Capability Approach

  1. I. Philosophisch
  2. II. Wirtschaftswissenschaftlich
  3. III. Sozialethisch
  4. IV. Pädagogisch

I. Philosophisch

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In seinem Kern ist der C.A. – im Deutschen Fähigkeiten- oder Befähigungsansatz – als eine vielschichtige Konzeption menschlichen Wohlergehens zu verstehen. Unter Bezug auf Autoren wie Aristoteles, Adam Smith, Karl Marx, John Stuart Mill und Rajeev Thakur wurde er seit den 1970er Jahren wesentlich durch Amartya Kumar Sen und Martha Nussbaum im Kontext entwicklungsokönomischer und -politischer Fragestellungen ausgearbeitet. Entspr. hat der Fähigkeitenansatz breiten Einfluss im Bereich von Theorien der Entwicklung, des Wohlergehens und der Gerechtigkeit gefunden. Zudem hat er eine hohe praktische Relevanz, da er beansprucht, einen anwendungsfähigen und angemessenen Maßstab für interpersonale Vergleiche im Wohlergehen von Menschen darzustellen. So hat er bspw. stark den HDI der UNO beeinflusst.

Menschliches Wohlergehen setzt sich diesem Ansatz zufolge aus zwei Bereichen zusammen: den effektiven Fähigkeiten (capabilities) sowie realisierten Zuständen und Tätigkeiten, die A. K. Sen mit dem Terminus technicus „Funktionsweisen“ (functionings) bezeichnet. Beispiele für letztere wären etwa wohlgenährt oder Staatsbürger zu sein, Arbeiten, Lieben, Freundschaften pflegen etc. Erstere hingegen wären den Individuen tatsächlich gegebene Handlungschancen, Funktionsweisen selbst zu verwirklichen. Obwohl beide Bereiche für das menschliche Wohlergehen erforderlich sind, stellt der Ansatz die Entwicklung effektiver Fähigkeiten ins Zentrum. Dies erstens, um die Rolle der Akteurs- und Autorenschaft zu betonen, d. h. den (Entscheidungs-)Anteil, den Individuen selbst bei der Realisierung von Funktionsweisen haben. Diesem komme intrinsischer Wert zu. Zweitens, um deutlich zu machen, dass Wohlergehen pluralistisch verfasst sei: In seiner genauen Gestalt differiere dieses von Individuum zu Individuum und verändere sich auch im Leben eines Individuums. Die Entwicklung von Fähigkeiten ermöglicht es den Individuen unterschiedliche Konzeptionen des Wohlergehens zu verfolgen und gibt ihnen die Möglichkeit experimentell herauszufinden, worin jeweils ihr spezifisches Wohlergehen besteht. Drittens schließlich, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Gebrauchswert zur Verfügung stehender Ressourcen und Güter je nach Kontext und persönlichen Eigenschaften der Individuen differiert.

Der Fähigkeitenansatz ist ursprünglich in kritischer Auseinandersetzung mit alternativen Möglichkeiten, den Stand von Lebensqualität und menschlichem Wohlergehen in einem Land zu bestimmen, entwickelt worden. Weder BIP noch Gesamt- oder Durchschnittsnutzen oder Grundgüter seien ein hierfür angemessener Bemessungsstandard. So würden diese etwa nichts über die Verteilung von Reichtum besagen, über die Lebenssituation der Armen (Armut) oder von Gruppen, die durch ein Kastensystem oder Rassismus benachteiligt sind. Zudem würden die gängigen Bemessungsstandards verschiedene Aspekte wie z. B. Gesundheit, Bildung, Lebenserwartung oder politische Rechte in einer nicht hinreichend informativen Weise auf einen Nenner reduzieren. Ebenso würden beim BIP und den utilitaristischen Ansätzen (Utilitarismus) weder Freiheit und Akteursschaft noch die moralische Eigenständigkeit der Person adäquat berücksichtigt. Ebenfalls falsch sei der Weg, das Wohlergehen einer Gesellschaft an einer gleichmäßigen Verteilung von Grundgütern zu bemessen, wie es etwa John Rawls vorschlägt, da der Gebrauchswert dieser Güter für unterschiedliche Menschen unterschiedlich sei. Unterschiedliche Menschen benötigten unterschiedliche Gütermengen, um den gleichen Effekt zu erzielen (schwangere Frauen etwa benötigen mehr Kalorien, als Frauen, die nicht schwanger sind; große Menschen mehr als kleine; alte weniger als junge etc.), zudem hätten sie auch jeweils unterschiedliche Fähigkeiten, um den Nutzwert der Güter zu verwirklichen. Eines der praktischen, d. h. handlungsorientierenden Ziele des Fähigkeitenansatzes besteht folglich darin, eine möglichst angemessene Konzeption des menschlichen Wohlergehens zu entwickeln, die in der Lage ist, die Verschiedenheit von Menschen und ihren Bedürfnissen (Bedürfnis) zu reflektieren.

Innerhalb des Ansatzes ist strittig, ob man sinnvollerweise davon ausgehen kann, es würde ein Set von Schlüsselfähigkeiten geben, das grundlegend für die unterschiedlichsten Weisen der menschlichen Entwicklung ist – und wenn, wie dieses zu bestimmen sein würde. Während A. K. Sen bzgl. der Möglichkeit einer allgemeinen Festlegung eines Grundsets von Fähigkeiten (und Funktionsweisen) insgesamt skeptisch ist, schlägt M. Nussbaum eine Liste von zehn zentralen Fähigkeiten vor, die u. a. Leben, körperliche Unversehrtheit, Spiel- und Bindungsfähigkeit, praktische Vernunft und die Fähigkeit, Kontrolle über die eigene Umwelt zu haben, umfasst. M. Nussbaum vertritt damit eine objektive Theorie des Wohlergehens, der zufolge das Set zentraler Fähigkeiten notwendig ist, um ein würdevolles Leben zu führen. Wenn auch durchaus unterschiedlich akzentuiert, wird im Fähigkeitenansatz, wenn es um die Gewichtung und Ausdeutung der zentralen Fähigkeiten geht, dem öffentlichen Vernunftgebrauch in Form deliberativ verfasster demokratischer Verfahren ein großer Stellenwert eingeräumt. A. K. Sen weist jedoch darauf hin, dass politische Legitimität nur einer von etlichen Bestandteilen von Wohlergehen sei, wenn auch ein (empirisch und normativ) überaus wichtiger. Durch die doppelte Bestimmung des Wohlergehens qua Fähigkeiten und Funktionsweisen ergebe sich jedoch konzeptionell, dass der Wert realisierter Zustände nicht immer von der Art und Weise, auf die sie hervorgebracht werden, abhängt. Somit stellt der Fähigkeitenansatz einen Maßstab dar, an dem selbst grundsätzlich legitime politische Prozesse nochmals kritisch evaluiert werden können. M. Nussbaum wiederum betont aber, dies dürfe nicht zu der Annahme führen, die auf der Liste aufgeführten Fähigkeiten seien gegeneinander abzuwägen, sollten sie nicht umfänglich realisiert werden können. Diese seien vielmehr inkommensurabel – und jedes Abwägen damit willkürlich. Den grundlegenden Fähigkeiten käme damit ein den Menschenrechten ähnlicher Status zu. Andere Autoren hingegen betonen, unter Knappheitsbedingungen könnten nicht alle Fähigkeiten gleichermaßen realisiert werden und von daher sei die Frage des Abwägens unumgänglich. Innerhalb des Fähigkeitenansatzes bleibt dieses Thema weiterhin stark umstritten und es hat sich noch keine Abwägungsmethode durchsetzen können.

Durch seine Orientierung am individuellen Wohlergehen beansprucht der Fähigkeitenansatz zudem besser als die alternativen Herangehensweisen die moralischen Ansprüche u. a. von Tieren sowie Menschen mit Behinderung (Behinderung) auf der konzeptuellen Ebene integrieren zu können. In jüngerer Zeit wird zudem versucht, den Ansatz zur Grundlage einer umfänglichen Gerechtigkeitstheorie zu nehmen. Im Unterschied zu und in Kritik an Theorien, die ein Ideal einer gerechten gesellschaftlichen Grundstruktur entwerfen, schlägt A. K. Sen eine komparative Herangehensweise vor, die in ihren Grundzügen konsequentialistisch ist. Diese zielt darauf ab, in gegebenen Verhältnissen die jeweils bessere Alternative zu identifizieren und das politische Handeln auf die Realisierung dieser Alternative zu orientieren. Hierzu, so A. K. Sen, sei ein Ideal einer gerechten Gesellschaft weder erforderlich noch könne es eine solche Funktion erfüllen. Dies zeigt, dass der Fähigkeitenansatz zunehmend in breitere Problembereiche der Moralphilosophie und politischen Philosophie Eingang findet. Sein Kernanliegen jedoch besteht weiterhin in der Ausarbeitung einer angemessen, praktisch relevanten Konzeption menschlichen Wohlergehens.

II. Wirtschaftswissenschaftlich

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1. Zum Begriff in den Wirtschaftswissenschaften

Der C.A. bezeichnet in den Wirtschaftswissenschaften ein alternatives Konzept zur Messung und Darstellung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Kerngedanke des C.A. ist es, den Wohlstand einer Gesellschaft nicht mehr, wie in der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik, eindimensional am Einkommen zu messen, sondern darüber hinaus die Verwirklichungschancen der betroffenen Menschen zu berücksichtigen. Dabei zielt der C.A. explizit auf die Dimensionen bzw. Umstände ab, die Menschen in die Lage versetzen, ein „gutes Leben“ zu führen. Dafür – so die zentrale Aussage des C.A. – ist nicht nur eine ausreichende materielle Ressourcenausstattung notwendig, sondern es bedarf gleichermaßen der Befähigung, das eigene Leben gemäß der individuellen Präferenzen zu gestalten.

Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, insb. in der Armutsforschung und Entwicklungsökonomik, stellt der C.A. einen substanziellen Perspektivwechsel dar. Indem der analytische Fokus auf die Verbesserung von Verwirklichungschancen gelegt wird, statt ausschließlich die Größen und Kennziffern gesellschaftlicher Entwicklung zu beschreiben, ist der Ansatz geeignet, um soziale Ungleichheit und Armut unter Berücksichtigung verschiedener ökonomischer und nicht-ökonomischer Einflussfaktoren zu beschreiben. Gleichermaßen trägt diese Fokussierung dazu bei, die Zielsetzung gesellschaftlicher Entwicklung normativ zu hinterfragen.

2. Verwirklichungschancen und Befähigung

Verwirklichungschancen werden von Amartya Kumar Sen als die umfassende Fähigkeit von Menschen definiert, „genau das Leben führen zu können, das sie schätzen, und zwar mit guten Gründen“ (Sen 2007: 29). Verwirklichungschancen stellen somit die Freiheit dar, dass Menschen unterschiedliche Lebensentwürfe realisieren können. Am Beispiel von Hungersnöten zeigt A. K. Sen auf, dass die Knappheit an verfügbaren Nahrungsmitteln nicht nur aus einem Mangel an ökonomischen Ressourcen resultiert, sondern gleichermaßen das Ergebnis eines signifikanten Fehlens politischer Teilhabe (Partizipation) ist. Aus der Diagnose, dass Unterentwicklung und Elend die Folge von Ungleichverteilung ökonomischer und politischer Rechte sind, leitet A. K. Sen ein normatives Freiheitsideal ab, das an der individuellen Befähigung zur Selbstverwirklichung im Sinne einer „positiven Freiheit“ ansetzt. Entwicklung – so A. K. Sens These – lässt sich als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten verstehen: „Der Erfolg einer Gesellschaft ist nach dieser Auffassung primär danach zu bewerten, wie groß die von ihren Mitgliedern genossenen substantiellen Freiheiten sind“ (Sen 2007: 30; Sen 2010: 233 f.). Zu einem solchen „Bündel an realisierbaren Lebensentwürfen“ (Volkert 2009: 393) zählt A. K. Sen die Möglichkeiten frei von vermeidbaren Krankheiten und Hunger zu sein, ausreichende Kompetenzen für gesellschaftlich relevante Lebensbereiche zu erwerben, eigene Ziele im Erwerbsleben verfolgen zu können, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und eine Religion praktizieren zu dürfen sowie politische Freiheiten und grundlegende Bürgerrechte zu haben.

Entscheidend für eine Transformation individueller Ressourcen in Verwirklichungschancen sind laut A. K. Sen die persönlichen und instrumentellen Umwandlungsfaktoren. Persönliche Umwandlungsfaktoren sind individuell-sozialstrukturelle Merkmale wie Bildung, Gesundheit, Geschlecht und Alter und beeinflussen die Verwirklichungschancen unmittelbar. Instrumentelle Umwandlungsfaktoren hingegen beziehen sich auf positive oder negative Beiträge des Staates zur Beeinflussung der Verwirklichungschancen der betroffenen Bürger. Hierbei wird den instrumentellen Umwandlungsfaktoren ein doppeltes Gewicht eingeräumt, indem der Staat mittels instrumenteller Freiheiten sowohl direkte Verwirklichungschancen schafft (z. B. Antidiskriminierungsgesetze, Konsumentenschutz etc.) als auch die persönlichen Umwandlungsfaktoren beeinflussen kann (z. B. Schulpflicht, Gesundheitswesen etc.).

3. Capability Approach als normative Ökonomik

Der C.A. stellt gleichermaßen eine Kritik an der neoklassischen Entwicklungsökonomik und gängigen Wohlfahrtsökonomik wie auch einen Beitrag zur normativen Ökonomik dar. Die Kritik richtet sich nicht zuletzt gegen deren utilitaristische Grundlagen (Utilitarismus) und macht sichtbar, dass Nutzen als alleiniger Maßstab für Wohlergehen nicht ausreicht, da wichtige Informationen über das soziale Gefälle sowie die zugrunde liegenden Rationalitäts- und Präferenzbegriffe vernachlässigt werden. So liegt mit dem C.A. ein Konzept vor, das durch die Analyse individueller Freiheiten einen Beitrag zur Minderung sozialer Ungleichheit durch die Vergrößerung individueller Freiheiten leistet und nicht wie in der herkömmlichen Wohlfahrtstheorie Lebensqualität auf den engen Begriff von Nutzen als Glück oder Lebensqualität reduziert. Indem die Verwirklichungschancen als Basis des ethischen Handelns definiert werden, bricht der C.A. mit dem in der neoklassischen Tradition der Wohlfahrtsökonomik üblichen Nutzenmaximierungsschema des Bruttoeinkommens: „Ein besonderer Vorzug des Konzepts gegenüber bisherigen Methoden ist das stimmige Zusammenspiel ethischer Gerechtigkeitspositionen mit wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen sowie empirischen Konkretisierungen.“ (Arndt/Volker2006: 7).

Basierend auf der Annahme, dass es den zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen (Gerechtigkeit) entspricht, in die Gesellschaft inkludiert zu sein, stellt der C.A. unmittelbar eine Möglichkeit zur Verwirklichung von gerechten Strukturen in kapitalistischen Gesellschaften (Kapitalismus) dar. Indem Freiheit nicht nur als oberstes Ziel, sondern zugleich als wichtigstes Mittel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung angesehen wird, entspricht der C.A. unmittelbar der Forderung der Freiburger Schule, Wettbewerb und Effizienz nicht als Endpunkt, sondern als zweckdienliches Mittel zur gesellschaftlichen Gestaltung anzusehen.

Gesellschaftliche Entwicklung kann aus einer solchen Perspektive – im Gegensatz zur traditionellen Wohlfahrtsökonomik – nicht einfach mit einem Anstieg ökonomischer Ressourcen wie das Pro-Kopf-Einkommen gleichgesetzt werden, sondern ist vielmehr als ein zweckdienliches Mittel zur Verwirklichung eines guten Lebens zu verstehen. Die vorherigen Messkonzepte ökonomischer Entwicklung scheitern – so A. K. Sens zentraler Kritikpunkt –, weil im BIP weder die ungleiche Einkommensverteilung noch der unterschiedliche Mittelbedarf zur Führung eines guten Lebens berücksichtigt werden. So ist es eine unübersehbare Tatsache, dass viele Gesellschaftsmitglieder – wie z. B. Kinder, Alte, Kranke und zunehmend auch Unqualifizierte – hierzu nicht bzw. nur noch eingeschränkt befähigt sind.

Für die wirtschaftswissenschaftliche Theorieentwicklung ist hervorzuheben, dass das Befähigungskonzept von A. K. Sen enge Anknüpfungspunkte an die moderne Ordnungsökonomik und sozialpolitische Inklusionskonzepte (Inklusion) aufweist. Gemeinsam ist beiden Theorieströmungen, dass sie die Notwendigkeit einer freien Gesellschaftsordnung betonen und zugleich die Bedeutung der Regelebene gegenüber der Handlungsebene hervorheben.

Erweitert hat A. K. Sen die Perspektive um den Hinweis, dass die als einander antagonistisch gegenüberstehend wahrgenommenen Pole der Ermöglichung und Ausschließung von Handlungsoptionen nicht voneinander getrennt behandelt werden können, sondern dass „negative Freiheitsrechte“ in der Tradition des klassischen Liberalismus (d. h. Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe) systematisch um „positive Freiheitsrechte“ (d. h. materielle und soziale Rechte, die es jedem Bürger ermöglichen, von Freiheitsrechten Gebrauch zu machen) ergänzt werden müssen.

Mittels einer solchen Perspektive gelingt A. K. Sen eine entscheidende Erweiterung wirtschaftsethischen Denkens, da der Konflikt zwischen marktwirtschaftlichen Funktionsprinzipien und sozialpolitischer Flankierung nicht mehr ausschließlich zu Gunsten der Marktkonformität gelöst wird, sondern beide Bereiche tatsächlich gleichwertig Berücksichtigung finden. Denn während eine von der Ordnungsökonomik geforderte privilegienfreie Ordnung lediglich das Ziel hat, jegliche „leistungslose“ Vorteile zu verhindern, muss die Wirtschaftsethik heute dafür sorgen, dass alle Gesellschaftsmitglieder soweit möglich zur Teilnahme am (produktiven) Wettbewerb befähigt werden.

4. Praktischer Einfluss

Neben seinen innovativen Impulsen zur normativen Ökonomik leistet der C.A. insb. einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer wirklichkeitsnahen Wirtschaftswissenschaft durch die Formulierung und Beeinflussung alternativer Messkonzepte zur Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung von Nationalstaaten. Es ist der entscheidende Vorteil des C.A., dass er offen formuliert ist und beliebig um Analysekategorien und Ungleichheitskomponenten ergänzt werden kann. Ein prominentes Beispiel hierfür sind die Überlegungen von Martha Nussbaum, die in ihrer Auflistung universell gültiger Grundwerte zur Befähigung eines gehaltvollen Lebens deutlich über A. K. Sens fünf instrumentelle Freiheiten hinausgeht. Ein weiteres Beispiel ist der Ansatz eines multidimensionalen Armutsindex um die Gruppe von Entwicklungsökonomin Sabina Alkire.

Entsprechend breit wird der C.A. inzwischen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften rezipiert und angewandt. Insb. in Teilen der Wohlfahrtsökonomik, der Wirtschaftsethik, der Ordnungsökonomik, der Bildungsökonomik und der Entwicklungspolitik findet der Ansatz breite Verwendung. Seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz entfaltet der C.A. in der von A. K. Sen formulierten Variante auch weiterhin primär als theoretische Grundlage für den HDI und den HPI, auf dessen Basis alle zwei Jahre Rangfolgen von Ländern und Regionen mit unterschiedlichen Niveaus „menschlicher Entwicklung“ erstellt werden. Beide Wohlfahrtsindikatoren berücksichtigen neben dem Pro-Kopf-Einkommen auch die Lebenserwartung und das Bildungsniveau der Bevölkerung. Darüber hinaus findet der C.A. inzwischen aber auch Verwendung in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung in Deutschland und Österreich sowie in einer Vielzahl empirischer Kindheits- und Bildungsstudien. Schließlich weist der C.A. enge Anknüpfungspunkte zu Ansätzen der Lebenszufriedenheits- und Glücksforschung auf, die das subjektive Wohlbefinden der Bürger als Maßstab zur Bewertung gesellschaftlicher Entwicklung heranziehen.

III. Sozialethisch

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In der sozialethischen Diskussion findet das Motiv der Befähigungsgerechtigkeit etwa seit dem Jahr 2000 breitere Beachtung, wobei unterschiedliche Rezeptionstypen und Anwendungsbereiche zu unterscheiden sind.

1. Rezeptionstypen

Katja Winkler unterscheidet zwischen Humanitäts-, Eigenverantwortungs-, Wesensnatur- und Flourishing-Rezeption. Die Humanitäts-Rezeption schließt eng an Martha Nussbaum an und beschreibt anhand der Grundfähigkeiten eine Schwelle menschenwürdigen Lebens, deren Realisierung für grundsätzlich alle Menschen eine politische bzw. sozialstaatliche Aufgabe sei. Die Rekonstruktion der Grundfähigkeiten wird teilweise mit der Tradition der katholischen Soziallehre parallelisiert, insofern es in beiden Konzeptionen darum gehe, „Bedingungen des menschenwürdigen Menschseins“ (Anzenbacher 2002: 21) aufzuweisen. Nur auf dem Weg eines anthropologischen Rekurses – wie er von M. Nussbaum im C.A. vorgeschlagen wird – sei es möglich, nicht nur formale Freiheitsrechte zu begründen, sondern auch die „materialen Bedingungen der Verwirklichung von Freiheits- und Bürgerrechten“ (Anzenbacher 2002: 21) zu bestimmen und sozialpolitisch zur Geltung zu bringen. Im Unterschied dazu orientiert sich die Eigenverantwortungs-Rezeption an der „Befähigung zur Teilnahmemöglichkeit an gesellschaftlicher Kommunikation“ (Dabrock 2010: 49). Dabei wird zum einen Bildung als Mittel der Befähigung betont, zum anderen die Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt (Arbeitsmarkt) als maßgebliche Befähigungsstrategie hervorgehoben. Nicht selten wendet sich dieser Rezeptionstyp – in Spannung zu M. Nussbaum – kritisch gegen einen stark ausgebauten Sozialstaat, der zu paternalistischer Bevormundung neige. Diese Sichtweise verbindet das Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) mit dem C.A. bzw. der Befähigungsgerechtigkeit – mit Akzent auf dem Kompetenzanmaßungsverbot. „Der Sache nach zielt das traditionelle Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre auf das ab, was in der neueren Moraltheorie ‚Befähigungsgerechtigkeit‘ genannt wird“, wobei es darum gehe, dass die einzelne Person „zur größtmöglichen Eigenverantwortlichkeit befähigt“ wird (Schramm 2008: 189). In Bezug auf die Nussbaum-Variante des C.A. gibt es in der Sozialethik zudem Tendenzen einer noch stärkeren Auseinandersetzung mit dem Begriff der menschlichen Natur. Dabei wird eine Verbindung von christlicher bzw. katholischer Naturrechtstradition (Naturrecht) und C.A. – im Sinne einer „Wesensnatur-Rezeption“ – hergestellt oder – ähnlich wie in der Humanitäts-Rezeption – kritisch reflektiert. Den teleologischen Gesichtspunkt des C.A. betont schließlich die Flourishing-Rezeption; demnach sollen alle in einem Gemeinwesen lebenden Menschen dazu befähigt werden, ein gelingendes Leben zu führen. Dem Problem der Bestimmung eines solchen gelingenden Lebens begegnet dieser Rezeptionstyp mit dem Verweis auf Bildung, die Menschen dazu befähigt, für sich selbst Vorstellungen gelingenden Lebens zu entwickeln; durch Bildung werden auch Spielräume erschlossen, in denen diese Vorstellungen realisiert werden können.

2. Anwendungsfelder

Über die Anwendungsfelder politische Gestaltung der Sozialstaatlichkeit (Sozialstaat) sowie Bildung hinaus wird der C.A. in der sozialethischen Reflexion sozialer Dienstleistungen intensiv diskutiert (in Bezug auf Wohlfahrtspflege, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit bzw. Soziale Dienste). Problematisiert wird insb. der Bezug des C.A. zum Phänomen Beeinträchtigung/Behinderung. Vielfältige Bezüge werden zum sozialpolitischen Feld der Gesundheitsversorgung hergestellt. Insgesamt liegt ein deutlicher Schwerpunkt der sozialethischen Anwendung des C.A. auf der Nussbaum-Variante, während Bezüge zu Amartya Kumar Sen (oder anderen Autoren) weniger ausgeprägt sind. Ein Anwendungsfeld, in dem stärker auf A. K. Sen rekurriert wird, ist die Entwicklungspolitik. Im Hinblick auf die Themenfelder Armut/Armutsbekämpfung, Gestaltung des Wirtschaftssystems (Wirtschaftssysteme)/Wirtschaftsethik und nicht zuletzt im Hinblick auf den (politischen) Umgang mit der nicht-menschlichen Natur bietet der C.A. noch weitere Anknüpfungsmöglichkeiten für die Weiterentwicklung der Sozialethik.

IV. Pädagogisch

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Mit dem C.A. wird ein Personenkonzept sowie ein Verfahrensfokus nahegelegt, der zwar keine eigenständige Bildungstheorie sui generis liefert, aber für die Begründung und Analyse von Gerechtigkeitsurteilen in Bildungs- und Erziehungspraktiken eine gehaltvolle evaluative Metrik bereitstellt.

Der Aspekt von Gerechtigkeitsurteilen ist alleine deshalb von konstitutiver Bedeutung, weil Erziehung, verstanden als intentionale und gezielte Beeinflussung von Bildungsprozessen, eine unhintergehbar normativ betriebene und normativ zu betreibende Praxis ist. Sofern akzeptiert wird, dass Erziehung über Sozialisations- und Enkulturationsprozesse im Sinne einer bloßen Tradierung gesellschaftlich je gegebener Wert-, Norm- und Lebensführungsvorstellungen hinausgeht und dabei zumindest nicht ausschließlich im instrumentellen Interesse Dritter (etwa „der Gesellschaft“ oder „der Wirtschaft“) vollzogen wird, lässt sich argumentieren, dass eine Begründbarkeit von Erziehungs- und Bildungsprozessen voraussetzt, dass die Interessen der Erziehungsbetroffenen berücksichtigt werden. Mit dem C.A. wird unterstellt, dass die Aussicht auf ein „gutes Leben“ die zentrale politisch-moralische Forderung in diesem Interesse darstellt. Der Beitrag des C.A. besteht nun darin, dass er in der Lage ist, zentrale Grundlinien eines gehaltvollen Begriffs eines guten Lebens oder zumindest einer gelingenden praktischen Lebensführung zu begründen.

1. Das Personenkonzept des Capability Approach

Interessant für erziehungs- und bildungstheoretische Debatten ist zunächst das Personenkonzept des C.A. Versuche, die conditio humana zu beschreiben, stehen mit guten Gründen unter Ideologieverdacht. Die Gefahr in eine präskriptive Anthropologie oder in eine biologistisch oder metaphysisch gefasste Einschränkung der Pluralität menschlicher Daseins- und Lebensformen abzugleiten, ist allfällig. Gleichwohl kann keine ernstzunehmende Bildungstheorie der Notwenigkeit entkommen, den Möglichkeitsraum kreativer menschlicher Entwicklung zu markieren, ohne dabei zu unterstellen, dass der Mensch ein „unendlich formbares Wesen [sei, das] sich an jeden Zustand gewöhnen können müsste“ (Henning 2009: 15 f.). Die erste Prämisse verweist auf die Möglichkeit von Bildung, die zweite auf ihren Sinn.

Mit dem C.A. in der Tradition von Martha Nussbaum wird nun – in augenscheinlicher Analogie zu Karl Marx – die zieloffene Natur eines prinzipiell vulnerablen und care-bedürftigen zôon politikon beschrieben, die das Fundament dafür liefert, die Abschneidung von Menschen von ihren Entwicklungsmöglichkeiten zu thematisieren und zu kritisieren. Das Personenkonzept des C.A. enthält zugleich eine (konstruktive) Kritik liberaler, kontraktualistischer Gerechtigkeitstheorien. Zwar gehört der C.A. selbst zur Großfamilie egalitär-liberaler Ansätze, aber er bricht – um in der Metapher zu bleiben – mit der politisch-kontraktualistischen Familientradition. Diese tendiert nämlich dazu, die Subjekte von Gerechtigkeit als abstrakte, bindungslose, austauschbare Individuen in den Blick zu nehmen, die als rationale voll funktionsfähige Personen und dabei in letzter Instanz nach dem Modell „weiße[r], männliche[r] Erwachsene[r modelliert werden], die Besitz oder zumindest einen Beruf haben“ (Benhabib 1989: 460). Entscheidend ist folgender Einwand: Was auch immer das rationale voll funktionsfähige Normalsubjekt sein soll, es ist in einem hohen Maße sozial bedingt, es erklärt sich nicht solipsistisch aus sich selbst heraus und v. a. bleibt es ein Ausnahmefall: Menschen verfügen über unterschiedliche interne Fähigkeiten. Menschen mit Behinderungen, Kranke, Kinder oder Alte brauchen möglicherweise mehr an bestimmten Gütern und ggf. auch andere Güter, um als Gleiche auftreten zu können. Bei Krankheit, Behinderung, Alter und weiteren Inferenzen in die „Normalfunktion“ abstrakter Akteure handelt es sich um Zustände, die zumindest potenziell jeden Realakteur betreffen können. Die Konsequenzen aus diesem Einwand sind insb. für bildungstheoretische Perspektiven auf Gerechtigkeitsfragen erheblich. Wie anderen gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen geht es um die Verteilung von Lebensaussichten, die jedoch aus der Perspektive des C.A. als die Frage nach einem guten Leben in den Blick genommen werden. Dabei verknüpft die C.A.-Perspektive Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnisse (Bedürfnis) von Subjekten mit objektiven (sozialen und politischen) Gegebenheiten und Möglichkeitsräumen gegenüber den institutionellen und materiellen Bedingungen. Diese werden daraufhin befragt, ob sie Menschen dazu befähigen, ein Leben zu konzeptualisieren und zu führen, das sie mit guten Gründen wertschätzen können. Solche Befähigungen oder „Realfreiheiten“ lassen sich nicht auf individuelle Dispositionen oder Kompetenzen reduzieren, sondern verweisen auf das komplexe Zusammenspiel von Infrastrukturen, Ressourcen und Berechtigungen. Die Stärke des C.A. besteht darin, materielle Bedingungen, Lebenssituationen und Klassenverhältnisse systematisch ernst zu nehmen, ohne sie gegen „kulturelle Dimensionen“ auszuspielen, aber auch ohne einem einseitigen „Güterfetischismus“ das Wort zu reden.

2. Der substanzielle Fokus des Capability Approach

Die Frage nach dem guten Leben macht den C.A. zwar an bildungstheoretische Traditionen anschlussfähig, ist aber zugleich ein hoch umstrittener Fokus. Im Anschluss an John Rawls hat Jürgen Habermas das gute Leben als eine „abscheuliche Phrase“ beschrieben. Tatsächlich dürfte das Problem der „Gesellschaftsentrücktheit“ von Konzeptionen eines guten Lebens ebenso wenig von der Hand zu weisen sein, wie der Verdacht eines metaphysisch-teleologischen Essenzialismus von Versuchen, ein gutes, geglücktes oder glückliches Leben inhaltlich substanziell und allgemeingültig zu bestimmen und verbindlich zu entscheiden, „was die Menschen als ihr Glück anzusehen hätten“ (Seel 1998: 113). Die derzeit prominente Glücks- und subjektive Wohlbefindensforschung entschärft dieses Problem nur bei oberflächlicher Betrachtung. Die in politisch-theoretischer Hinsicht aus dem Utilitarismus abgeleitete Grundüberlegung dieser Tradition besagt, dass Bestimmungen von Wohlergehen keinen allgemeingültigen Charakter haben können, sondern vielmehr Menschen in ihrer Individualität kennzeichnen. Daher könnten nur die je Einzelnen selbst beurteilen, welche Zustände und Lebensweisen sie als wünschens- und erstrebenswert erachten. „Die einzig rechtfertigbare Definition von Lebensqualität“, so die Überlegung, sei „ein allgemeines Gefühl von Glück“ (Milbrath 1978: 36). Die subjektivistischen Bestimmungen des guten Lebens mögen auf den ersten Blick durchaus sympathisch sein. Dennoch weisen ihre sozial- und bildungspolitischen Implikationen letztlich in eine neo-konservative Richtung. Eines der zentralen Probleme subjektiver Bestimmung von Wohlergehen wird mit dem Begriff der adaptiven Präferenzen beschrieben. Damit sind Prozesse der Anpassungen von subjektiven Ambitionen, Beurteilungsmaßstäben, Grundhaltungen, Empfindungen, Überzeugungen und ästhetischen Vorlieben an die eigenen objektiven Lebenssituationen und -möglichkeiten gemeint. Subjektive Bewertungsstandards sind selbst bereits durch soziale Privilegierungen und Benachteiligungen strukturiert. Daher gibt die Messung subjektiver Zufriedenheit empirisch v. a. darüber Auskunft, wie gut sich Menschen an ihre Bedingungen angepasst haben. Angesichts der Formbarkeit subjektiver Wertmaßstäbe besteht das Problem einer evaluativen Metrik auf deren Basis darin, dass Strategien der Minderung von Ansprüchen und ideologische Verschleierungen (Ideologie) von Ungerechtigkeit und Unterdrückungsverhältnissen deren Aufhebung ethisch-politisch letztlich ebenbürtig erscheinen. Die eudaimonistische Perspektive des C.A., die das gute Leben weniger als individuellen Zustand innerer Zufriedenheit, sondern als Teil einer praktischen Lebensführung in den Blick nimmt, ist dieser Gefahr weniger ausgesetzt. Der zentrale Gedanke des C.A. besteht darin, dass die Verfügung über Ressourcen und Güter zwar eine unhintergehbare Grundbedingung, aber eben nicht alleine dafür entscheidend ist, welche Lebensaussichten und Entfaltungspotenziale unterschiedliche Akteure in realen gesellschaftlichen Verhältnissen verwirklichen können. Statt auf Ressourcen – als Mittel zur Zielerreichung – solle sich der Blick auf tatsächlich realisierbare „Funktionsweisen“, d. h. auf die Kombinationen von Praktiken und Zuständen einer Person richten. Analytisch widmet der Befähigungsansatz deshalb den „Konvertierungsfaktoren“ (Amartya Kumar Sen 1992) hohe Aufmerksamkeit. Mit diesem etwas unglücklich gewählten Begriff sind personelle, sozial-kulturelle und politisch-institutionelle Einflüsse und Machtverhältnisse gemeint, die es unterschiedlichen Akteuren in selektiver Weise erlauben, Ressourcen, Güter und Dienste in eigene spezifische Praktiken, Beziehungen und Zustände zu überführen. Die Verbindung zwischen diesen Praktiken bzw. Zuständen und der Frage des guten Lebens wird mit der zentralen Unterscheidung zwischen Funktionsweisen (functionings) und Entfaltungsmöglichkeiten (capabilities) hergestellt. Während mit Funktionsweisen realisierte Zustände, Beziehungsformen und Handlungen gemeint sind, die die Subjekte für ihr eigenes Leben als wertvoll erachten, geht es bei capabilities um die realen Freiheiten (sowie deren gesellschaftliche Bedingungen) der Subjekte, sich für – oder gegen – die Realisierung von unterschiedlichen Kombinationen solcher Funktionsweisen entscheiden zu können und die lebenspraktischen realen „Kosten“, die mit diesen Entscheidungen (in strukturell selektiver Weise) verbunden sind. Diese Betonung des Autonomieaspekts (Autonomie) des guten Lebens verweist darauf, dass es der Befähigungsperspektive nicht darum geht, bestimmte Lebensführungen zu dekretieren. Die objektiven Bestimmungen der Befähigungsperspektive beziehen sich alleine auf die (sozialen) Bedingungen, die das autonomiekonstitutive gute menschliche Leben betreffen. Der konkrete Inhalt des je individuell guten Lebens bleibt die Sache der Individuen (und ist vor äußeren Eingriffen zu schützen). Der Maßstab, den der C.A. an Bildungs- und Erziehungsprozesse anlegt, ist daher das reale – und ggf. durchaus empirisch bestimmbare – Ausmaß und die Reichweite des eröffneten Spektrums effektiv realisierbarer und hinreichend voneinander unterscheidbarer Möglichkeiten und Handlungsbemächtigungen, über die Subjekte verfügen, um das Leben führen zu können, welches sie mit guten Gründen erstreben. Entscheidend ist entspr. weniger, ob Menschen und ihre Lebensführungen „different“ sind, sondern, ob sie die gleiche (positive) Freiheit genießen, ihr Leben frei zu wählen, d. h. auch Lebensprojekte zu realisieren, die sie sich angeeignet haben, die sie wertschätzen und mit Relevanz, Bedeutung, Sorge und Gewicht ausstatten. Die mit der Rede von capabilities angesprochenen „Realfreiheiten“ umfassen zwar bildungstheoretisch zentrale Subjektdimensionen wie Urteilsfähigkeit und praktische Vernunft, können aber nicht auf individuelle Eigenschaften, Dispositionen oder Kompetenzen reduziert werden, sondern verweisen auf das komplexe Zusammenspiel von Infrastrukturen (Infrastruktur), Ressourcen, Berechtigungen und Befähigungen. Daher sind Befähigungen auch nicht in Kompetenzchecklisten zur Klassifikation von Individuen umzusetzen, sondern verweisen auf die Aufgabe von öffentlichen Institutionen, „jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden“ (Nussbaum 1999: 24).

3. Kontroversen um die Liste von „central human capabilities“

Der Raum potenziell förderbarer Möglichkeiten und Befähigungen ist offensichtlich vielfältig. Zugleich dürfte bereits intuitiv einsichtig sein, dass nicht alle Befähigungen mit Blick auf das gute menschliche Leben gleichermaßen fundamental sind. Hier setzt die Frage der „menschlichen Natur“ ein, die bei M. Nussbaum in den Vorschlag einer Liste von zentralen menschlichen capabilities mündet, welche die Funktion haben soll, „[to] isolat[e] those human capabilities that can be convincingly argued to be of central importance in any human life, whatever else the person pursues or chooses“ (Nussbaum 2000: 74). Die dem Anspruch nach universelle, gleichwohl bewusst vage und explizit offene und revisionsfähige sowie sehr wahrscheinlich unvollständige Liste rekurriert zwar begründungstheoretisch auf zentrale Bereiche der conditio humana, stellt aber weder den Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen, noch einen Ersatz für demokratische Deliberation und individuelle Entscheidungen (Entscheidung) dar. Das Argument der Vertreter einer solchen Liste lautet, dass deliberative Formulierung des guten Lebens alleine deswegen kein Ersatz für eine solche – oder eine ähnliche – Liste ist, weil Deliberationen auf Voraussetzungen angewiesen sind, die eben nicht als schlechthin gegeben unterstellt werden können. In diesem Sinne ist M. Nussbaums Liste am besten als ggf. revisions- vermutlich jedoch eher erweiterungsbedürftiger Versuch zu verstehen, zentrale, materielle und institutionelle Grundbedingungen der Deliberations- und Entscheidungsfähigkeit der je Betroffenen sicherzustellen.

Erziehungs- und bildungstheoretisch relevante Aspekte von M. Nussbaums Liste reichen von der Befähigung zur Ausbildung sensorischer Fähigkeiten und grundlegender Kulturtechniken, über die Möglichkeit und Fähigkeit zu Bindungen mit anderen Menschen, bis hin zur Befähigung zur Ausbildung praktischer Vernunft und einer eigenen revidierbaren Konzeption eines gelungenen Lebens im Wissen um die eigenen Umstände und Wahlmöglichkeit.

4. Verfahrensaspekte des Capability Approach

Über den Rekurs auf die Sicherstellung der ökonomischen und sozialen Bedingungen eines guten menschlichen Lebens im Sinne des substanziellen Aspekts von Autonomie und Freiheit (substantive freedoms, A. K. Sen 1999) hinaus, betont der C.A. in demokratietheoretischer Hinsicht den Verfahrensaspekt von Freiheit (process freedoms, A. K. Sen 2002). Hervorgehoben wird dabei die Bedeutung von (machtförmigen) Prozessen der Definition, Entscheidung und Implementation dessen, was den Rahmen und die Konditionen der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung der betroffenen Akteure bildet. Zu den wesentlichen capabilities gehört deshalb die Realmöglichkeit, die eigenen Perspektiven und Bedürfnisse nicht nur gemäß den je gültigen Diskursregeln – d. h. den bestehenden Regeln des Sagbaren und Gültigen – einbringen zu können, sondern auch die Möglichkeit zu haben, die Regeln und die informationale Basis der Beurteilung gerechtigkeitsrelevanter Sachverhalte zu beeinflussen und infrage stellen zu können.

Die Betonung dieser Verfahrensaspekte und der Fokus auf capabilities statt auf Funktionsweisen, entschärft die dem C.A. – und allen pädagogischen Perspektiven – inhärente Paternalismusproblematik (Paternalismus). Es geht darum, den realen Macht- und Autonomiespielraum der Betroffenen zu erweitern und nicht darum, die Akteure zu inhaltlich fixierten Daseins- und Handlungsweisen zu bewegen.

5. Capabilities, Emanzipation und Bildung

Der C.A. ist v. a. ein Ansatz zur Begründung einer evaluativen Metrik. Er ist keine eigenständige Sozial- oder Bildungstheorie und liefert keine Erklärungsansätze zur Analyse sozialer Realprozesse. Er kann bildungs- und sozialwissenschaftliche Subjekt-, Macht- und Gesellschaftsanalysen nicht ersetzen, sondern bleibt auf diese verwiesen. Die radikalen Implikationen des C.A. werden nicht erfasst, wenn die strukturellen und institutionellen Beschränkungen der Realisierung von capabilities ignoriert werden oder, anders formuliert, wenn von den sozialen und politischen Realitäten des real existierenden Kapitalismus abstrahiert wird und die Rede von capabilities zu einem Fokus auf individuelle Kompetenz- und Resilienzentwicklung verkommt, der gesellschaftstheoretische Ignoranz durch moralisierte Geschwätzigkeit kompensiert. Demgegenüber ist eine Bildungstheorie, die auf die evaluative Metrik des C.A. aufbaut, d. h. auf eine Metrik, deren Anspruch darin besteht, zu erfassen, was für die Realisierung von „human flourishing“ bedeutsam ist, am besten als Teil einer emanzipatorischen Gesellschaftswissenschaft zu verstehen, die sich, wie es Erik Olin Wright (2006: 94) formuliert hat, aus drei Komponenten zusammensetzt: „To call it a […] science, rather than social criticism or philosophy, is to recognize the importance […] of systematic scientific knowledge about how the world works. To call it emancipatory is to identify its central moral purpose – the elimination of oppression, and the creation of conditions for human flourishing. And to call it social implies a belief that emancipation depends upon the transformation of the social world, not just the inner self.“ Im Kontext des breiten Projekts einer emanzipatorischen Gesellschaftswissenschaft gehen wir davon aus, dass sich der C.A., in seiner hier vorgeschlagenen Lesart, als Element einer materialistischen, sozial situierten Bildungstheorie anbietet. Er akzentuiert ein klassisches Motiv der emanzipatorischen Bildungsdebatte und rückt es in das Zentrum einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive: Die Ermöglichung von Würde und Autonomie der Lebenspraxis und die Erweiterung der Entfaltungsmöglichkeiten der Subjekte.