Wirtschaftsethik

  1. I. Sozialethisch
  2. II. Ökonomisch
  3. III. Philosophisch

I. Sozialethisch

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Die W. ist das (vermutlich) wichtigste Teilgebiet der christlichen Sozialethik. Bereits die Entstehung einer solchen Sozialethik war eine Konsequenz der Etablierung einer durch das Marktsystem geregelten Wirtschaftsordnung im Laufe des 19. Jh. Angesichts der sich damals vollziehenden funktionalen Ausdifferenzierung des modernen Wirtschaftssystems wurde deutlich, dass bei den christlichen Bemühungen der Kirchen, sich in Bezug auf die drängenden Problemlagen (Soziale Frage) nützlich zu machen, ein bloßer Rückgriff auf das individualethische Instrumentarium der christlichen Moraltheologie nicht ausreichen konnte. Vielmehr mussten diese strukturellen Probleme mit einem strukturethischen, eben spezifisch sozial- oder gesellschaftsethischen Zugriff bearbeitet werden. Ein längerer Lernprozess führte zur Herausbildung einer Sozialethik der Wirtschaft (im katholischen Bereich sogar durch die Einführung eines neuen theologischen Fachs: der Christlichen Gesellschaftslehre), über deren genauere Konturen freilich niemals Konsens bestand. Die Konturen der Sozialethiken der Wirtschaft lassen sich nun durch eine Differenzierung von drei Ebenen systematisieren.

1. Nächstenliebe (Begründungsebene)

Das Grundanliegen der Christlichen Sozialethik besteht in der gesellschaftsethischen Umsetzung des für Jesus von Nazaret grundlegenden Ziels der Nächstenliebe (Mt 22,34–40; vgl. Mk 12,29–31; Lk 10,25–28). In diesem biblisch fundierten Begründungsdiskurs liegt das Spezifische einer christlichen Sozialethik (der Wirtschaft). Von daher ergibt sich das allgemeine sozialethische Ziel, dass „der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ (Mater et Magistra: 219) sein sollte. Diese Formulierung des Leitbildes belässt zwar konkrete Konsequenzen im Unbestimmten, dennoch aber besteht im grundsätzlichen Ziel, die institutionellen Strukturen für ein menschenwürdiges Leben (Menschenwürde) aller zu schaffen, das formelhaft verdichtete Kernanliegen der Sozialethik. In diesem Sinn lässt sich „die ganze katholische Soziallehre […] auf einen Fingernagel schreiben“ (Nell-Breuning 1985: 58). Gleichwohl fallen auf dieser Begründungsebene fundamentale Entscheidungen.

Zum einen stellt sich grundlegend die Frage, wer überhaupt zur sozialen Gemeinschaft gehört, wessen Interessen also überhaupt zu berücksichtigen sind. Die christliche Antwort auf diese Wer-Frage greift zurück auf Jesus von Nazaret, der mit seiner Fremden- (Lk 10,25–37) und Feindesliebe (Mt 5,44 f.) den Begriff des „Nächsten“ so definiert hat, dass kein Mensch mehr ausgeschlossen bleibt: Jeder ist der „Nächste“ und gehört zur Solidargemeinschaft! Dieser sozialethische Begründungsstandpunkt sieht also vor, dass sich Menschen nicht nur aufgrund der Potenziale ihrer Kooperationserträge definieren (das wäre der economic point of view), vielmehr geht es um eine Gesellschaft von Menschen, die sich grundsätzlich i. S. d. christlichen Nächstenliebe anerkennen (der christian point of view).

Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieses identitätssemantische Angebot der christlichen Religion von der Modellierung des Problems bei John Rawls unterscheidet. J. Rawls’ „Urzustand“ steht von vornherein nur für den „Bereich des Normalen“ (Rawls 1998: 384) offen, d. h. für „volle und aktive Gesellschaftsmitglieder“ (Rawls 1998: 384). Diese Beschränkung stimmt mit der christlichen Antwort auf die Solidaritätsfrage, die von einer ausnahmslos alle Menschen dieses Erdballs umfassenden „Menschheitsfamilie“ ausgeht, nicht überein.

Letzteres Ziel benennen auch drei der Sozialprinzipien der traditionellen Katholischen Soziallehre, nämlich das Personprinzip (die Würde jeder menschlichen Person), das Gemeinwohlprinzip (das gemeinsame Wohl aller Personen) und das Solidaritätsprinzip (die wechselseitige Verwiesenheit und Verantwortlichkeit aller für alle). Solche Sozialprinzipien liefern noch keine konkretisierten Rezepte zur institutionellen Lösung gesellschaftlicher Problemlagen, sondern können „nur“ als richtungsgebende Maßstäbe fungieren. Diese Kompetenz, Richtungs-Vorschläge zu machen, wird aber verspielt, wenn das theoretische Prinzipienkonzept nahezu beliebige praktische Anwendungsmöglichkeiten erlaubt. Um diese Beliebigkeit zu vermeiden, sollten die Prinzipien der Personalität, des Gemeinwohls und der Solidarität, die im Wesentlichen auf das Gleiche hinauslaufen, als normative Zielprinzipien konzipiert und nur das Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) als instrumentales Mittelprinzip (Organisationsprinzip) in Anschlag gebracht werden.

Mit der Schlichtheit des Grundanliegens verbindet sich nun aber auch gleich das Grundproblem der Sozialethik: Ihr Ziel besteht zwar im „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS: 3), also in einer am Menschen orientierten Ausgestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft, doch verfügt sie über kein konkretisiertes „Wirtschafts- oder Sozialprogramm Gottes“, d. h. über keine fertigen „Kochrezepte“, wie eine Umsetzung dieses grundlegenden Ziels in einer modernen Gesellschaft bewerkstelligt werden könnte. Die Kirchen haben „keine technischen Lösungen anzubieten“ (Caritas in Veritate: 9). Denn als Disziplin der Theologie verfügt die Sozialethik der Wirtschaft als solche (noch) nicht über das ausdifferenzierte Instrumentarium der modernen, jeweils kompetenten Einzelwissenschaften (z. B. der Ökonomik). Denn zu Zeiten der Entstehung des religiösen Grundlagendokuments der christlichen Theologie, der Bibel, gab es ja noch nicht einmal den Gegenstandsbereich der Sozialethik: die moderne Gesellschaft. Diese Tatsache ist zu berücksichtigen, wenn es um die Frage geht, was die Sozialethik (der Wirtschaft) gleichwohl an gesellschaftlich nützlichen Orientierungsangeboten beizusteuern hat.

2. Gerechtigkeit (Anwendungsebene)

Die Nächstenliebe als das Grundanliegen der Sozialethik (Wer-Frage) wirft dann im Hinblick auf die gesellschaftsethische Anwendung die Frage auf, was Nächstenliebe nun im Hinblick auf soziale Regelungen bedeuten könnte. Will man auch diese Frage biblisch fundieren, so geht es hier um die Aufforderung Jesus von Nazaret, die Gerechtigkeit zu suchen (Mt 6,33: „Sucht zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“). In einem modernen Verständnis ist dies die Frage nach möglichst unparteilichen (= gerechten) Regelungen zwischen den im ersten Schritt als „Nächste“ definierten Menschen. Es handelt sich um Was-Fragen der sozialethisch relevanten Zwecke. Hier kommen u. a. ökonomische Zwecke (Überwindung von Hunger, Wohlstand), politische Zwecke (Demokratie, Freiheit, Menschenrechte) oder ethische Zwecke: Unparteilichkeit (Gerechtigkeitstheorie; Utilitarismus) in Frage. Dabei kann sich die christliche Sozialethik – wie die philosophische Ethik auch – insb. im Hinblick auf die ethischen Zwecke durch eine systematische Aufarbeitung der hier relevanten Ethikprinzipien (= der Unparteilichkeitskriterien) nützlich machen.

Die aktuellen Konzeptionen der Sozialethik greifen zur konkreteren Modellierung des ethischen Unparteilichkeitsstandpunktes auf diverse philosophische Gerechtigkeitskonzeptionen zurück, v. a. auf die Gerechtigkeitstheorie von J. Rawls und die Diskursethik von Jürgen Habermas.

3. „Ökonomische“ Zweckmäßigkeit (Implementierungsebene)

Schließlich sind wir konfrontiert mit Wie-Fragen: Wie können wir unsere Zwecke effektiv und effizient implementieren? Hierbei handelt es sich um (im weiten Sinn) „ökonomische“ Mittelfragen, die in das Gebiet der Spezialistenkompetenz ausdifferenzierter Einzelwissenschaften (z. B. der Ökonomik) fallen. Zwar kann sich eine christliche Sozialethikerin selbstverständlich entsprechende Kompetenzen aneignen, doch besitzt sie diese dann als Person, nicht von ihrer Disziplin her. „[H]insichtlich einer effizienten Umsetzung moralischer Zielvorstellungen ist die Logik der Ökonomik dem […] Repertoire einer sich um Praxisrelevanz mühenden Sozialethik deutlich überlegen“ (Höhn 2002: 262).

4. Pluralität sozialethischer Wirtschaftsethiken

Sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich existierte immer und existiert auch heute eine weit gefächerte Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen der Sozialethik allgemein und christlicher W.en im Speziellen. Hier fanden und finden sich eher wirtschaftsliberale Ansätze (früher: Johannes Messner; heute: Traugott Jähnichen, Joachim Wiemeyer, Elke Mack und Michael Schramm), vermittelnde Konzeptionen (früher: Oswald von Nell-Breuning und Arthur Rich; heute: Friedhelm Hengsbach und Bernhard Emunds) und auch dezidiert marktkritische Positionen (Franz Segbers). Der interdisziplinäre wirtschaftsethische Diskurs sowie die gesellschaftliche Praxis werden zeigen, was sich hier als gesellschaftsethisch nützlich oder schädlich erweisen wird.

II. Ökonomisch

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1. Begriffsbestimmung

W. ist eine wissenschaftliche Disziplin, die moralische Fragen in wirtschaftlichen Entscheidungs- und Interaktionssituationen untersucht. Sie bezieht sich auf den Gegenstandsbereich Wirtschaft und somit auf das wirtschaftliche Handeln von Personen und Organisationen, z. B. auf Güter- und Arbeitsmärkten. Die entsprechenden Problemstellungen werden meist auf Basis moralwissenschaftlicher Methoden analysiert, d. h. mit dem Analyseinstrumentarium der Ethik und Theologie. Es wird bspw. anhand normativer Prinzipien untersucht, ob die Festlegung von Managergehältern moralischen Beschränkungen unterliegen sollte. W. im moralwissenschaftlichen Sinne ist demnach normativ orientiert und begründet, was Konsumenten, Arbeitnehmer, Unternehmer oder Wirtschaftspolitiker tun sollen. Werden moralische Normen und Urteile im Wirtschaftsgeschehen mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden untersucht, spricht man von Moralökonomik, die ebenfalls zur W. gerechnet wird. Sie zielt z. B. darauf ab, die mangelhafte Handlungsrelevanz moralischer Normen oder wirtschaftsethischer Initiativen ökonomisch zu erklären und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

2. Moral als Selbstbindungsproblem

Theoretischer Ausgangspunkt der ökonomischen Analyse moralischer Normen ist die rationale Entscheidung freier Individuen unter objektiven Handlungsrestriktionen, wie sie die Rational Choice Theory modelliert. Moralische Anforderungen treten vor diesem Hintergrund als Selbstbindungsproblem auf, da sie vom Einzelnen verlangen, sein rationales Eigeninteresse (Interesse) moralischen Beschränkungen zu unterwerfen. Die Einschränkung der heutigen Möglichkeiten hat dann den Charakter einer Investition in ein größeres Maß künftiger Möglichkeiten. Insb. in der zwischenmenschlichen Interaktion spielt die Fähigkeit, das rationale Eigeninteresse im Einklang mit moralischen Normen einzuschränken, eine zentrale Rolle bei der Konfliktlösung und bei der Ermöglichung von Kooperation. Die glaubwürdige Selbstbindung an das Ehrlichkeitsgebot stellt bspw. sicher, dass andere sich kostspielige Überprüfungsmaßnahmen sparen können. Auch in Vertragsbeziehungen ist das Versprechen, sich an vereinbarte Konditionen zu halten, essenziell. Viele Verträge kommen erst zustande, weil das Gegenüber als moralisch eingeschätzt wird, z. B. aufgrund der Reputation, vertragstreu oder bei unvorhergesehenen Entwicklungen zu wechselseitig vorteilhaften Nachverhandlungen bereit zu sein. Für ein Individuum oder ein Unternehmen besteht das Selbstbindungsproblem darin, moralische Restriktionen aufgrund von Willensschwäche oder ökonomischen Anreizen nicht glaubhaft versprechen oder zuverlässig einhalten zu können. Unter Wettbewerbsbedingungen (Wettbewerb) verschärft sich diese Problematik, da die Kosten der Selbstbindung an moralische Ziele nun davon abhängen, ob sich auch andere Marktteilnehmer daran binden. Geht es für ein Unternehmen bspw. darum, in der Produktion aus moralischen Gründen auf den wirtschaftlich lohnenswerten Einsatz von Kinderarbeit zu verzichten, sieht es sich mit zwei Szenarien konfrontiert. Entscheiden sich alle Wettbewerber gegen die moralische Selbstbindung, hat es durch den Verzicht auf Kinderarbeit aufgrund höherer Lohnkosten einen Wettbewerbsnachteil, der schlimmstenfalls zum Marktaustritt führt. Entscheiden sich alle Wettbewerber hingegen für die moralische Selbstbindung, könnte sich die Unternehmung durch die Beschäftigung von Kindern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen und höhere Gewinne erzielen. Die Wahl der unmoralischen Strategie der Kinderarbeit ist also unter Wettbewerbsbedingungen immer rational, unabhängig davon, was die anderen tun, sowohl für diejenigen, die das moralische Verhalten anderer ausnutzen wollen (Ausbeutungsmotiv), als auch für diejenigen, die befürchten als „Ehrliche die Dummen“ zu sein (Schutzmotiv). Im Ergebnis führt dies zu einem stabilen Interaktionsergebnis (Nash-Gleichgewicht), bei dem sich alle unmoralisch verhalten, obwohl sie eine Situation allseitigen moralischen Verhaltens vorziehen würden. Aufgrund dieses ordnungsethischen Problems ist es oft notwendig, moralische Normen durch Gesetze oder ähnliche Institutionen abzusichern und damit die unzureichende Selbstbindungsfähigkeit der Wettbewerber durch externe Bindungsmechanismen zu unterstützen.

3. Moral als Verteilungsproblem

Moralische Kriterien können aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht auch bei der Bewertung von Verteilungsproblemen (Verteilung) eine Rolle spielen, d. h. bei der Beantwortung der Frage, wer nach welchem Zuteilungsverfahren welche (im-)materiellen Ressourcen erhalten soll.

Der Utilitarismus bevorzugt eine Verteilung, die das „Glück der größten Zahl“ maximiert, bei der Ressourcen also denen zufallen, die den größten Nutzen daraus ziehen. Präferierter Allokationsmechanismus (Allokation) ist bei marktgängigen Gütern der (idealtypische) Markt, da dieser sicherstellt, dass diejenigen ein Gut erhalten, die es am meisten schätzen. Unter bestimmten Bedingungen erfordert der Utilitarismus die staatliche Umverteilung von Gütern. Nimmt bspw. der Zusatznutzen aus jeder weiteren verdienten Geldeinheit stetig ab, kann durch die Umverteilung von hohen zu niedrigen Einkommen, z. B. in Form progressiver Steuersätze, die Nutzensumme erhöht werden.

Der Libertarianismus lehnt Umverteilung nach einem endzustandsorientierten Kriterium als unzulässige Zwangsausübung ab. Er schreibt denen Eigentumsrechte an Gütern zu, die durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft oder ihres Kapitals zur Herstellung beigetragen haben. Der Eigentumstransfer ist aus libertärer Sicht nur durch Willensakte der Beteiligten zulässig. Das bevorzugte Verfahren ist demnach ebenfalls die freiwillige Markttransaktion, die es den Tauschpartnern überlässt, ob und zu welchen Konditionen sie ins Geschäft kommen. Libertäre billigen staatliche Umverteilung zumeist nur im Umfang eines „Nachtwächterstaates“, der Sicherheit, Eigentum und vertragliche Ansprüche schützt und Marktversagen korrigiert.

Die Vertragstheorie zieht eine Verteilung vor, die aus Grundsätzen resultiert, denen jeder unter fairen Entscheidungsbedingungen zustimmen kann. In der Vertragstheorie nach John Rawls nehmen diese die Form eines „Schleiers des Nichtwissens“ (Rawls 1979: 159) an, der alle persönlichen Merkmale der Entscheider ausblendet, die zu einer diskriminierenden Entscheidung führen könnten wie bspw. ihre sozioökonomische Situation oder ihre natürlichen Begabungen. Der von J. Rawls beschriebene einstimmige Vertragsschluss hinter dem Schleier ist einer vernünftigen Entscheidung nach dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants nachempfunden. Er führt nach der Argumentation von J. Rawls zu Gerechtigkeitsgrundsätzen (Gerechtigkeit), die jedem das größtmögliche gleiche Maß an Freiheit zubilligen, Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) gewährleisten und nach dem Maximin-Prinzip über die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen entscheiden. Eine ungleiche Verteilung ist demnach nur zulässig, wenn dies die Situation der am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder maximal verbessert. Bzgl. des Allokationsverfahrens zur Realisierung seiner Gerechtigkeitsgrundsätze macht J. Rawls keine konkreten Angaben. Er scheint jedoch für einen Mix aus marktlicher und staatlicher Zuteilung zu plädieren.

III. Philosophisch

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Die Reflexion über die Wirtschaft gehörte in der Antike in den größeren Rahmen der praktischen Philosophie, die Politik, Ökonomie und Ethik umfasst. Die antike Ökonomie bezog sich auf das „ganze Haus“, auf die Hauswirtschaft. Die Ethik war paradigmatisch Tugendethik: Adressiert an den Einzelnen, vermittelt durch Erziehung, diente sie bei Platon und Aristoteles dem Zweck, in der Polis durch tugendhafte Aristokraten Gerechtigkeit walten zu lassen. Da es kein nennenswertes Wachstum des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens gab, ging es zentral um „Maßhalten“, um das „rechte Maß“ – gegen den Hedonismus der Vielen bei Platon und gegen Geld- und Kapitalbildung, Chrematistik, bei Aristoteles. Auch die bes. von Isokrates aus der politischen Rhetorik entwickelte Ethik des „Überzeugens“ (Reckermann 2018), die das Streben nach Vorteilen als Grundform des menschlichen Handelns begreift, hält an der zentralen Rolle der Tugend fest, insistiert aber auch auf institutionellen Rahmenbedingungen, die gewährleisten sollen, dass tugendhaftes Handeln auch vorteilhaft ist. Bedingt durch das politische Scheitern der Philosophen und die spätere von Alleinherrschern bestimmte Politik zog sich die Philosophie seit der Stoa auf den Einzelnen (Philosophen) und sein Glück zurück. Dies blieb auch im Christentum bis zu den Reformatoren (Reformation) einschließlich Johannes Calvin so, weil hier die dominante „soziale“ Beziehung die der einzelnen Seele zu Gott war.

Dieser Ansatz der Tugendethik erfährt heute eine Renaissance (Alasdair MacIntyre, Martha Nussbaum); er bildet die eine Variante des individualtheoretischen Paradigmas auch in der W. und bes. der Unternehmensethik („ehrbarer Kaufmann“). Die andere Variante dieses Paradigmas geht auf die deontologische Pflichtenethik von Immanuel Kant mit den Pfeilern Autonomie des Einzelnen und Vorrang der Moral vor der Klugheit zurück; dieses Paradigma ist dominant in der Ethik und bestimmt große Teile auch der W. und bes. der Unternehmensethik einschließlich der Führungsethik.

Mit der wirtschaftlichen Blüte aufgrund günstiger Klimaänderungen vom 10.-14. Jh. entwickelt sich eine stärkere Verflechtung der wirtschaftlichen Akteure; Märkte dehnen sich aus, und Wirtschaft wird allmählich zur Volkswirtschaft, die die Hauswirtschaft von der Volkswirtschaft abhängig macht. Damit tritt die Bewertung der Ergebnisse des Gesamtsystems in den Vordergrund, was sich in stärker teleologischen Ethikkonzeptionen niederschlägt (Utilitarismus, Ordnungsethik). Je komplexer die Wirtschaft wird, desto weniger können die einzelnen Akteure, die natürlichen Personen und/oder die Unternehmen, die Auswirkungen ihrer Handlungen kontrollieren. Das führt zur Entkoppelung ihrer handlungsleitenden Motive von den erwünschten sozialen Ergebnissen: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von deren Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse“ (Smith 2005: 98).

So ergibt sich eine neue Problemlage für die ethische Reflexion über die Wirtschaft: Wer unter Bedingungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen – zugunsten der anderen Menschen oder der Natur – erbringt, die die Kosten erhöhen, vom Markt aber nicht vergütet werden, gerät in Wettbewerbsnachteil gegenüber seinen Konkurrenten und muss am Ende vielleicht sogar aus dem Markt ausscheiden. In solchen Situationen moralisch zu handeln, beweist nicht Tugend, sondern „hieße eher, sich selbst als Beute darbieten – wozu niemand verpflichtet ist“ (Hobbes 1966: 100). Individuelle Moralität reicht offenbar nicht mehr aus.

Als Antwort auf diese Problematik ist der zweite paradigmatische Ansatz der W. entwickelt worden, die Ordnungsethik: Unter Bedingungen des Wettbewerbs wird der Gefahr der Ausbeutung individuellen moralischen Handelns durch Konkurrenten dadurch begegnet, dass Letztere denselben Moralstandards unterworfen werden: durch sanktionsbewehrte Regeln – ganz wie im Fußball der Wettbewerb in den Spielzügen stattfindet und die Fairness – nicht allein, so doch – grundlegend durch die Spielregeln und den Schiedsrichter garantiert wird. Weil unter Wettbewerbsbedingungen jeder Akteur auf seinen eigenen Vorteil achten muss, stellt der homo oeconomicus ein unverzichtbares Konstrukt zur Analyse des Verhaltens in solchen Situationen dar; er darf daher nicht als philosophisches oder anthropologisches „Menschenbild“ verstanden werden.

Wenn man den Wettbewerb nicht – wie Karl Marx und die auf ihn sich berufende sozialistische Planwirtschaft (Zentralverwaltungswirtschaft) – abschaffen will, muss man die W. zweistufig entwickeln: Die Individualethik, Handlungsethik wird in eine – diese erst ermöglichende – Ordnungsethik eingebettet. Wir erhalten eine Moral, die grundlegend die Treue zu den Regeln, Institutionen verlangt. David Humes „künstliche Tugenden“ und Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Rechtschaffenheit“ sind frühe philosophische Zeugnisse. Es ist der Wettbewerb, der einerseits den „Reichtum der Völker“ (Smith 2005) generiert und der deswegen ethisch legitimiert ist, der aber andererseits die Akteure zwingt, ihre eigenen Interessen zu verteidigen: Thomas Hobbes spricht hier von „defensio“, Selbstverteidigung (Hobbes 1966: 95, Fußnote). Der Wettbewerb wird in der Marktwirtschaft durch die Rahmenordnung so kanalisiert, dass Wachstum und eine gewaltige Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens resultieren. Als Grund für moralisch skandalöse Zustände wie Hunger, Armut, Erderwärmung etc. werden Ordnungsdefizite identifiziert, denen man mit Reformen der (Welt-)Rahmenordnung zu begegnen hat.

Diese Konzeption überwindet paradigmatisch die tendenziell antimarktwirtschaftliche Einstellung der philosophischen Ethik und des individualethischen, des tugendethischen oder pflichtenethischen, Paradigmas in der W. Die soziale Ordnung ist daher zu begreifen als „der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe“ („Caritas in veritate“: 7).

Allerdings bereitet dieses Verständnis von Ethik bzw. W. vielen Menschen Probleme, weil sie dem Verständnis von Moral, in dem sie sozialisiert sind und das den öffentlichen Diskurs bestimmt, diametral zu widersprechen scheint: Sie kommt ohne unmittelbar handlungsleitende moralische Motive aus, und sie kennt keine unmittelbare moralische Befriedigung. Daher muss ihr sittlicher Charakter immer wieder im rationalen öffentlichen Diskurs bewusst gemacht werden.