Armut

  1. I. Soziologisch
  2. II. Geschichtlich
  3. III. Sozialethisch

I. Soziologisch

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A. ist eines der komplexesten sozialen Phänomene überhaupt und daher auch wissenschaftlich schwer zu bestimmen. Sie beschreibt nicht einfach nur Lebensumstände, die deutlich unterhalb eines als durchschnittlich ansehbaren Lebensstandards in einer Gesellschaft liegen, sondern setzt ein Verständnis von zeitlich und räumlich abgrenzbaren, komplexen Lebenslagen voraus. Empirisch meint A. damit einen unfreiwilligen Zustand der Mangelversorgung im Unterschied zur selbstgewählten A. (Askese). Analytisch verstanden gilt A. als Extremform sozialer Benachteiligung und berührt grundlegende Wertvorstellungen einer Gesellschaft von einem menschenwürdigen Leben (Menschenwürde). Prinzipiell impliziert A. damit zugleich einen starken Impuls, diese zu vermeiden bzw. sie zu bekämpfen. Dieser Impuls geht von einem (theoretischen) Gleichheitspostulat (Gleichheit) aus, welches jedoch lebensweltlich nicht vorstellbar erscheint. Angesichts ihrer Mehrdimensionalität ist jedoch auch die Beseitigung von A. praktisch unrealistisch. Unterstellt, dass es selbst in extrem wohlhabenden Gesellschaften immer Abweichungen zwischen Lebenslagen geben wird, ist also die Bestimmung von A. eine Frage der Akzeptanz von Abweichungen. Das Ziel praktischer A.s-Bekämpfung (A.s-Politik, Sozialpolitik) ist mithin auch weniger zu verstehen als ihre Beseitigung, sondern als die größtmögliche Annäherung von Lebensverhältnissen.

1. Absolute Armut

Als grundlegendste Differenzierung gilt die zwischen absoluter und relativer A. Absolute A. bezeichnet Lebensumstände, in denen das Fehlen adäquater Mittel zur Deckung basaler Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung etc., die physische Existenz eines Menschen bedroht. Konzepte absoluter A. sind in der Regel ressourcenorientierte Konzepte, konzentrieren sich also auf das Nichtverfügen über Mittel, die in einer Gesellschaft als unabdingbar zum Überleben bzw. dem Aufrechterhalten der Subsistenz (Fähigkeit zum Selbsterhalt eines Individuums) angesehen werden. Die empirische Bestimmung von A. ist folglich die einer (meist monetären) Überlebensgrenze. Armutstheoretisch gehen diese auf frühe Studien im England der 19. Jh. wie etwa die von Benjamin Seebohm Rowntree zurück, die bereits zwischen „primary“ und „secondary“ poverty unterschieden. Die aktuell bekannteste Definition absoluter Arbeit dürfte das nicht unumstrittene Kaufkraftparitätskonzept der Weltbank sein, welches als Grenze absoluter A. 1,25 PPP-US-Dollar pro Tag (PPP-US-Dollar = Purchasing Power Parity-US-Dollar) definiert. Dieser Wert entsteht durch die Bestimmung lokaler Kaufkraft unter Ausschluss monetärer Wechselkursschwankungen. Menschen, die also nach Umrechnung auf lokale Kaufkraftstandards im Durchschnitt pro Tag über weniger als 1,25 PPP-US-Dollar verfügen, gelten als absolut arm und in ihrer Existenz akut bedroht, da unterhalb dieser Kaufkraftschwelle von einem Mangel an Ernährung und von unzureichender Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern des täglichen Bedarfes auszugehen ist.

Diese eindimensionale Sicht auf Hunger, Krankheit und Verwahrlosung gilt aber auch zudem als zu eng gefasst, sodass internationale Entwicklungs- und Hilfsorganisationen in der Regel mit einer Vielzahl von Indikatoren zur Bestimmung absoluter A.s-Grenzen operieren. Mit diesen Indikatoren werden häufig neben dem Pro-Kopf-Einkommen und dem Nahrungsenergieverbrauch auch überindividuelle Parameter wie Kindersterblichkeitsraten, die durchschnittliche Lebenserwartung und der Anteil des so genannten „ärmsten Fünftels“ im jeweiligen Land bewertet.

Trotz der Kritik an den Messmethoden kommen diese jedoch im entwicklungspolitischen Kontext noch zum Einsatz, wie etwa bei der Bestimmung der so genannten Millennium-Entwicklungsziele der Völkergemeinschaft, festgelegt in der 55. UN-Generalversammlung – dem so genannten Millenniumsgipfel – in New York 2000. Damals wurde festgestellt, dass über 1,2 Mrd. Menschen in absoluter A. lebten. Über 700 Mio. Menschen hungerten bzw. waren unterernährt. Die primären Entwicklungsziele – bis 2015 die Halbierung des Anteils der Menschen, die weniger als 1 US-Dollar (PPP-Wert von 2000) täglich zur Verfügung haben – stehen in der Kritik, gelten sie doch nicht nur als nicht erreichbar, sondern auch als zu stark vereinfachend. Sie reduzieren im Grunde genommen Menschenwürde in Entwicklungsregionen auf die Bekämpfung von Hunger und lenken von anderen Aspekten absoluter A. in Entwicklungsregionen dieser Erde ab: Zugang zu sauberem Trinkwasser, Zugang zur Bildung und Reduzierung von Analphabetismus sowie generell die Teilhabe (Partizipation) an gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Prozessen.

Absolute A. gilt aber mittlerweile nicht nur in so genannten entwickelten Staaten als überholtes Bewertungskonzept, da A. prinzipiell nur messbar ist in Bezug zu ihrem jeweiligen sozialen Kontext und auch nur zu einem bestimmbaren Zeitpunkt. Mit dieser Sichtweise nähern sich auch im Bereich der Entwicklungspolitik gängige A.s-Verständnisse mehr und mehr komplexeren, mehrdimensionalen Konzepten relativer A. an, wie sie für industrialisierte Staaten üblich sind (z. B. der HDI der Vereinten Nationen oder die A.s-Indikatoren der IDA.

2. Relative Armut

Relative A. ist kein monistisches Konzept. Nach ihrem Verständnis wird ein soziokulturelles Existenzminimum unterschritten. Die Lebensbedingungen liegen also unterhalb eines als Durchschnitt oder Standard akzeptierten Maßes an Einkommen, Güterversorgung etc. ihres jeweiligen Landes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Da die Pluralität der Lebensstile und Konsumgewohnheiten kaum mehr verlässliche Definitionen von Durchschnitt oder Lebensstandards für eine Mehrheit einer Gesellschaft zulassen, ergibt sich ein Theorie-Empirie-Dilemma: Je präziser und umfassender der Begriff von A. über die schiere Einkommensverteilung hinaus Auskunft geben soll, desto mehrdimensionaler und weitreichender müssten empirisch Lebenslagen erhoben und gemessen werden. Dies stößt aber an Grenzen hinsichtlich des Aufwandes der Bestimmung des Ausmaßes von A. und der Aktualität der Daten. Umgekehrt sind A.s-Konzepte, die sich ausschließlich an einem verfügbaren Haushaltseinkommen (Einkommen) orientieren, sehr eindimensional und sagen im Grunde wenig bis nichts über subjektives A.s-Empfinden aus, sind aber statistisch leicht verfügbar und aktualisierbar.

Relative A. – ein Begriff, der auf den britischen A.s-Forscher Peter Townsend zurückgeht – basiert auf keinem eindeutigen sozialwissenschaftlichen Konzept. Die moderne A.s-Forschung hat sich jedoch mit einem hybriden Verständnis von A. arrangiert: Die Ko-Existenz eines restriktiven und eindimensionalen, aber empirisch praktikablen Konzepts von Einkommens-A. und eines erweiterten Lebenslagenansatz, der überwiegend theoretisch und nicht empirisch verwendet wird. Der Pragmatismus, mit dem für ein auf Einkommen reduziertes Verständnis von A. plädiert wird, findet häufig seine Relevanz in der Tatsache, dass dies nicht nur national, sondern auch auf EU-Ebene (EU) das seit längerem Verwendung findende Konzept amtlicher A.s-Erfassung ist. Maßstab ist hierbei das individuelle Haushaltsnettoeinkommen, welches in Bezug zum national oder international zu ermittelnden durchschnittlichen Nettoeinkommen aller Privathaushalte (Äquivalenzeinkommen) gesetzt wird. Hiernach sind drei Prozentschwellen als Abweichungen nach unten bedeutsam (Grenzwertmethode): 40 % („strenge A.“), 50 % („relativ einkommensarm“) und 60 % („armutsgefährdet“). Die Datengrundlagen liefern große Befragungen in Privathaushalten (Panels) wie etwa national der Mikrozensus oder das SOEP bzw. auf EU-Ebene die EU-SILC. Diese Quellen gelten als zuverlässig und hinreichend präzise, haben allerdings das Problem des schnellen Veraltens.

Das Äquivalenzeinkommen ist eine fiktive Rechengröße, die den Median (Zentralwert) der Einkommensverteilung verwendet. Der Median ist dabei dann der Einkommenswert, der die Bevölkerung in genau zwei Hälften teilt, also eine Hälfte hat mehr, die andere hat weniger Einkommen als den Äquivalenzwert zur Verfügung. Der Grenzwert 60 % des Medianwertes stellen nach EU-Definition den Schwellenwert für A.s-Gefährdung (auch bezeichnet als A.s-Gefährdungsgrenze) dar. Amtliche Statistiken weisen heute meist nur noch diesen Wert bzw. die Quote der unter diesen Schwellenwert fallenden Bevölkerungsanteils (= A.s-Gefährdete) aus. In der BRD waren dies nach den zuletzt verfügbaren Daten 16,7 % der Gesamtbevölkerung (Statistisches Bundesamt 2015). Damit nahm der Anteil armutsgefährdeter Bevölkerung seit der Jahrtausendwende kontinuierlich zu. Auch international haben sich A.s-Risiken verschärft.

Im Rahmen der Strategie „Europa 2020“ (Beschluss des Rates der EU 2010) wurden flankierend zur A.s-Gefährdungsquote EU-weit zwei weitere Sozialindikatoren definiert:

1. Anteil der Bevölkerung mit erheblicher materieller Deprivation (= finanzielle Probleme, bestimmte Versorgungsleistungen rechtzeitig bezahlen zu können oder das Fehlen bestimmter Haushaltsgüter), 2. Anteil der Personen in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung (= tatsächliche Erwerbsbeteiligung der im Haushalt lebenden, erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder beträgt weniger als 20 % ihrer potenziellen Erwerbsbeteiligung).

Beide Erweiterungen der EU-amtlichen A.s-Definition sind Versuche, neben dem Einkommensmaß auch Lebens- und Konsumstandards zumindest auf einer sehr basalen Ebene in den Blick zu nehmen.

3. Zur Empirie von Armut

Zeitgeschichtlich betrachtet ist A. eng an die sozialen Fragen der jeweiligen Zeit und die Ablösung bzw. Neuausformung von Solidaritätsformen (Solidarität) in der jeweiligen Gesellschaft geknüpft. Zugleich sind die am meisten von A. betroffenen Gruppen in einer Gesellschaft ein Spiegel der soziostrukturellen und machtpolitischen Zustände in ihren Zuspitzungen vertikaler Differenzierung. In gleicher Weise, wie von gesellschaftlicher Stratifikation und den sichtbarsten Spaltungen viel über A. in ihrer Zeit abzulesen ist, so ist auch an der Ausprägung der A.s-Lagen viel über die grundlegenden Modernisierungsprobleme einer Gesellschaft abzulesen, seien es Massenarbeitslosigkeit, strukturelle Benachteiligungen bestimmter Lebensformen oder systematische Schwächen sozialer Sicherungssysteme. So gesehen sind Arme nicht immer nur Modernisierungsverlierer, sondern auch Opfer einer unausgewogenen, nicht vorausschauend handelnden Politik. Und sie sind tendenziell auch Opfer mangelnder Fürsprache bzw. der institutionellen Schwäche traditioneller Fürsprecher.

Dabei ist A. jenseits materieller Problemdimensionen auch immer ein Hinweis auf Schwächen in der Repräsentanz demokratisch-politischer Beteiligungskultur (Politische Kultur). Eine Marginalisierung ganzer Gruppen aus dem Spektrum macht- und meinungspolitischer Sichtbarkeit und Einflussnahme. Wer sich vom politischen Mainstream nicht vertreten fühlt und nicht von den Veränderungen politischer Mehrheitsbildung profitiert, wird irgendwann an diesen nicht mehr teilnehmen. So kommt es, dass mit sinkender Wahlbeteiligung der von A. gefährdeten Wählerinnen und Wähler soziale Themen im Wettstreit der politischen Parteien immer weniger eine Rolle spielen (müssen).

Sozialpsychologisch betrachtet transportiert die öffentliche Präsenz von A. in einem reichen Land eine permanente soziale Angst, aus der Ablehnung wird, ein Phänomen, welches nicht nur diffus Abstiegsängste, sondern auch den Umgang statusunsicherer Gruppen („Abstiegsgefährdete“ und „Orientierungslose“) in der Gesellschaft mit Minderheiten generell bis hin zu Fremdenfeindlichkeit erklären hilft. Hier wird deutlich, dass A. – und über diese hinaus sozialpolitischen Maßnahmen – auch gewisse gesellschaftliche Funktionen (Abschreckung, Anpassung, Moral, Motivation) zugeschrieben werden können.

Empirisch wurde ausgehend von einer Zielgruppenbetrachtung (Beziehende von Sozialleistungen) einerseits immer wieder treffsicher auf ein erhöhtes A.s-Risiko bei Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden und chronisch Kranken/Pflegebedürftigen hingewiesen. In der Tat repräsentieren diese Gruppen einen überwiegenden Teil der Sozialleistungsbeziehenden in Deutschland. Sie sind also trotz Sozialleistungen stabil armutsgefährdet, was zwei Schlüsse nahelegt: 1. die jeweiligen Sozialleistungsniveaus sind nicht hinreichend armutsfest und/oder 2. es gibt in gewisser Weise eine Verfestigung von A. Tatsächlich lassen sich zahlreiche Befunde anführen, die mit fortschreitender Dauer des Leistungsbezugs es unwahrscheinlicher werden lassen, sich dauerhaft von A.s-Lagen zu befreien.

Andererseits wurde zu Recht an einer solch klientelistischen Herangehensweise kritisiert, dass sie sehr stark stigmatisiert und eine generelle „soziale Schwäche“ (Isolation, Kommunikationsdefizite, Apathie) unterstellt, die tatsächlich so nicht gegeben ist. Im Gegenteil verstellt der klientelistische Ansatz den Blick auf individuelle soziale Ressourcen, die die Tragfähigkeit sozialer Netze und Selbstwirksamkeit in das Zentrum rücken und darüber Bewältigungsfähigkeiten und -strategien offenbaren („Leben trotz A.“ statt „Leben in A.“).

Weiterhin nehmen empirische Ansätze in der A.s-Forschung Interdependenzen mit bestimmten Lebenslagenbereichen wie etwa A. und Gesundheit oder A. und Bildung in den Blick. Eine Reihe prominenter A.s-Theorien macht Bildung zum Schlüsselbegriff für A. und A.s-Bekämpfung. Der für seinen Capability Approach berühmt gewordene Wirtschaftswissenschaftler Amartya Kumar Sen beschrieb beispielsweise zur Bewertung von A., dass die Verfügbarkeit armutsmildernder oder präventiver Güter (commodities) nur durch das Wechselspiel individueller Verwirklichungschancen (capabilities) und Fähigkeiten (functionings) in Befähigungen erklärbar ist. Mit anderen Worten: Es reicht der Zugang zu (staatlichen) Hilfen, Ärzten, Diensten etc. alleine nicht aus, sondern setzt ein Bündel an (positiven) Erfahrungen im Einsatz eigener Fähigkeiten zur Entscheidung für dieses oder ein anderes Leben voraus. Bildung ist hier wie soziale Integration ein wesentliches Element, Fähigkeiten zu erwerben und aus diesen Verwirklichungschancen werden zu lassen. In A. lebt hiernach, wer sich nicht für ein anderes Leben entscheiden kann.

Neben Bildung ist der Zusammenhang mit Gesundheit immer wieder Gegenstand von A.s-Forschung. Ausgehend von der fundamentalen These, dass Arme kränker sind und früher sterben müssen, werden epidemiologische Befunde in Abhängigkeit bestimmter Lebenslagen untersucht. Relevant sind auch Zusammenhänge zu Wohnumfeldbedingungen, gesundheitsförderndem Verhalten und dem Zugang zu bzw. der Inanspruchnahme von Gesundheitsvorsorge bzw. -versorgungsangeboten. V. a. spielt aber eine starke Differenzierung des subjektiven Gesundheitsempfindens (Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes) in Abhängigkeit von Einkommen und Erwerbstätigkeit eine Rolle. Zahlreiche Studien legen den Schluss nahe, dass unterschiedliche Einkommens- und Lebenslagen und die damit gegebene Ungleichverteilung bestimmter Morbiditätsrisiken über Jahrzehnte eines Lebens hinweg zu unterschiedlichen Risikohäufungen führen, die am Ende tatsächlich unterschiedliche (ungleiche) Lebensspannen messbar macht. Die Erkenntniszugewinne in beiden Dimensionen (Bildung und Gesundheit) sind zudem von besonderer Relevanz für Kinder (Kindheit) und Jugendliche (Jugend). Bei diesen handelt es sich nicht einfach nur um „Teilmengen“ armutsgefährdeter Haushalte, sondern um eine Gruppe mit besonderen Gefährdungsspezifika. Die Langzeitfolgen von A.s-Phasen haben v. a. für ein psychisch und physisch gesundes Aufwachsen und für Bildungskarrieren enorme Konsequenzen.

4. Sozialpolitische Ideen zur Überwindung von Armut

Angetrieben durch die Diskussion um die Krise des Sozialstaats und des Rückzugs des Staates angesichts der Überschuldung öffentlicher Haushalte gegen Ende der 1990er Jahre sind erneut zahlreiche Konzepte in die Debatte eingebracht worden, mit welchen Mitteln sich dauerhaft A. in einem reichen Staat minimieren ließe. Große Aufmerksamkeit – auch deutlich über die wissenschaftlichen Diskurse hinaus – erhielt dabei die Idee des „garantierten Grundeinkommens“. Attraktivität entfaltet die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens hinsichtlich der Grundidee der Entkoppelung von Arbeit und Essen, also der Auflösung des Arbeitszwangs zur Existenzsicherung. Die Annahme ist hierbei, diese Entkoppelung würde nicht im Nichtstun enden, sondern im Gegenteil wertvolle Ressourcen für den Arbeitsmarkt freimachen, der sich dann von unterbezahlten und subventionierten Beschäftigungsformen befreien und in deutlich fairere Formen eines mehr auf Kreativität und Engagement basierenden Arbeitsmarktes einmünden könne. Nur wenn der ökonomische Zwang zur Annahme jedweder bezahlten Tätigkeit entfiele, ließe sich enorme intrinsisch motivierte Produktivität von automatisierbaren Niedriglohntätigkeiten umschichten.

Zusätzlich wird auch damit argumentiert, dass ein Großteil der Sozialausgaben und Transferleistungen nicht hinreichend armutsfest aufgewendet werden. Hierin spiegelt sich eine immer wieder vorgetragene Kritik am Sozialstaat wieder, dass er gemessen an seinem Wirkungsgrad (Gerechtigkeitsempfinden, Umverteilungswirkung, Wertschätzung von Wohlfahrtsproduktion etc.) viel zu unpräzise, ineffizient und damit zu teuer sei. Debattenbeiträge, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen aussprechen, argumentieren häufig damit, dass dieses den Staat mutmaßlich weniger „kosten“ würde als die Summe aller Sozialleistungen.

Unter Sozialstaatstheoretikern und Sozialpolitikern ist die Idee eines garantierten Grundeinkommens nicht unumstritten. Das gewichtigste Gegenargument geht von der relativistischen Bewertung von A. aus und argumentiert, dass sich mit einem Grundeinkommen nicht A. beseitigen ließe, sondern nur die A.s-Grenzen analog der Grundeinkommenshöhen verschieben und gerade wieder Grundeinkommensbeziehenden ohne zusätzliche Arbeit stigmatisieren und als neue „A.s-Klasse“ regelrecht am unteren Ende der Gesellschaft „einzementiere“. Kritiker warnen zudem davor, aus eher umverteilungspraktischen Gründen die Finanzierung eines solchen Grundeinkommens im Wesentlichen auf Einsparungen aufzubauen, die sich aus im Gegenzug stark reduzierten oder gar abgeschafften Sozialleistungen ergäbe. Die Diskussion um die „richtigen“ Maßnahmen zur Bekämpfung von A. in einem reichen Land wird also in gleicher Weise weiterhin zu führen sein wie die um die Beseitigung von Hunger und Nichtteilhabe in anderen Teilen dieser Welt.

II. Geschichtlich

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1. Begriffs- und Wissensgeschichte

A. ist als Bezeichnung für die untere Randlage extrem ausgeprägter sozialer Ungleichheit, deren Beseitigung oder Abmilderung gesellschaftlich als erstrebenswert gilt, im Alltagsverständnis fest verankert. Es existiert allerdings keine verbindliche Begriffsbestimmung. Aufgrund ihrer engen Verbindung zu sozialen Ordnungsideen und Vorstellungen über „gute“ Gesellschaft enthalten A.s-Begriffe nicht nur deskriptive, sondern immer auch normative Bestandteile. Sie sind Ergebnis von Deutungsprozessen, die Antworten auf mehrere Fragen geben: Was sind die Ursachen von A.? Welche Güter und Ressourcen gelten als lebensnotwendig? Welche Mangelzustände bedürfen der Intervention? Wer ist interventionspflichtig? Werden Arme sozial marginalisiert oder bleiben sie akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft? Wer definiert A. als Sozialphänomen, die Armen selbst, Praktiker der Armenhilfe oder wissenschaftliche Experten? Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Armen verweist damit auf soziale Spannungslinien, aber auch auf Praktiken der Solidarität, die Gesellschaften als Ganzes strukturieren.

Die Vorstellungen darüber, wer als arm zu gelten hat, variieren stark mit dem historischen, räumlichen und kulturellen Kontext. In der antiken Welt galt bereits derjenige als arm, der seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit erwirtschaften musste. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit bezeichnete A. nicht nur eine Platzierung am unteren Rand des materiellen Verteilungsspektrums, sondern oftmals auch einen Rechtsstatus, der mit besonderer Schutzbedürftigkeit und eingeschränkter Selbstbestimmung verbunden war. In der wohlfahrtsstaatlich geprägten Moderne steht der Begriff der A. für diejenigen Formen materieller Ungleichheit, die zu eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabechancen führen und daher der Korrektur durch öffentliche Interventionen bedürfen, da ihr Fortbestehen soziale Inklusion als Grundversprechen moderner Gesellschaften gefährdet.

2. Armut und Armenfürsorge in den vormodernen Gesellschaften Europas

In der griechischen und römischen Antike galt A. als normaler Zustand, aus dem nur ein begrenzter politischer Interventionsbedarf resultierte. Residuale Formen der Unterstützung außerhalb familiärer Netzwerke basierten i. d. R. auf lokalen Zugehörigkeiten, in begrenztem Umfang auch auf gegenseitigen Solidarpflichten im Rahmen von Berufsvereinigungen und Kultgemeinschaften. Im christlichen A.s-Verständnis galt A. einerseits als Folge des Sündenfalls und gottgewollter Zustand individueller Prüfung, andererseits war freiwillige A. als Ausdruck der Nachfolge Christi und der Weltentsagung hoch geschätzt. Grundlegende Neuerungen im Umgang mit A. ergaben sich daraus, dass die Zuwendung zu den Armen durch das Gebot der Nächstenliebe in einen heilsgeschichtlichen Wirkungszusammenhang eingebunden wurde. Im NT finden sich zahlreiche Textstellen, die die Vorbildwirkung der Hinwendung Jesu zu den Randständigen der Gesellschaft akzentuieren und Barmherzigkeit und tätige Nächstenliebe als zentrale Wesensmerkmale christlicher Lebensführung herausstellen (Mt 25,34–46). Der weltliche Akt der A.s-Bekämpfung wurde dadurch zu einer Handlung mit religiöser Bedeutung. Mit ihr konnte der Almosenspender seine Heilserwartung im Jenseits positiv beeinflussen. Im Gegenzug übernahm der Almosenempfänger eine Verpflichtung, für das Seelenheil des Gebers zu beten. Auf diese Weise entstand eine hierarchisch-reziproke Beziehung, die Armen eine feste Position in der Gesellschaft zuwies, die zwar randständig war, aber aufgrund ihrer religiösen Kontextualisierung weitgehend frei von Stigmatisierungen blieb. Die praktische Armenfürsorge war Pflicht der christlichen Gemeinden (Gemeinde), Klöster und kirchlichen Amtsträger, insb. der Bischöfe (Bischof) als „Väter der Armen“. Aus der Vorstellung, dass die Sorge für Bedürftige eine genuine christliche Aufgabe bilde, entwickelte sich eine Kultur der speziellen Fürsorge durch Hospitäler und Laienbruderschaften für bes. armutsgefährdete Gruppen. Seit dem Spätmittelalter kam es vor dem Hintergrund knapper werdender Nahrungsressourcen zu Veränderungen in der Armenhilfe. Einerseits engagierten sich die Kommunen verstärkt in der A.s-Fürsorge, andererseits wurde deren Praxis durch eine zunehmend kritischere theologische Sicht auf das Almosenwesen sowie Reglementierungen der Armenhilfe geprägt. Hierzu gehörten die Ausschließung ortsfremder Armer sowie eine schärfere Durchsetzung der Unterscheidung zwischen so genannten „schwachen“, unterstützungswürdigen Armen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst erwirtschaften konnten und „starken“, weil arbeitsfähigen und daher nicht unterstützungswürdigen Armen.

Auch wenn die neuere Forschung die Vorstellung einer harten Scheidelinie zwischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen A.s-Konzeptionen inzwischen relativiert, war die frühe Neuzeit in vieler Hinsicht eine Umbruchszeit im gesellschaftlichen Umgang mit A. Die reformatorische Gnadenlehre stellte die heilsstiftende Wirkung guter Werke infrage und untergrub damit ein Zentralmotiv christlicher Armenhilfe. Dies leistete einer moralisierenden Deutung Vorschub, die A. nicht mehr als unabänderlichen Bestandteil einer göttlichen Ordnung begriff, sondern als Ergebnis eines durch Kontrolle, Erziehung und Strafen (Strafe) beeinflussbaren menschlichen Fehlverhaltens deutete. Beides verschob die Perspektive auf A. weg vom individuellen Interesse von Unterstützungsgebern und Unterstützungsempfängern hin auf eine abstrakte Gemeinwohlorientierung. Reformen der Armenfürsorge verlagerten die Hilfstätigkeit von privaten und kirchlichen Trägern auf kommunale und territorialherrschaftliche Institutionen, die A. vorrangig als Problem der öffentlichen Ordnung begriffen und A.s-Politik zur Herrschaftsausdehnung nach innen nutzten. Eine zunehmende Polizierung der Armen durch Bettelverbote, Einschränkungen der Freizügigkeit und Kopplung der Unterstützungsgewährung an lokale Zugehörigkeitsrechte sowie Einweisungen in Arbeitshäuser, die pädagogische Zielsetzungen mit dem Interesse an der Produktivierung ihrer Insassen verbanden, prägten daher zunehmend die Praxis der Armenfürsorge.

3. Armut und Armenfürsorge in der Industriemoderne

Die Deregulierung traditioneller Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse im Übergang von der agrarischen Subsistenzwirtschaft zum Industriekapitalismus und das Wachstum der Bevölkerung führten zu Beginn des 19. Jh. zunächst zu einer Verelendung weiter Bevölkerungskreise, die mit den traditionellen Mitteln lokaler Armenpflege nicht mehr zu bewältigen war. Der zeitgenössische Begriff der „sozialen Frage“ bezeichnete massiv verschlechterte Erwerbschancen, soziale Missstände im entstehenden Industriesystem wie überlange Arbeitszeiten ohne auskömmlichen Lohn, aber auch die Einsicht, dass A. nicht mehr länger als selbstverschuldete oder schicksalhafte Soziallage gedeutet werden konnte, sondern als strukturelles, zunehmend auch Teile der arbeitenden Bevölkerung betreffendes Massenphänomen der industriekapitalistischen Wirtschaftsordnung (Kapitalismus) angesehen werden musste. Während der Liberalismus A. durch die Freisetzung der Marktkräfte überwinden wollte, setzten sozialistische Denker (Sozialismus) auf die Revolutionierung der Eigentumsordnung und die Entkoppelung der Arbeit von Marktzwängen. Christliche Soziallehren (Christliche Sozialethik) verbanden ihre teilweise scharfe Kritik an den sozialen Begleiterscheinungen der Industriemoderne mit Maßnahmen praktischer Armenhilfe und dem Streben nach Rechristianisierung der Gesellschaft. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. veränderte sich die Wahrnehmung von A. als individuellem, primär durch private und religiös-karitative Wohltätigkeit zu lösendem Problem zugunsten einer Sichtweise, die neben dem Gedanken der Selbsthilfe eine öffentliche Interventionspflicht betonte (so 1891 in der ersten Sozialenzyklika Rerum Novarum, Sozialenzykliken). Hier ergaben sich Anknüpfungspunkte zur staatlichen Sozialpolitik, die die A.s-Bekämpfung zunehmend zentralisierte und seit den 1880er Jahren nationale Sicherungssysteme gegen industriegesellschaftliche Grundrisiken wie Unfall, Krankheit und Einkommensverlust im Alter etablierte. Diese richteten sich zunächst an die männliche Industriearbeiterschaft, bezogen jedoch sukzessive auch deren Familien und andere Berufsgruppen mit ein. Dort wo Risiken nicht durch die Sozialversicherung abgedeckt wurden, oder ihre Leistungen den Lebensunterhalt nicht sicherstellten, bildete die in Deutschland von den Kommunen organisierte Armenhilfe weiterhin ein wichtiges Sicherungsnetz. Ihre Leistungen unterschieden sich von denen der Sozialversicherung dadurch, dass sie nicht auf Rechtsansprüchen basierten, sondern am individuell nachzuweisenden Bedarf orientiert waren sowie durch weiter gefasste Ermessensspielräume bei der Leistungsgewährung. Diese war an konkrete Verhaltenserwartungen geknüpft, so dass die Praxis der A.s-Politik durch ein ambivalentes Verhältnis von Hilfe und sozialer Normierung geprägt wurde. Charakteristisch für die A.s-Politik war zudem ihre hohe Eigenzeitlichkeit. Leitwerte, Handlungspraxen und Organisationsformen folgten nur zum Teil den Bewegungsrhythmen der sozialstaatlichen Entwicklung, wie die bis weit ins 20. Jh. immer wieder reaktivierte Unterscheidung zwischen gesellschaftlich akzeptierten und stigmatisierten Formen von A. deutlich macht.

4. Zeitgeschichte der Armut (1914 bis 1989/90)

In der Langzeitbetrachtung zeigt der Umfang der durch Sozialpolitik bekämpften A. ein erstaunlich stabiles Bild: 1907 erhielten etwa 3,4 % der deutschen Bevölkerung Armenfürsorge, 1989 bezogen nach einem historischen Tiefstand 1961 2,8 % der bundesdeutschen Bevölkerung Hilfe zum Lebensunterhalt. Insofern hat sich die Erwartung, A. aus dem Spektrum sozialpolitischer Problemlagen dauerhaft zu verdrängen, nur zeitweise erfüllt. Gleichwohl haben steigende Einkommen und die Entfaltung des Sozialstaats im Verlauf des 20. Jh. das Risiko arm zu werden deutlich gesenkt und einen Gestaltwandel der A. bewirkt. Arm zu sein bedeutete in den Ländern der „ersten“ und „zweiten“ Welt nur mehr in Ausnahmefällen ein Leben an der Schwelle physischer Existenzbedrohung. Zudem wurde das A.s-Risiko wichtiger Sozialgruppen deutlich reduziert, so in Nord- und Westeuropa für alte Menschen, während der traditionelle Zusammenhang zwischen Alter und A. in staatssozialistischen Gesellschaften weiterhin bestehen blieb. Allerdings wiesen bestimmte Sozialgruppen, etwa Arbeitslose, Alleinerziehende und Kinder, weiterhin ein hohes, seit den 1970er Jahren teilweise sogar wieder zunehmendes A.s-Risiko auf. Zudem blieb Massen-A. auch im 20. Jh. eine Begleiterscheinung wirtschaftlicher und politischer Krisenzeiten (Krise), in denen tief greifende Einbrüche im Wohlstandsniveau durch den Sozialstaat nur teilweise aufgefangen werden konnten. In den Inflationsjahren 1914–1923 verloren große Teile des bürgerlichen Mittelstands in Deutschland Vermögen und Altersversorgung. Verschärfte Exklusionstendenzen und eine restriktive Praxis der Leistungsgewährung bewirkten in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre eine durchgreifende Verelendung der über sechs Mio. Arbeitslosen und ihrer Familien. Beides trug erheblich zum Legitimationsverlust der Weimarer Demokratie bei, während die rasche sozialpolitische Integration von mehreren Mio. pauperisierten Flüchtlingen, Heimatvertriebenen und Kriegsopfern eine entscheidende Grundlage des demokratischen Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg bildete.

Grundlegend ist der Wandel in der öffentlichen Bewertung von A. Während der Bezug von Unterstützungsleistungen im Kaiserreich noch mit politischen Diskriminierungen (Diskriminierung), z. B. dem Verlust des Wahlrechts, verbunden war, setzte sich im Verlauf des 20. Jh. zunehmend die Vorstellung durch, dass Arme Teil einer nationalstaatlich definierten Solidaritätsgemeinschaft seien und dass sich aus ihrem Staatsbürgerstatus und der Menschenwürde ein Recht ableiten ließe, ein Leben frei von Not zu führen (so bereits in der Atlantik-Charta 1941). Das bundesdeutsche Sozialhilfegesetz von 1961 leitete aus dem Sozialstaatsgebot des GG erstmals einen individuellen Rechtsanspruch auf ein staatlich garantiertes Existenzminimum her, „das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1). Allerdings blieb die Ausgestaltung dieses Existenzminimums politisch umstritten.

III. Sozialethisch

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1. Armut als Problem der Gerechtigkeit

Über lange Zeit der Menschheitsgeschichte hinweg wurde A. als Schicksal hingenommen oder als Ergebnis individueller Lebensführung betrachtet und deshalb auch nicht als Ungerechtigkeit verstanden. Selbstverständlich gab es trotzdem Hilfspflichten gegenüber den Armen, wenn diese in extreme Not gerieten. Je mehr aber – wie zunehmend seit dem 19. Jh. unter dem Einfluss des Marxismus – A. als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse betrachtet wurde (bspw. der Enteignung von Produktionsmitteln, von Unterdrückung, Exklusion, unfairen Austauschverhältnissen oder ungleichen Chancen), umso mehr wurde und wird heute in ihr eine Gerechtigkeitslücke gesehen. Wenn Gesellschaften (Gesellschaft) in der Lage sind, ihre Verhältnisse so zu gestalten, dass A. als gesellschaftliches Problem gemindert werden kann, ist es eine Ungerechtigkeit gegenüber den Armen, wenn entsprechende Maßnahmen unterlassen werden. Solche A. ist als eine Verletzung der Menschenwürde und grundlegender Menschenrechte zu verstehen.

Dabei impliziert Gerechtigkeit nicht immer Gleichheit. Wenn es eine Gleichheit der Chancen (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit ) gibt, führt die unterschiedliche Wahrnehmung dieser Chancen nach verschiedenen individuellen Präferenzen oder verschiedener Leistungsbereitschaft eben auch zu Ungleichheiten. Umgekehrt lässt sich aber Leistungsgerechtigkeit nicht ohne Chancengerechtigkeit rechtfertigen. Nach dem bekannten Differenzprinzip von John Rawls sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn sie „den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen“ und „mit Ämtern und Positionen verbunden“ sind, „die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen“ (Rawls 1993: 336–337). Bes. für Kinder und Jugendliche, deren Chancen durch materielle A. ihres Elternhauses massiv beeinträchtigt werden können, impliziert diese faire Chancengleichheit, dass Ungleichheiten der Einkommen und Vermögen nicht zu groß werden dürfen. In jedem Fall aber steht jedem Menschen ein soziokulturelles Existenzminimum als grundlegendes Menschenrecht zu. In diesem Sinne muss die Bekämpfung absoluter A. (gemessen an der Schwelle eines solchen soziokulturellen Existenzminimums) Vorrang haben vor der Bekämpfung relativer A. (etwa gemessen an einem bestimmten Prozentsatz des Medianeinkommens).

Neben der sozialethischen Argumentation lassen sich für A.s-Bekämpfung bis zu einem gewissen Grad auch ökonomische Gründe vorbringen. Soziale Sicherheit gleicht konjunkturelle Schwankungen aus, senkt die Kriminalität, stärkt politische Beteiligung (Partizipation) und sozialen Frieden und fördert damit das Vertrauen, das hilft, Transaktions-, Kontroll- und Sanktionskosten zu sparen. Internationale Vergleiche weisen darauf hin, dass hohe A.s-Raten wirtschaftliche Entwicklung behindern, während geringere A. die Chancengleichheit erhöht und dazu führt, vorhandene Begabungspotenziale zum Nutzen des Gemeinwohls besser auszuschöpfen und das insgesamt verfügbare Humankapital zu erhöhen, was sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Jedoch erzwingt eine solche ökonomische Betrachtung alleine nicht die Bekämpfung der A. aller Menschen, v. a. nicht jener, die der Gesellschaft keinen ökonomischen Nutzen mehr bringen.

2. Kirchliche Sozialverkündigung

Die erste Sozialenzyklika Rerum novarum (Leo XIII., 1891; Sozialenzykliken) geht noch selbstverständlich davon aus, es würden „immerdar in der Menschheit die größten und tiefgreifendsten Ungleichheiten bestehen“ bleiben (Rerum novarum 14). Aber zusammen mit dem Appell an die Reichen, den Armen etwas abzugeben, ohne aber „des Almosens wegen auf standesgemäße und geziemende Ausgaben zu verzichten“ (Rerum novarum 19), tritt Rerum novarum schon für die Würde der Arbeiter und ihre Rechte ein. Mater et magistra (Johannes XXIII., 1961) kritisiert demgegenüber die Ungleichheit innerhalb der Länder und zwischen ihnen deutlich schärfer (Mater et magistra 150 ff. und 157 ff.) und erweitert die Forderung nach Solidarität und Gerechtigkeit erstmals auf den globalen Horizont. Auch die Konzilskonstitution GS (1965) betont, „aus der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit“ ergebe „sich als Folge, dass das Gemeinwohl […] heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muss den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen, ja dem Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie Rechnung tragen“ (GS 26). Im weiteren Verlauf der Sozialverkündigung betont die Kirche (Katholische Kirche) immer stärker die Pflicht, A. zu überwinden, fordert dafür entsprechendes staatliches oder überstaatliches Handeln und unterstützt die „Solidarität unter den Armen“, die ihre legitimen Rechte einfordern (Sollicitudo rei socialis, Johannes-Paul II., 1987, Nr. 39). Zuletzt hat Papst Franziskus keinen Zweifel daran gelassen, dass „die Option für die Letzten, für die, welche die Gesellschaft aussondert und wegwirft“ (EG, 2014, Nr. 195), zentral zur Botschaft des Evangeliums und zur Praxis des christlichen Glaubens gehört. Mit Berufung auf Papst Johannes Paul II. behauptet er sogar, ohne die „Sonderoption“ für die Armen liefe „die Verkündigung, die auch die erste Liebestat ist, Gefahr, nicht verstanden zu werden oder in jenem Meer von Worten zu ertrinken, dem die heutige Kommunikationsgesellschaft uns täglich aussetzt“ (EG, Nr. 199).

Er schließt sich damit einer zentralen Einsicht der Theologie der Befreiung an, die schon Ende der 1960er Jahre aus der allgemeinen Gerechtigkeitsforderung die „Option für die Armen“ als wesentlichen Bestandteil einer jeden christlichen Glaubenspraxis abgeleitet hatte, was bis in die konkrete pastorale Arbeit hinein Konsequenzen haben müsse. Diese Option für die Armen wurde inzwischen auch in der ökumenischen Bewegung rezipiert und findet zugleich Anknüpfungspunkte in der jüdischen und muslimischen Tradition, so dass hier eine Gemeinsamkeit mindestens der abrahamitischen Religionen besteht. Die Befreiungstheologie hat dabei immer wieder betont, dass es nicht nur darum gehen kann, den Armen zu helfen, sondern darum, sie als Subjekte ihres eigenen Lebens und ihrer Lebensumstände anzuerkennen, ihnen eine Stimme zu geben, ihre berechtigten Forderungen ernst zu nehmen und ihnen „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu leisten. Nur eine so verstandene Unterstützung für die Armen nimmt diese als Menschen mit Würde und Rechten (Menschenwürde, Menschenrechte) ernst und unterstützt den Prozess der „Befreiung“, der wesentlich ein Prozess des „empowerment“ sein muss. Zusätzlich ergibt sich daraus die Forderung, die Armen nicht als eine homogene Gruppe zu betrachten, sondern sie in ihrer Vielfalt wahrzunehmen – sowohl hinsichtlich der komplexen Ursachen der A. als auch hinsichtlich der verschiedensten möglichen Bewältigungsformen. Es wird also bei der A.s-Bekämpfung maßgeblich darauf ankommen, die Fähigkeiten der Armen zu stärken.

3. Notwendige Veränderung von Strukturen

Wenn A. zu einem erheblichen Teil auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen ist, fordert die Gerechtigkeit gegenüber den Armen nicht nur die individuelle Hilfe für einzelne Arme, sondern v. a. die Veränderung der strukturellen und institutionellen Faktoren, die für die A. verantwortlich sind. Eine der wichtigsten Institutionen moderner Gesellschaften (Gesellschaft) ist der Markt, der jedoch trotz seiner positiven Wirkungen A. nicht verhindert. Schon um ihn als freien Markt funktionstüchtig zu erhalten, muss er durch staatlich zu schaffende Rahmenbedingungen reguliert werden. Zusätzlich müssen soziale Risiken durch soziale Sicherungssysteme (Soziale Sicherheit) abgefangen und die Dynamik der Wirtschaft muss durch staatliche Politik gelenkt werden. Die Errichtung einer solchen „Sozialen Marktwirtschaft“ kann nicht Sache einzelner oder der Zivilgesellschaft sein, sondern braucht einen starken und von partikularen Interessen möglichst unabhängigen Staat. Damit dies nicht zu staatlichem Paternalismus führt, müssen Freiheitsrechte der Individuen geschützt und die Bürger mit einklagbaren sozialen Rechten ausgestattet sein. Zur Realisierung von Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit), ohne die die bestehende Leistungsgesellschaft (Leistung) trotz sozialer Sicherung nicht gerechtfertigt werden könnte, bedarf es zusätzlich eines Bildungssystems (Bildung), das die Ungleichheiten der sozialen Herkunft möglichst ausgleicht, anstatt sie noch weiter zu verschärfen.

4. Weltarmut

Je mehr die Welt durch bessere und schnellere Verkehrs- und Kommunikationsmittel, durch freien Handel und Kapitalverkehr sowie durch zunehmende Migration zusammenwächst, umso mehr entsteht ein globaler Kooperationszusammenhang, der es nicht mehr erlaubt, Solidarität und soziale Gerechtigkeit allein den einzelnen Nationalstaaten als Aufgabe zuzuweisen. Vielmehr braucht eine globale Marktwirtschaft eine weltweite Rahmenordnungspolitik und solidarische Mechanismen zum Ausgleich der Risiken, die mit dem freien Welthandel und mehr und mehr auch mit globalen Umweltschäden, verursacht nicht zuletzt durch den zunehmenden Klimawandel, einhergehen. Die reichen Länder haben eine bedeutende historische Schuld gegenüber den armen Ländern und immer noch tragen die herrschenden Mechanismen des Welthandels und geopolitische Interessen (Geopolitik) der mächtigen Staaten dazu bei, dass A. und Elend fortbestehen. Weltweit ist die extreme A. von etwa einer Mrd. Menschen eine unerträgliche, nicht mehr länger hinzunehmende Ungerechtigkeit, die endlich durch eine gemeinsame Anstrengung aller Staaten und der global vernetzten Zivilgesellschaften (Zivilgesellschaft) und nicht zuletzt auch der großen Wirtschaftskonzerne angegangen werden muss (Globalisierung). Notwendig dazu sind Maßnahmen der Entwicklungshilfe, mehr aber noch ein gerechter Welthandel, der Ausbeutungsverhältnisse überwindet, faire Bedingungen für eine Migration, die gleichermaßen den Ziel- als auch den Herkunftsländern zugutekommt und durch Rücküberweisungen von Migranten in ihre Heimat und den Transfer von Know-how erheblich zur A.s-Bekämpfung beiträgt, sowie gemeinsame Anstrengungen für mehr Investitionen in eine Begrenzung des Klimawandels und gute Bildung und Gesundheit für alle Menschen, in einzelnen Fällen sogar humanitäre Interventionen (humanitäre Intervention), um lokale bewaffnete Konflikte (Religionskonflikte, Ethnische Konflikte), Terrorismus und Bürgerkriege (Bürgerkrieg) zu befrieden und so erst die Voraussetzungen für eine positive gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen.

5. Individuelle Hilfspflichten

Auch wenn allen Menschen eindeutig bestimmte positive Rechte (auf Nahrung, Wohnung, Bildung, Sicherheit usw.) zugewiesen werden müssen, so ist dennoch nicht eindeutig bestimmt, wer die korrespondierenden positiven Pflichten hat. A.s-Probleme des Ausmaßes, wie sie derzeit herrschen, können nur von Staaten (Staat), ja sogar nur von möglichst vielen Staaten gemeinsam, unterstützt durch größere zivilgesellschaftliche Organisationen (Zivilgesellschaft) und Wirtschaftsunternehmen gelöst werden. Jeder Mensch ist hier als Einzelner überfordert. Daraus folgt aber nicht, dass der Einzelne gar nichts tun müsste. Zunächst ergibt sich aus einer solchen Konstellation für den Einzelnen die Pflicht, durch politisches Handeln diejenigen Prozesse zu unterstützen, die zur Problemlösung beitragen können. Das impliziert, in demokratischen politischen Systemen (Politisches System) sich gut zu informieren, verantwortungsbewusste Wahlentscheidungen zu treffen und sich möglichst darüber hinaus in Parteien und Organisationen auch politisch zu engagieren. Auch für den Umgang mit dem eigenen Einkommen ergeben sich Pflichten, auch wenn diese nicht immer eindeutig zu bestimmen sind. Am plausibelsten ist es, sich so zu verhalten, wie man sich verhalten müsste, wenn die Regeln, die für eine künftige wohlgeordnete Weltgesellschaft notwendig sind, bereits jetzt gelten würden. Das betrifft auch das eigene Konsumverhalten. Soweit möglich sollten Konsumenten fair gehandelte und umweltfreundliche Produkte kaufen. „Denn die Möglichkeit, Einfluss auf das wirtschaftliche System auszuüben, liegt in den Händen derer, die über die Verwendung ihrer eigenen finanziellen Mittel entscheiden müssen“ (Päpstlicher Rat Justitia et Pax 2006: Nr. 358). Darüber hinaus ist auch die Bereitschaft, durch Spenden (Spende) zur Finanzierung weltweiter A.s-Bekämpfung und Entwicklungshilfe beizutragen, ein notweniges Element der A.s-Bekämpfung. Wenn alle Menschen in den reichen Ländern 2 % ihres Bruttoeinkommens für solche Zwecke zur Verfügung stellen würden, gäbe es genügend Mittel, um zumindest extreme A. weltweit zu beseitigen. Deshalb könnte ein solcher Wert ein Richtwert für die von jedem Einzelnen zu fordernde Hilfsbereitschaft sein.