Ideologie

1. Begriffsgebrauch

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch lassen sich grob zwei Verwendungsweisen des Begriffs I. unterscheiden: Zum einen wird I. und ideologisch abwertend gebraucht und bezeichnet falsches Bewusstsein, Verblendung etc. Zum anderen ist damit ein geschlossenes Weltbild gemeint, eine Weltanschauung, deren Vorhandensein man befürwortend, neutral oder ablehnend gegenüberstehen kann. Die Uneindeutigkeit des Begriffsgebrauchs hängt mit der Geschichte des Begriffs zusammen. Was sich aber jenseits historischer Genese und jeweiliger inhaltlicher Ausfüllung durchhält, ist der politisch-praktische Kontext, in dem der I.-Begriff steht: Er kennzeichnet im Allgemeinen eine Bewusstseinsrichtung oder Denkströmung, die sich auf die politische Praxis bezieht oder diese beeinflussen will.

2. Herkunft

Der I.-Begriff ist ein Kind der Aufklärung: Als Antoine Louis Claude Destutt de Tracy 1801–1805 sein Werk „Éléments d’idéologie“ schuf und damit begriffsprägend wirkte, beabsichtigte er, eine „Wissenschaft von den Ideen“ zu entwickeln, die mit allen metaphysischen Irrtümern und Voreingenommenheiten des religiös geprägten Weltbilds aufräumen sollte. Die Französische Revolution versuchte politisch umzusetzen, was jenes Aufklärungsdenken, in dessen Tradition A. L. C. Destutt de Tracy steht, propagiert hatte: die Befreiung von aller vermeintlicher oder realer Fremdbestimmung, die prinzipielle Gleichheit aller, die Entmachtung überkommener, Hierarchien bestätigender Denkweisen. Es ist kein Zufall, dass diese neue Philosophie, welche u. a. die Enzyklopädisten Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert in ihrem großen Projekt der „Encyclopédie“ vertraten, materialistisch war (Materialismus): An die Stelle metaphysischer Spekulationen, welche man der Weltfremdheit oder schlimmer noch der Herrschaftsstabilisierung bezichtigte („Priestertrug“), sollte der Ansatz an der menschlichen Sinnlichkeit treten. Das Denken erklärt sich aus der Wahrnehmung, das Physische ist die Ursache des Geistigen.

Die Idéologie stand nun für eine „Ideenlehre“, welche die Herkunft der Ideen aus ihren sinnlichen Ursachen erklären, Ideen ordnen und allen Begriffsverwirrungen, die aufgrund des Verkennens der physischen Basis des Denkens entstehen konnten, entgegenwirken sollte. Es entstand eine Schule der Idéologists, die sich dem aufklärerischen Projekt verschwor, die Menschen von ihren unerkannten Vorurteilen zu befreien. Dabei verstand A. L. C. Destutt de Tracy seine „Ideenlehre“ als Fundamentalwissenschaft: Wenn das Verfahren des Denkens geklärt ist, klärt sich auch alles daraus Folgende auf. Der I.-Begriff war also ganz klar positiv konnotiert. Die „Ideologen“ sind diejenigen, die durch Ablehnung spekulativer Höhenflüge und strenge Anwendung von Logik Klarheit in das Denken bringen und somit Vorurteile beseitigen. Obwohl der Begriff der I. nicht primär politisch ausgerichtet war, hatte er doch eine herrschaftskritische Komponente, da er sich gegen das Denken richtete, von dem man das ancien regime getragen glaubte.

3. Ideologie als falsches Bewusstsein

Eine völlige Neubewertung erfuhr der I.-Begriff durch Napoleon, der zunächst seinerseits der Schule der „Ideologen“ angehörte, mit ihr aber brach, als seine eigenen Machtambitionen in Widerspruch zu den Revolutionsidealen gerieten. Die religionsfeindliche Komponente der I. passte nicht zu seinem Interesse, Religion herrschaftsstabilisierend einzusetzen; der Glaube an die Werte der Freiheit und Gleichheit widersprach seiner eigenen Herrschaftspraxis; die Hoffnung, die Gesellschaft per aufklärerischer Vernunft perfektionieren und egalisieren zu können, stand im Gegensatz zu seiner Befürwortung gesellschaftlicher Unterschiede und zu seinem Bekenntnis zur Machtpolitik.

In der Folge gerierte er sich als der wahre Aufklärer und erklärte die Ideologen zu weltfremden Träumern, die ihrerseits metaphysischen Spekulationen anhingen, die verkannten, dass nicht Vernunft, sondern Gewalt die Politik bestimmt, und die an eine Vervollkommnung der Menschheit glaubten, welche nichts mit den machtpolitischen Realitäten zu tun hat. Als I. wird also nun bezeichnet, wogegen die Ideologen einst angetreten waren: eine realitätsfremde Spekulation, eine Gedankenkonstruktion, die ihre Wahrheit gegen die politischen Realitäten geltend machen will. Damit war die negative Bewertung des I.-Begriffs in der Welt, an der dann Karl Marx nahtlos anknüpfen konnte.

Für K. Marx kann das Bewusstsein nur widerspiegeln, was es an gesellschaftlichen Realitäten vorfindet; mit Letzteren sind die Bedingungen der materiellen Produktion gemeint, die in der Marx’schen Theorie Sein wie Bewusstsein der Menschen bestimmen. Solange aber die falschen Verhältnisse herrschen, d. h. aufgrund des Privateigentums an den Produktionsmitteln Klassengesellschaften bestehen, in denen sich Besitzende und Lohnabhängige miteinander im Kampf befinden, spiegelt das Bewusstsein eben auch diese Falschheit wider. Die gesellschaftliche Spaltung, der Widerspruch zwischen den Interessen der Besitzenden und der Besitzlosen, äußert sich in einem gesellschaftlichen Überbau, der allein den Interessen der Herrschenden dient. Zum Überbau zählen der Staat, die Religion, das Recht, die Moral, die Wissenschaft etc., also jene geistigen und in der Folge auch politischen Phänomene, in denen sich der jeweilige Bewusstseinsstand der Menschen äußert.

I. im Sinne eines falschen Bewusstseins ist nun der Glaube, jene geistigen Erzeugnisse hätten eine eigenständige Wirklichkeit, ja seien sogar in der Lage, die Wirklichkeit zu bestimmen. Doch d. i. eine Chimäre: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Zeichen ideologischer Verblendung ist es ebenfalls, den Klassencharakter der Überbau-Produkte zu verkennen und in ihnen ein allgemeines Interesse zu vermuten. Tatsächlich larvieren sich in jenen geistigen Phänomenen nur Herrschaftsinteressen, und diese aufzudecken ist Aufgabe der I.-Kritik. Schuldhaft ist der Verblendungszusammenhang aber nicht, da er sich notwendig aus den verkehrten gesellschaftlichen Verhältnissen ergibt.

Die Ursache für die Entstehung jenes falschen Scheins, der den Überbau umgibt, sieht K. Marx letztlich in der Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit; nur deshalb konnte der Geist sich einbilden, selbst etwas zu sein. Mit diesem materialistischen Ansatz befindet er sich wieder in Nähe zu den Idéologists, deren Grundwiderspruch, Denken sensualistisch zu erklären und zugleich die Welt durch Bewusstseinserhellung verändern zu wollen, er aber scheinbar nicht verfällt. Denn die erhoffte Weltveränderung soll sich aus der revolutionären Veränderung der Eigentumsverhältnisse ergeben. Die Tatsache, dass seine Theorie, die letztlich revolutionsvorbereitend wirken soll, jedoch ebenfalls ein reines Gedankenprodukt ist, scheint seinen materialistischen Ansatz wieder zu unterlaufen. Zudem stellt sich bei K. Marx die Frage, wie er mit seiner Kritik der I. dem doch als universell behaupteten Verblendungszusammenhang entkommen konnte.

4. Ideologie in der Wissenssoziologie

Eine neue Stufe in der Entwicklung des I.-Begriffs bildet die in den 20er Jahren des 20. Jh. entwickelte Wissenssoziologie, die v. a. mit den Namen Max Scheler und Karl Mannheim verbunden ist. Die Wissenssoziologie knüpft insofern an K. Marx an, als sie seinen ideologiekritischen Duktus übernimmt; sie grenzt sich aber dezidiert von ihm ab, wenn sie gegen seine reduktionistische Basis-Überbau-These antritt und damit auch seinen historischen Materialismus als nicht wirklichkeitsadäquat ablehnt.

Ziel der Wissenssoziologie ist es, die Standortgebundenheit des Denkens nachzuweisen und die Funktion bestimmter Denkweisen im jeweiligen sozialen und historischen Kontext zu analysieren. Anders als bei K. Marx werden die geistigen Gehalte also als eigenständige Wirklichkeit ernstgenommen. Außerdem wird das ideologische Bewusstsein nicht darauf reduziert, die jeweilige ökonomische Lage widerzuspiegeln und nur Klasseninteressen zu dienen. Und schließlich wird die Metaphysik rehabilitiert, durchaus auch mittels des Nachweises, dass selbst K. Marx nicht ohne metaphysische Annahmen auskommt, wenn er für seine partikulare Weltsicht den uneingeschränkten Wahrheitsanspruch erhebt.

M. Scheler geht davon aus, dass es voneinander unabhängige, überzeitliche Sphären des Geistigen und des Naturhaften gibt, welche sich nur dann verbinden, wenn der Geist in die Realität eintritt. Gegenstand wissenssoziologischer Untersuchung ist dann die Form bzw. die gesellschaftliche Prägung, die das Denken durch seine jeweilige Realwerdung annimmt. K. Mannheims Ansatz ist hier viel radikaler: Für ihn ist auch die Naturseite immer schon geistig überformt, Geist und Natur sind aber ebenfalls immer schon historisch geprägt – „die Wesenheiten sind selbst dynamisch“ (Mannheim 1924/1925: 630). So gelangt K. Mannheim zu seinem „totalen Ideologiebegriff“ (Mannheim 1929: 71): Alles Denken ist Ausdruck des jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Standortes, jede Sicht ist partikular.

Das Ideologische liegt nun v. a. darin, diese partikulare Weltsicht zu „hypostatieren“, ihr eine übergeordnete Wahrheit zuzuerkennen, ohne die eigene Standortgebundenheit zu registrieren. Hier muss die Wissenssoziologie aufklärerisch wirken. Sie muss die geistigen Gehalte auf ihre historischen und sozialen Bezüge zurückführen; das versteht K. Mannheim als „Relationismus“ im Unterschied zum „Relativismus“ (Mannheim 1929: 41). Der Relativismus-Vorwurf liegt insofern nahe, als schlechthin alles Denken als „ideologisch“ gekennzeichnet wird, einschließlich des eigenen, das, wie K. Mannheim konzediert, der Standortgebundenheit nicht entgeht. Den Relativismus überwinden helfen soll der Verweis auf einen historischen Gesamtsinn, in den sich die jeweils epochen- und gesellschaftsspezifischen Denkweisen einfügen. Ihn zu finden, ist Aufgabe der sozial „freischwebenden“ Intellektuellen. Damit ist einer Bewusstseinsavantgarde das Wort geredet, die noch bei jedem aufklärerischen Ansatz irgendwann in Erscheinung tritt.

5. Geistige Grundlage der totalitären Systeme

Trotz aller I.-Kritik entwickelte sich das 20. Jh. zum Zeitalter der I.n; die verschiedenen weltanschaulichen Entwürfe, die durch Sozialismus und Nationalismus im 19. Jh. vorbereitet worden waren, drängten in die Praxis. Die kommunistischen Systeme beriefen sich auf K. Marx, dessen Theorie nun ihrerseits als I. gekennzeichnet wurde: Allerdings hatte Wladimir Iljitsch Lenin zuvor den I.-Begriff geadelt, indem er den „wissenschaftlichen Sozialismus“ (LW 21: 38) als I. der Arbeiterklasse pries. Da er seiner Partei eine Avantgardefunktion in der Revolution zugedacht hatte, wurde der von K. Marx implizit angenommene, im Grunde systemwidrige Bewusstseinsvorsprung der „I.en“ damit explizit gemacht.

Gegen den Kommunismus trat der Nationalsozialismus an, dessen Weltanschauung nicht sozial, sondern rassisch fundiert war. Die auf den beiden verfeindeten I.en aufbauenden politischen Systeme waren Weltanschauungsdiktaturen, deren Strukturen so ähnlich waren, dass sie unter dem gemeinsamen Begriff „totalitäres System“ subsummiert wurden. Dessen Merkmale waren nach Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski u. a.: Ein-Parteien-Diktatur, staatliches Medien- und Waffenmonopol, zentral gelenkte Wirtschaft und eben eine I., die das gesamte System durchherrscht.

Doch auch die I.en selbst sind, trotz ihres inhaltlichen Gegensatzes, strukturell ähnlich, worauf z. B. Hannah Arendt hinwies: Das gesamte Denkgebäude ist stringent aus einer Prämisse abgeleitet, die aber bloß gesetzt und nicht begründet ist; alle dem System widersprechende Wirklichkeitserfahrung wird ausgeblendet; das Denken kennt nur Schwarz-Weiß- bzw. Freund-Feind-Kategorien; mit der Politik wird ein Heilsversprechen verbunden, das bisher nur in Religionen zu finden war. Das gab Anlass, diese I.en als „politische Religionen“ (Voegelin 1938) zu bezeichnen.

Nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme schien die Zeit geschlossener Weltdeutungsmodelle mit Absolutheitsanspruch vorbei zu sein. Doch in Gestalt des Islamismus ist eine neue I. auf den Plan getreten, und auch Kommunismus und Faschismus können nicht als historisch endgültig abgetan gelten. Die Geschichte des I.-Begriffs zeigt, dass die Aufklärer von heute die I.en von morgen sein können. Auch die I.-Kritik muss sich wissenschaftlich ausweisen, um nicht selbst dem I.-Verdacht zu verfallen.