Religionsgemeinschaften

1. Allgemein

Der Begriff R. ist Produkt und Ausdruck einer Säkularisierungsgeschichte (Säkularisierung). Der Staat verhält sich mit der Rechtskategorie der R. dazu, dass religiöse Menschen zu sozialer Vergemeinschaftung neigen. Klassischerweise definiert man eine R. als einen „die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses […] oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse […] zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben“ (Anschütz 1933: 633). Ob eine solche R. oder eine andere Art religiöser bzw. nichtreligiöser Vereinigung vorliegt, hat weitreichende Folgen (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 2 WRV, Art. 137 Abs. 3 WRV, Art. 137 Abs. 4 und 5 WRV, Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV, Art. 141 WRV, Art. 7 Abs. 3 GG).

2. Begriffsgeschichte

Mit dem Westfälischen Frieden etablierte sich der Begriff der „Religionspartei“. Religionsparteien waren die „Mitinhaber der Reichsgewalt neben dem Kaiser, jeweils vereint im Zusammenschluss gleicher Konfession“ (Heckel 2013: 269). Die Sprache des Rechts entwickelte sich damals in Distanz zu den ekklesiologischen Selbstverständnissen der nunmehr gespaltenen Kirche, um einen politischen Frieden im Reich zu ermöglichen. Beginnend im 18. Jh. löste der Begriff der „Religionsgesellschaft“ den Begriff der „Religionspartei“ allmählich ab. Samuel von Pufendorfs Korporationslehre setzte einen maßgeblichen neuen Impuls. Auf seiner Grundlage entstand der Kollegialismus. Für die Ausbildung eines säkularen Religionsrechts war der Übergang von der „Religionspartei“ zur „Religionsgesellschaft“ ein epochaler Wandel. Reichseinheitlich wurde der Begriff der Religionsgesellschaft, vorgespurt durch das PrALR, in der Paulskirchenverfassung von 1849 eingeführt. Später fand er in Art. 84 EGBGB Erwähnung, bevor er schließlich in die WRV Einzug hielt. Nach 1945 trat der Begriff „R.“ an die Stelle der „Religionsgesellschaft“. In der Entstehungsgeschichte des GG gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Parlamentarische Rat damit eine Veränderung in der Bedeutung vornehmen wollte. Zutreffend wurden und werden beide Termini synonym verstanden.

3. Verfassungsdogmatische Fragen

Durch R. stehen dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat in auch religiös geprägten Angelegenheiten geeignete Kooperationspartner zur Verfügung. Hier könnte der Staat allein nicht ohne Widerspruch zu seinem säkular-freiheitlichen Selbstverständnis handeln. Die Kategorie der R. dient dem Schutz der Neutralität des Staates und der negativen Religionsfreiheit Dritter. Sie erlaubt die Unterscheidung von Zugehörigen und Nichtzugehörigen. An diese Unterscheidung können mit Wirkung im bürgerlichen Rechtskreis religiös geprägte Rechte und Pflichten anknüpfen (z. B. die Heranziehung zur Kirchensteuer oder die Pflicht zur Teilnahme am Religionsunterricht), ohne die Religionsfreiheit zu verletzen.

Entscheidend für die Klärung von Zugehörigkeitsfragen ist das Vorliegen eines personalen „Substrats“ und damit untechnisch gesprochen die Mitgliedschaft natürlicher Personen. Zudem muss sich eine R. nach plausibilisierbarem Selbstverständnis primär religiösen Angelegenheiten widmen. In Abgrenzung zu „religiösen Vereinen“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 WRV) zeichnen sich R. durch eine allseitige Religionspflege aus, während religiöse Vereine nur religiösen Partikularzwecken zu dienen bestimmt sind. Bei der genauen Unterscheidung sind exkludierende Effekte zu vermeiden. In manchen Religionskulturen ist eine Verkorporierung für das religiöse Leben weitestgehend entbehrlich. Die Existenz einer religiösen Zwecken dienenden juristischen Person ist je nach religiöser Überzeugung ausschließlich eine Frage der Praktikabilität, also nicht heilsnotwendig. Deshalb ist darauf zu achten, den Begriff der R. hinreichend säkular, neutral und inklusiv zu fassen.

Diese Anforderung bereitet der Rechtspraxis Schwierigkeiten, wie man am Beispiel islamischer Dachverbände (Islamische Organisationen) sehen kann: Die meisten derjenigen in Deutschland, die sich selbst als Muslime bezeichnen, sind nicht Mitglied einer religiösen Vereinigung. Sie besuchen eine oder oft auch verschiedene Moscheen und nutzen deren Angebote. Träger solcher Angebote sind i. d. R. Moscheevereine, die natürliche Personen als Mitglieder kennen. Solche Moscheevereine sind i. d. R. Religionsgesellschaften, auch wenn sie weit weniger Mitglieder als Nutzer haben. Sind Dachverbände ausschließlich aus juristischen Personen zusammengesetzt, stellen sie für sich mangels personalem Substrat keine Religionsgesellschaften dar, nehmen aber aus Gründen der Organisationsfreiheit an den religionsgesellschaftsspezifischen Rechten ihrer Mitglieder teil, soweit sie aus Religionsgesellschaften bestehen oder solche jedenfalls den Verband dominieren und religiös prägen. Wenn hingegen innerhalb einer solchen Dachverbandskonstruktion wechselseitige Satzungsbestimmungen das „personale Substrat“ der unteren Ebene auf die höhere Ebene vermitteln, indiziert die duplizierte Mitgliedschaft den Willen der Grundrechtsträger, die Gesamtheit der Ebenen als Religionsgesellschaft zu qualifizieren.

Das BVerwG (BVerwGE 123, 49 ff.) hat in einer bedeutsamen Leitentscheidung zur Einführung des Religionsunterrichts einen anderen Weg beschritten. Nach seiner Auffassung können Dachverbände nur dann R. darstellen, wenn der Dachverband für die Identität einer R. wesentliche Aufgaben wahrnimmt. Überzeugende Gründe für diese Forderung trägt das Gericht nicht vor. In der Wissenschaft mehren sich zuletzt die Stimmen, die dafür plädieren, zwischen den Minimalanforderungen für das Vorliegen einer R. und weiteren legitimen Kooperationsanforderungen (wie Rechtstreue, Sozialmächtigkeit, Gewähr der Dauer, Professionalität) zu unterscheiden. Zu solchen Kooperationsanforderungen im Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts gehört etwa, dass ein Dachverband für die in ihm organisierten Gläubigen die für den Religionsunterricht maßgeblichen Grundsätze benennen kann. Gefordert ist mehr als die bloß satzungsmäßige Befugnis, aber nicht zwingend „Lehrautorität“ mit realer Geltung „hinunter zu den örtlichen Glaubensgemeinden“ (so das BVerwG; OVG NRW 19 A 997/02), sondern eine nach dem theologischen Selbstverständnis strukturierte hierarchische oder nicht-hierarchische repräsentationsgewährleistende Willensbildung.