Bürger, Bürgertum

1. Stadtürger und Bürgerliche

„B.“, sei ein Begriff, „der im Laufe der Zeit sehr verschiedene Bedeutungen erhielt“ (Mittermaier 1859: 220), so lautete die Einschätzung des Heidelberger Rechtswissenschaftlers Carl Joseph Anton Mittermaier in einem für das Staatslexikon von Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker verfassten Artikel von 1859. Der liberale Publizist erklärte sich die Bedeutungsvarianz „theils mit der Entwicklung der Städte, theils mit der Ausbildung der Staatsverhältnisse“ (Mittermaier 1859: 220). Wie viele andere Liberale betrachtete auch er die Gemeinden (Gemeinde) als Grundeinheiten der Staatsverfassung: „[…] wie unter dem Worte B. das vollberechtigte Mitglied der Gemeinde verstanden wurde, so sollte das Wort B. den vollberechtigten Staatsangehörigen bezeichnen“ (Mittermaier 1859: 222).

Selbstverwaltung und Partizipation kennzeichneten die B.-Gemeinde, die sich im hohen Mittelalter von den kirchlich-feudalen Stadtherren emanzipierte. Sie war lebensweltlicher Bezugspunkt der B. und politisches Ordnungsmodell zugleich. Allerdings verfügte nur ein Teil der innerhalb des Rechtsbezirks der Städte (Stadt) ansässigen männlichen Einwohnerschaft über volle materielle Nutzungs- und politische Partizipationsrechte. Dieser privilegierte B.-Stand ist in den Städten Mittel- und Osteuropas sozialhistorisch relativ präzise zu erfassen, weil die Supplikanten bei der Ableistung des B.-Eides eine Anzugs- oder Aufnahmegebühr entrichteten und in der städtischen Bürgerrolle verzeichnet wurden. Bis ins letzte Drittel des 19. Jh. hinein waren kommunale Ämter (Amt) und politische Mandate ausschließlich B.-Rechts-Inhabern zugänglich. Die soziale Trägerschicht des oft seit Generationen ansässigen Stadt-B.-tums bildeten vor allem selbständige Kaufleute und Handwerksmeister, in geringerem Umfang auch Rechtsgelehrte, Mediziner, Professoren, Gymnasiallehrer und Pfarrer mit ihren Familienangehörigen. Eine Gleichsetzung von Stadt-B.n und B.n würde allerdings zeitgenössische Sozialnormen reproduzieren. Tatsächlich grenzte das Stadt-B.-Recht nämlich in der Regel Staatsbeamte, freie Unternehmer und Gewerbetreibende, vor allem aber religiöse Minderheiten und Migranten aus. Ihnen blieben elementare B.-Rechte wie die Niederlassungs- und Gewerbefreiheit oder die kommunale Armenunterstützung versagt. Auf diese Weise wies sich das Gemeinde-B.-tum selbst den Status einer privilegierten Interessengruppe zu (Interessengruppen) und wurde zur herrschenden Minderheit innerhalb der rasch wachsenden Einwohnerschaft. Ungeachtet des sozialhistorischen Wandels von der B.- zur Einwohnergemeinde erscheint es indes nicht minder problematisch, mobile Zuwanderer und soziale Aufsteiger pauschal als Trägergruppe des „modernen Wirtschafts- und Bildungs-B.-tums“ zu klassifizieren. Dadurch würde ein binäres Modell sozialen Wandels etabliert (sozialer Wandel), das national und marktwirtschaftlich disponierte Unternehmer, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Staatsbeamte gegen ein vermeintlich innovationsfeindlich-altständisches Stadt-B.-tum ausspielt.

Ob „Stadt-B.“ oder „B.-liche“ – sowohl die Übernahme zeitgenössischer Rechtskategorien als auch sozialhistorische Neologismen sehen sich generell mit dem Problem höchst unterschiedlicher sozialer Lebenslagen und Einkommensverhältnisse bürgerlicher Schichten konfrontiert. Der Forschung fällt es deshalb schwer, in der Vielfalt bürgerlicher Biografien eine dem Adel oder der Arbeiterschaft vergleichbar homogene Sozialformation zu erkennen (Sozialstruktur). Statusmerkmale wie Besitz und Bildung sind ebenso wenig klassen- oder schichtenspezifisch wie kulturelle Praktiken oder sozialmoralisch-religiöse Wertorientierungen, was Jürgen Kockas fragende Formulierung andeutet: „B.-tum – weder Stand noch Klasse, eine Kultur?“ (Kocka 1987: 43). Allerdings repräsentiert dieser Befund in erster Linie das Ergebnis der deutschen, stark sozial- und strukturhistorisch geprägten Forschungsdiskussion der 1970/1980er Jahre. Demgegenüber bevorzugte die französische, aber auch die angelsächsische Forschung einen politischen B.-Begriff. Den maßgeblichen Referenz- und Deutungsrahmen bildeten hier die bürgerlichen Revolutionen von 1688 und 1789 und die politische Emanzipation der Nation. Soziales Substrat des tiers état war die große Masse der französischen Bauern und B., während in England der Adel und die (grund)besitzenden middle classes die politische Nation repräsentierten. Indem sich die Nationalversammlung 1789 zum allgemeinen Stand deklarierte, ermächtigte sie sich selbst zur Herrschaft. Von da an wurde jeder loyale Mitbürger als citoyen adressiert. Während sich das französische B.-tum in einem revolutionären Akt konstituierte, verlief der Emanzipationsprozess in England als evolutionärer Elitenwandel unter Einbeziehung des Adels. Soziale Aufsteiger des Handels-, Industrie- und Finanzkapitals etablierten sich neben Aristokratie und landsässiger gentry. Beide Sozialschichten waren in den Parlamenten vertreten und stellten die politische Elite des Landes. Auch in anderen Teilen Westeuropas öffnete sich der Adel und blieb mit den staatlichen Herrschafts- und Funktionseliten verbunden statt einseitig auf die Verteidigung aristokratischer Privilegien zu setzen wie in Mittel- und Osteuropa. Appellierte der Begriff des citoyen oder citizen an den politischen B., so evozierte das deutsche Äquivalent des Staats-B.s neben Egalität auch die Subalternität des B.s im Staat. Das Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848 und die Reichsgründung „von oben“ schienen die These einer politischen „Schwäche“ des deutschen B.s zu belegen. Durch Kleinstaaterei gelähmt sei das deutsche B.-tum zum Objekt obrigkeitsstaatlicher Modernisierungspolitik geworden, so das lange gültige Forschungsparadigma eines deutschen Sonderwegs in Europa. Dieses durchaus noch präsente Geschichtsbild ist von der angelsächsischen Forschung als veritabler „Mythos deutscher Geschichtsschreibung“ (David Blackbourn/ Geoff Eley) dekonstruiert worden. Mittlerweile gilt als unstrittig, dass das B.-tum seine wirtschaftlichen Interessen durchsetzte, kulturelle Hegemonie erlangte und sich politisch weitgehend vom Obrigkeitsstaat emanzipieren konnte. Überdies glichen sich, an der Vermögens- und Einkommensentwicklung gemessen, die Lebensverhältnisse der middle classes in Europa seit dem Ausgang des 19. Jh. tendenziell immer mehr an. Gleichzeitig vertieften sich aber auch die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaften Europas. Sowohl die marxistische Revolutionstheorie (Marxismus) als auch die biologistische Gegenutopie einer klassenlosen Volksgemeinschaft prophezeiten der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der sozialen Polarisierung den Untergang (Nationalsozialismus). Tatsächlich schien mit den schweren Kriegs- und Inflationsverlusten nach drei Krisenjahrzehnten die materielle Vernichtung des bürgerlichen Mittelstandes 1945 unmittelbar bevorzustehen. Doch bewiesen die westlichen Nachkriegsgesellschaften des politisch geteilten Europas eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit. Binnen einer Generation entstand nicht nur ein neuer Mittelstand auf breitem Wohlstandsniveau, sondern auch eine liberale Gesellschaftsordnung (Liberalismus), in der zentrale bürgerliche Wertvorstellungen – Freizügigkeit, Eigentum, Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) und Bildung – verwirklicht waren. Materielle Ressourcen und Lebenschancen blieben dabei allerdings in Europa regional extrem ungleich verteilt. Auf unterschiedlichen Ausgangsniveaus entwickelte sich seither in allen Gesellschaften eine Vielfalt von Lebens- und Konsumstilen, die sich kaum einzelnen Sozial- oder Berufsgruppen exklusiv zuordnen lassen – es entstand eine postmoderne Gesellschaft der „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu), in der bürgerliche Kultur nach wie vor hohe Wertschätzung genießt.

2. Bürgertum und Zivilgesellschaft

Seit dem kulturalistischen Paradigmenwechsel Ende der 1980er Jahre begegnet sozialhistorischen Gesellschaftsanalysen große Skepsis. Eine Folge davon ist, dass die poststrukturalistische Historiografie das neuzeitliche B.-tum als realhistorisches Phänomen gleichsam verabschiedete. Stattdessen richtete sich das Forschungsinteresse verstärkt auf diskursiv verbreitete Wertvorstellungen und Praktiken des bürgerlichen Zeitalters. Analytischer Referenzrahmen dieses Perspektivenwechsels ist der Begriff der „B.-lichkeit“, dessen normative Relevanz für die Gegenwartsgesellschaft intensiv erforscht wird. Insbesondere die aktuelle Debatte um die universale „Zivilgesellschaft“ knüpft an Institutionen und Diskurse der Moderne an. So gelten etwa die in den westlichen Demokratien praktizierten Formen des liberalen Rechts– und Wohlfahrtsstaats als Errungenschaften der bürgerlichen Emanzipationsepoche. Das zivilgesellschaftliche Erbe des bürgerlichen Zeitalters schließt auch kulturelle Praktiken und Werte ein, die seit der Aufklärung den Alltagshorizont bürgerlicher Lebensführung bildeten. Die wichtigsten, für alle Gruppen des B.-tums verbindlichen Sozialnormen kristallisieren sich um vier, nach wie vor relevante Leitvorstellungen:

a) das Arbeits- und Leistungsethos, an dem sich gesellschaftliche Anerkennung bemisst. Vermögen, Einkommen und Berufskarrieren sind die sichtbarsten Gratifikationen bürgerlicher Gesellschaften. Als individuelles Leistungsäquivalent markiert das Arbeitseinkommen die Grenze zwischen B.-lichkeit und Bedürftigkeit. Zwar ist die sozialmoralische Definition „unverschuldeter“ Armut, die im Gegensatz zu Bettelei und Müßiggang als ehrbar galt, durch den Sozialstaat objektiviert worden. Dennoch belegt die semantische Stigmatisierung „leistungsloser Einkommensempfänger“ die Nachhaltigkeit sozialer Trennlinien. Ein ohne staatliche Unterstützungsleistungen erwirtschaftetes, „gesichertes“ Einkommen gilt als Mindestanforderung einer selbständigen Lebensführung. Statistisch erfüllen dieses bürgerliche Selbstständigkeitspostulat gegenwärtig in den europäischen Gesellschaften zwischen einem und zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung.

b) Bildung: Akademische Zertifikate und Titel, spezielle Berufsqualifikationen sowie Bildung als kulturelle Kompetenz etablieren weiterhin zentrale Unterscheidungsmerkmale zwischen (bildungs-)bürgerlichen und „bildungsfernen“ Schichten. Die hohe soziale Reproduktionsrate bürgerlicher Bildungsschichten unterstreicht die nachhaltige Bedeutung sozialkultureller Ressourcen. Allerdings suggeriert die Begriffskonstruktion „Bildungs-B.-tum“ eine soziale Kohärenz, die der Binnendifferenzierung nicht gerecht wird. Sie schließt zudem Sozialgruppen (Gruppe) definitorisch aus, denen der Zugang zu Universität und Berufsbildung verwehrt war. So wurden nicht zuletzt Frauen aus bürgerlichem Milieu, freie Schriftsteller oder Künstler, als gebildete und daher gleichwertige Kommunikationspartner respektiert.

c) Familie und Verein: Essentielle Leitwerte wie die Wertschätzung von Kunst und Wissenschaft oder die bürgerliche Sexualmoral waren elementarer Bestandteil familiärer Erziehung. Als bürgerliche Lebensform schlechthin idealisiert, sollte die Familie emotionalen Rückhalt geben. Sie war eine moralische Sozialisationsinstanz (Sozialisation), die den intergenerationellen Wertetransfer garantierte und bürgerliche Verhaltensweisen konditionierte. Wilhelm Heinrich Riehls einflussreiche Sozialtheorie konzipierte die Familie als sittliche Solidargemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Aus der „natürlichen“ Geschlechterdifferenz (Riehl 1864: 7) ergaben sich die elementare Rollenzuweisung der Familie „bei Mann, Weib und Kind“ (Riehl 1864: 7; soziale Rolle) und daraus der Aufbau des gesellschaftlichen Organismus. Die Geschlechterordnung wurde in den familiären Wohnwelten visualisiert: hier die geschlechtsadäquat organisierte Abgeschiedenheit des Privatbereichs, dort der gemeinsam inszenierte öffentliche Raum symbolisch kultivierter Bürgerlichkeit. Wie alle normativen Selbstentwürfe so tendierte auch das bürgerliche Familienideal in der Praxis zu flexiblen Variationen. Zu Beginn des 21. Jh. bekennen sich die unterschiedlichsten freiwilligen Lebenspartnerschaften zur solidarischen Verantwortungsgemeinschaft Familie. Bürgerliche Familien verband ein weitverzweigtes Netzwerk arrangierter Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen. In dieses erweiterte Beziehungsgeflecht einbezogen war auch das Vereinswesen, dessen Bedeutung für die Kultivierung bürgerlicher Sozialpraktiken kaum zu überschätzen ist. Freimaurerlogen (Freimaurer) und andere freiwillige Assoziationen bildeten seit dem 18. Jh. die soziale Infrastruktur der B.-Gesellschaften Europas. Die treffend als „Praktiker der B.-Gesellschaft“ (Hoffmann 2003: 14) bezeichneten Initiatoren einer egalitären und zugleich selektiven Vereinsgeselligkeit prägten die kulturellen Wertmaßstäbe und politischen Ordnungsentwürfe des B.-tums. Gemeinschaft entstand durch das demokratische Prinzip der Gleichrangigkeit auf gehobenem sozialem Niveau und durch die erfolgreiche Interessenmediation zwischen Gleichgesinnten verschiedenster Herkunft. Der bürgerliche Verein verstand sich als ideologisches Gegenmodell zur Interessenvergesellschaftung ständischer Korporationen, Berufs- oder Wirtschaftsverbände. Als Instrument gesellschaftlicher Selbstorganisation wirkten Aktien- und Fördervereine zur Finanzierung von Theatern (Theater) und Kunsthallen, Opern- und Konzerthäusern maßgeblich am Aufbau der kulturellen Infrastruktur der bürgerlichen Gesellschaft mit. Ein Hauptaugenmerk bürgerlicher Vereinsaktivität galt auch der „sozialen Hebung“ der Unterschichten durch Bildung und die Einrichtung mildtätiger Stiftungen (Stiftung). Seit dem Spätmittelalter stifteten Bürger Einkommen und Vermögen für soziale Anstalten. Im Stiftungsakt verbanden sich Motive christlicher Nächstenliebe (Caritas) mit ökonomischem Kalkül und dem Interesse der Legitimation bürgerlicher Vorherrschaft in den Kommunen. Im 20./21. Jh. lassen sich soziale Organisationen wie Vereine oder Stiftungen allerdings kaum mehr homogenen bürgerlichen Sozialmilieus zuordnen.

d) B.-Kommune. Trotz ihrer zunehmend amorphen Sozialtopografie blieb die Großstadt (Stadt) der zentrale Identifikationsraum bürgerlicher Schichten. Als Gegenbewegung zu großräumigen Planungsutopien und Gegenkonzept zur Ortlosigkeit der global city formierten sich kommunale B.-Initiativen. Sie appellierten an die lokale Gemeinschaft der B., durch aktive Partizipation am Gemeinwesen die Vereinzelung des Privatlebens zu überwinden. Durch das öffentliche Engagement der Einwohner wird die verwaltete Stadt zur B.-Kommune transformiert. Stadtteil- und B.-Initiativen knüpfen teils bewusst an die politische Theorie des Kommunitarismus an und reaktivieren soziale Organisationsformen des bürgerlichen Vereins. Sie aktualisieren damit den Selbstverständigungsdiskurs und die Selbstverwaltungspraxis des politischen B.-tums der Neuzeit.