D. in philosophischen Theoremen und politischen Legitimationen (Legitimation) nach, wie diese sich auf konzeptuell-rhetorisch-institutionellen Anordnungen errichten, welche Eindeutigkeiten, Symmetrien oder Hierarchien dort präsentieren, wo doch zunächst Unklarheiten zu konstatieren wären. Die D. stellt Brüche, Auslassungen und Ambivalenzen heraus und offenbart den Interpretationsprozess als unumgänglich und zugleich prekär. Häufig werden Ausschlüssen und Alternativen Begriffe beiseite gestellt, die diese Konstellation thematisieren, ohne sie jedoch erübrigen oder eindeutig auflösen zu wollen (das „Supplement“, die „Spur“ usw.). Die D. hat also weder die Desavouierung der Theoreme zum Ziel noch ihre dialektische Aufhebung, sondern die Vergegenwärtigung der Unbestimmtheit. Nach J. Derrida bringt die D. in detaillierter, präziser Lektüre eine „aufgeschobene-verzögerte-abweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Gewalt“ (Derrida 1991: 15) der Sinnkonstitution (die „différance“) zur Geltung und bricht so Interpretationen und Gewissheiten auf.

Insofern D. die irreduzible Partikularität der besonderen, aktuellen Situation und ihrer Elemente und Akteure zur Sprache bringt und so den Gedanken der Angemessenheit an den Gegenstand auf die Spitze treibt, und insofern sie zugl. bewusst hält, dass die Situation selbst gleichwohl eine sprachliche und/oder institutionelle Verregelung, eine Verallgemeinerung erfordert, ist sie eine „aporetische“ Praxis, die auf einen der Situation impliziten normativen Anspruch reagiert. Dieser wird als Anspruch der Gerechtigkeit beschrieben, der unendlich und uneinlösbar ist, und doch seine sofortige Berücksichtigung und Durchsetzung fordert.

1. Gerechtigkeit, Gesetz, Gewalt

In der Auseinandersetzung mit Emmanuel Lévinas und Walter Benjamin diskutiert J. Derrida Aporien der allgemeinen Durchsetzung ethischer und politischer Imperative im Recht: Im Zentrum steht das Problem von Unentscheidbarkeit und Entscheidungszwang, das sich aus dem unendlichen Aufschub der wirklichen Gerechtigkeit und ihrer sofortigen Dringlichkeit ergibt. Insofern diese zwingend die Unterbrechung der Interpretation erfordert, ist jedem Rechtsprozess ein Moment der willkürlichen Gewalt untrennbar zu eigen. Eine wichtige Einsicht der D. besteht daher darin, dass die Gewaltförmigkeit von Rechtsprozessen nicht zuletzt dem in ihnen intendierten Moment der Gerechtigkeit selbst entspringt und von dieser nicht abgetrennt werden kann. Andererseits benennt Gerechtigkeit auch dasjenige Moment, das jede Entscheidung und Ordnung wegen ihrer Gewaltförmigkeit ins Zwielicht rückt und ihre Ansprüche zu kritisieren gebietet. Gerechtigkeit selbst ist in dieser Perspektive letztlich nicht zu dekonstruieren, sie ist vielmehr umgekehrt das Aufbrechen des Faktischen hin auf ein immer erst zu verwirklichendes Ziel. „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“ (Derrida 1991: 30).

Über Sprach- und Rechtspragmatik hinaus hat die D. eine erfahrungsanalytische Dimension. Sie spürt den Modi nach, in denen Sinnzusammenhänge erfahren werden, insofern diese grundsätzlich eben nicht ganz gegenwärtig, transparent und kontrollierbar sind, und dekonstruiert die klassische Ontologie: In zeitlicher Hinsicht bringt sich das Andere der Gegenwart zur Geltung, indem die Vergangenheit als Gespenst und/oder Erbe wiederkehrt und die nicht antizipierbare Zukunft rückhaltlose Offenheit für die/den/das Andere und zugleich Handlung, Vorbereitung, Entgegenkommen erfordert; in sozialer Hinsicht ist das Sein zwischen Singularität und Pluralität aufgespannt. Die D. betont, dass die menschliche Erfahrung durch ein Ausgesetztsein charakterisiert ist, welches sich auf die Verletzlichkeit und Endlichkeit des „Eigenen“ ebenso bezieht wie auf die unvordenklichen Möglichkeiten des sich Ereignenden, des Anderen ebenso wie des in und mit den eigenen Handlungen Heraufziehenden. Und sie weist nach, dass Ethik und Politik in dieser Dimension wurzeln, dass sie auf Erfahrungen der Verantwortlichkeit fußen, in denen nicht vollends durchschaubar ist, worauf geantwortet, was be- und verantwortet werden muss.

Solche Analysen der menschlichen Existenz werden flankiert von D.en der Abgrenzungen des Menschen vom Tierischen, vom Göttlichen der abrahamitischen Religionen und schließlich von der Technik.

2. Politik, Autoimmunität

Seit den 1990er Jahren verortet sich die D. allerdings auch konkreter in politischen Auseinandersetzungen. In „Marx’ Gespenster“ (Derrida 1995) wird eine emanzipatorische politische Bewegung (Emanzipation), gar eine Revolution diskutiert. Die D. zentraler Begriffe wie „Klasse“, „Ideologie“ und „Revolution“ macht allerdings eine konstruktivistische oder positive Theorie, die auf ihnen aufbauen würde, unmöglich. Zugleich konstatiert sie die unausweichliche „Heimsuchung“ des politischen Denkens durch diese Begriffe, affirmiert den kaum identifizierbaren Rest ihres rationalen und emanzipatorischen Potenzials, und beharrt auf der Dringlichkeit des politischen Handelns. In diesem Sinne versteht sich die D. als politischer Appell, als Aufruf zur oder Ankündigung einer „neuen Internationalen“ (Derrida 1995: 137–140), einer nicht positiv bestimmbaren, nicht antizipierbaren politischen Bewegung.

Von diesem Appell ausgehend entspinnen sich sowohl theoretische Überlegungen zum Zusammenhalt einer solchen nicht-identitären Bewegung als auch kritische Einwürfe zu gegenwärtigen politischen Entwicklungen. In einer dekonstruktiven Wendung werden schließlich unter dem Stichwort der „Auto-Immunität“ jener kritische Zusammenhalt und die exklusionistischen, gewalt- und herrschaftsförmigen Phänomene dieser Entwicklungen als eine genuine Schwierigkeit politischer Praxis zusammengelesen: Insofern die Demokratie sich selbst als noch ausstehend präsentiert, erscheint sie immer bedroht von der Möglichkeit ihres Ausbleibens und Scheiterns; insofern die universelle Gemeinschaft sich selbst unbedingt gastfreundlich präsentiert, erscheint sie immer bedroht von der Möglichkeit ihrer Entleerung und Zerstörung. Noch das authentischste Bestreben, sich offen zu halten, muss einher gehen mit Mechanismen des Selbsterhalts, der Absicherung und des Vorbehalts, die diesem Bestreben zuwider laufen. Emanzipatorisches, demokratisches politisches Handeln ist somit für die D. in einem „double bind“ befangen. Dabei ist es trotz allem gefordert, sich selbst inmitten der Gewalt für den, die oder das ganz Andere offen zu halten und den Forderungen der Gerechtigkeit nachzukommen.