Sozialprinzipien

Die Rede von S. gehört zum festen Bestand der Sozialverkündigung der Kirche wie der Christlichen Sozialethik als ethischer Grundbegriff dieser Kategorie zugeordnet oder das Subsidiaritäts- durch ein Demokratieprinzip ergänzt werden.

1. Begriff und Charakter der Sozialprinzipien

Unbeschadet divergierender Formulierungen kann ein Basiskonsens darüber angenommen werden, dass mit den S. ein grundlegender orientierender Anspruch an die Institutionen des sozialen Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft sowie – unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung – auch an suprastaatliche politische und zivilgesellschaftliche Formationen (Zivilgesellschaft) herangetragen wird. Als grundlegende Orientierungen haben S. allgemeinen Charakter und liegen konkreten Normierungen voraus. Verortet „zwischen theoretischer Begründung und konkreter Anwendung“ (Wilhelms 2010: 103) können aus ihnen nicht ohne weitere Vermittlungsstufen Handlungsanweisungen extrapoliert werden; vielmehr bilden sie „strukturierungs- und verfahrensrelevante Grundsätze“ (Baumgartner/Korff 1999: 225). Mit ihrem orientierenden Anspruch antworten die S. auf die Dynamik moderner Gesellschaften. In Auseinandersetzung mit diesem Prozess permanenten Wandels und den damit evozierten ethisch relevanten Problemlagen sukzessive ausformuliert, bilden sie einen entwicklungs- und deutungsoffenen Kanon. Metaphorische Umschreibungen der S., typischerweise mit Anleihen aus dem Sachbereich der Architektur oder der Sprache, zielen auf deren strukturgebenden Charakter: etwa die Rede von „Baugesetze[n] der Gesellschaft“ (Nell-Breuning 1968; ähnlich Baumgartner/Korff 1999: 226) oder von einer „ethische[n] Grammatik für den Strukturaufbau der modernen, ‚offenen‘ Gesellschaft“ (Vogt 2017: 1097).

Drei Funktionen bzw. Bedeutungsebenen der S. können unterschieden werden:

a) Als Analysekategorien für die Identifizierung veränderungsbedürftiger Verhältnisse bilden sie eine Schnittstelle zwischen sozialethischem und sozialwissenschaftlichem Diskurs, an der die Transformation von empirisch belegbaren Einsichten in Charakter und Funktionalität moderner Gesellschaften in ethisches Orientierungswissen geleistet werden muss.

b) Als Ordnungskategorien formulieren sie Maßstäbe für die Richtung und Zielsetzung solcher ethisch indizierter Veränderungen. Insofern sie damit einen Rahmen für die Ausarbeitung konkreter Normen zur Ausgestaltung und zur Bewertung sozialer Institutionen bilden, liegen sie an der Schnittstelle zwischen Sozialethik und den Praxisfeldern von Recht und Politik.

c) Schließlich bilden die S. ihrerseits einen Begründungszusammenhang, jedoch nicht als in sich geschlossenes Denkgebäude, sondern als offener Diskurs; an dieser Schnittstelle setzt ein kontinuierlich zu führender Dialog zwischen Christlicher Sozialethik und Sozialphilosophie an.

Im Zusammenspiel der drei Ebenen muss eine geschichtliche Hermeneutik der S. herausarbeiten, wie und aufgrund welcher Erfahrungen sich die Gewichtung von Deutungsressourcen im Wechselspiel mit der Dynamik moderner Gesellschaften von einer Wesensmetaphysik zu einer postmetaphysischen Sozial- bzw. Strukturenethik, von einem statischen und räumlich geschlossenen zu einem dynamischen und global geweiteten Gesellschaftsmodell, vom Paradigma der Deduktion zu einer induktiv ansetzenden, Empirie, Sozialphilosophie und theologische Reflexion verknüpfenden, geschichts- und kontextbewussten Denkweise, verlagert hat und wie, warum und wozu sie sich auf dieser Grundlage fortentwickelt.

2. Systematisierungen

„Die bleibenden Prinzipien der Soziallehre der Kirche bilden die wahren und eigentlichen Angelpunkte der katholischen Soziallehre“ (Päpstlicher Rat 2006: 131). Mit dieser Aussage wird die strukturierende Funktion der S. auf die Soziallehre der Kirche und deren dynamischen Charakter bezogen: Im Zusammenspiel von vernunft- und glaubensgeleiteter Einsicht in die „Wahrheit über den Menschen“ ist dem konsequenten Bemühen um eine sorgfältige Zeit- und Gesellschaftsanalyse und dem „kluge[n] Nachdenken“ (Päpstlicher Rat 2006: 131) über die eigene Glaubensüberlieferung gewinnen die S. eine immer klarere Grundlage und Gestalt. Damit übereinstimmend betonen wissenschaftliche Systematisierungsansätze die Dynamik und die kontextspezifische Deutungsoffenheit des Zusammenhangs der S.; dementsprechend sind jeder Gesamtentwurf und jeder Begründungsversuch desselben Resultat einer Rekonstruktion eines schrittweisen (nicht zwingend linearen) Entwicklungsprozesses; sie können nur insoweit Geltung beanspruchen, wie sie zugleich korrekturoffen und erweiterungsfähig bleiben. Hermann Josef Wallraff vertrat in Auseinandersetzung mit einem naturrechtlich-essentialistisch (Naturrecht) erstarrten Normativismus die Auffassung, die katholische Gesellschaftsethik bilde gerade kein geschlossenes Lehrsystem, sondern „ein Gefüge von generellen Sätzen, ein genus, ein weithin offenes System“ (Wallraff 1965: 37). Deren Stoßkraft entfalte sich, gebündelt in S., in der Abwehr von Angriffen auf Grundrechte und geschützte Institutionen der Gesellschaft (Ehe und Familie, Privateigentum etc.); ansonsten ließen sie als abstrakte Aussagen weiten Raum für unterschiedliche Sozialethiken und die Erarbeitung divergierender Wert- bzw. Ermessensurteile. Diese zur Zeit ihrer Formulierung sozialethisch durchaus nicht selbstverständliche Einsicht beleuchtet das Wechselverhältnis von normativer Grundstruktur und dynamischer, kommunikativer, pluralitätsoffener Aneignung unter sich wandelnden gesellschaftlichen Gegebenheiten.

In der gegenwärtigen sozialethischen Theoriebildung herrscht ein Typus der Systematisierung der S. vor, der dieser Einsicht Rechnung trägt: Basierend auf der Überzeugung, dass jede Sozialphilosophie wie jede Sozialethik (implizit oder explizit) Annahmen über den Menschen (als ethisches Subjekt) voraussetzen muss, geht er von der Anthropologie und einem bestimmten Begriff der Person aus. Folglich wird das Prinzip der Personalität als sozialethisches Grundprinzip verstanden und die humane Gestaltungsverantwortung – i. S. d. „Wende zu Subjekt“ – ins Zentrum gestellt. Überholt ist damit die Limitierung des ethischen Anspruchs auf gegebene, durch gleichsam metageschichtlich verankerte Wesensordnungen bestimmte, gesellschaftliche Verhältnisse, in denen nach ethischen Grundsätzen zu handeln wäre. Vielmehr sind die gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen selbst zum Gegenstand ethischer Gestaltung geworden; sie sind nach ethischen Grundsätzen einzurichten, zu entwickeln und kritisch zu prüfen. Diese Voraussetzung ist grundlegend für zeitgenössische Sozialethiken, insofern sie sich auf die Erfahrung einer dynamischen Gesellschaft beziehen, deren Ordnungsmuster in einem unabschließbaren Prozess immer wieder neu hergestellt und ausgehandelt werden müssen. Dabei kommt es darauf an, Wissenszuwächse und neue Wirklichkeitseinsichten zu integrieren.

Stärker auf vormoderne theologische Traditionen greift ein Systematisierungsvorschlag zurück, der nicht vom handelnden Subjekt ausgeht, sondern – im aristotelischen Sinne – von der Verpflichtung der Gesellschaft auf das Gemeinwohl als substantiell bestimmbares und verallgemeinerungsfähiges Ziel hin bzw. von diesem her zu denken versucht, um so einen Fluchtpunkt für den sozialen Zusammenhalt jenseits von Individualismus und Pluralismus zu gewinnen.

3. Normativer Gehalt und Zusammenhang der Sozialprinzipien

Die Ausrichtung an der menschlichen Person als „Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen“ (Enzyklika „Master et magistra“ 219; Enzyklika „Gaudium et spes“ 25) ist als sozialethisches Grundprinzip der katholischen Soziallehre allgemein anerkannt. Insofern es die unantastbare Würde des Menschen (Menschenwürde) schützt und i. S. d. zugleich sozialfähigen und -bedürftigen Existenzweise eine kommunikative Freiheit und gerechte Teilhabe ermöglichende Gesellschaftsgestaltung einfordert, wendet sich das Personprinzip kritisch sowohl gegen den normativen Individualismus einer liberalen Gesellschaftsauffassung als auch gegen eine kollektivistische Marginalisierung des Status der Individualität. Mit der Differenzierung von Person und Subjekt in der theologischen Anthropologie kann zwischen einem normativen Entwurf geschöpflichen Menschseins einerseits und der stets im Werden begriffenen konkreten Gestalt des Menschseins andererseits unterschieden werden. Dynamik und Ambivalenz der (Selbst-)Erfahrung personaler Existenz kann in den Spannungsbögen von

a) Verdanktheit und Autonomie,

b) Individualität und sozialer Verwiesenheit,

c) verantwortlicher Freiheit und Schuldanfälligkeit (Schuld) sowie

d) Selbstüberschreitung und Sterblichkeit gefasst werden, mit denen Anhaltspunkte für die Entfaltung von Kriterien einer persongerechten Gesellschaft markiert werden können.

Menschenrechte, fundamentale Anerkennungsansprüche (Anerkennung) und Achtungspflichten (Achtung) können von diesem Fundament her erschlossen und begründet werden, ebenso die normative Grundlegung einer Ordnung gesellschaftlicher Kooperation. Persongerecht kann eine Gesellschaft etwa dann genannt werden, wenn dem Vorrang der konkreten Person vor objektivierenden Instititutionen (vgl. Enzyklika „Gaudium et spes“ 25) sowie der Subjektivität und den Rechten des arbeitenden Menschen vor dem Kapital(interesse) (Enzyklika „Laborem exercens“ 12) Rechnung getragen wird. Ein Prüfstein der Persongerechtigkeit politischer und ökonomischer Entscheidungen sind deren Wirkungen auf die Lebens- und Beteiligungsmöglichkeiten der am schlechtesten gestellten Betroffenen i. S. d. Option für die Armen (Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ 42; „Zur wirschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ 107; „Economic Justice for All“ 41). Solidarität wird in der katholischen Soziallehre sowohl als Strukturprinzip (Rechtsprinzip) einer persongerechten Gesellschaft als auch als Tugend (Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ 38) aufgefasst, die der Annahme der Kooperationsverpflichtungen und der Verantwortlichkeit der Einzelnen in dieser Gesellschaft zugrundeliegt. Komplementär werden mit Hilfe der Subsidiarität (Enzyklika „Quadragesimo anno“ 9) Zuständigkeiten zwischen der Ebene der Personen und den unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Organisations- und Institutionsbildung geregelt. Mit seiner doppelten normativen Stoßrichtung schützt es sowohl die Freiheit der Person gegen einen (übergriffigen) Staat als auch ihre Angewiesenheit auf unterstützende Institutionen zur Sicherstellung von Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit.

Über die Auslegung und die Verortung des Gemeinwohls im Zusammenhang der S. gehen die Auffassungen auseinander, was nicht zuletzt mit der Mehrdeutigkeit des lateinischen Referenzbegriffs bonum commune zusammenhängt. Entweder wird es substantiell mit dem „Gemeingut“ identifiziert und als Zielwert verstanden oder aber formal bestimmt und als Dienstwert aufgefasst. Im kirchlichen Schrifttum herrscht die Bestimmung als Dienstwert einer sozialen Gemeinschaft/Gesellschaft (welcher Größenordnung und Organisationsgestalt auch immer) vor (u. a. Enzyklika „Mater et magistra“ 65). Daran zeigt sich ein Grundverständnis für die Spezifizität moderner Gesellschaften, deren Heterogenität eine substantielle und verallgemeinernde Definition des Gemeinwohls verbietet, gleichwohl aber einen Maßstab für das persongerechte Zusammenleben erfordert. Basiskriterien einer gemeinwohlartigen Gesellschaft werden unter Rekurs auf die sozialen Menschenrechte umschrieben (Enzyklika „Gaudium et spes“ 26). Die „weltweite Dimension“ des Gemeinwohls hebt bereits die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils hervor und verweist damit auf die Bedingungen einer globalisierten (Welt-)Gesellschaft. Heute erscheint es systematisch klärungsbedürftig, ob nicht weitere Differenzierungen, z. B. in Anlehnung an Theorien globaler (öffentlicher) Güter, erarbeitet werden müssen, um die Kategorie Gemeinwohl im Kanon der S. angesichts der gegebenen Herausforderungen globaler Gerechtigkeit in einer hochgradig differenzierten, jedoch vielfach ungeordneten Weltgesellschaft weiterentwickeln zu können. Der Zusammenhang zwischen Gemeinwohl und sozialer Gerechtigkeit erscheint manchen Interpreten so eng, dass beide miteinander identifiziert werden. Jedoch wirft auch die Bestimmung von Gerechtigkeit als „Zielprinzip“ der CSE aufgrund seiner enormen Komplexität gewichtige Fragen auf.

Dass die S. der kontextspezifischen Auslegung, dynamischen Aneignung und Fortentwicklung bedürfen, um kritisches und orientierendes Potential im Wandel (welt-)gesellschaftlicher Verhältnisse und der damit verbundenen sozialethischen Herausforderungen entfalten zu können, zeigt sich auch an der Aneignung des umweltpolitischen Begriffs Nachhaltigkeit als ökologisches Prinzip der KSL (erstmals: „Zur wirschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ 122–125). Die in der CSE diskutierte Frage, ob es als Sozialprinzip gelten kann, beantwortet die Enzyklika „Laudato Si’“ positiv, indem sie die sozialen Implikationen der ökologischen Krise, bes. für die Armen, zur Zentralperspektive der Situationsanalyse wie der ethischen Reflexion auf die (akteursspezifisch konkretisierte) Verantwortung „für das gemeinsame Haus“ erhebt.

4. Ausgewählte Forschungsdesiderate

Abschließend seien zwei miteinander zusammenhängende Forschungsdesiderate knapp benannt:

a) Um den grundlegenden Status des Personprinzips angesichts der Entwicklung von Medizin und Biologie, Hirnforschung, Kognitionswissenschaften, Transhumanismus und digitaler Transformation sozialphilosophisch und theologisch plausibel vertreten zu können, müssen die (sozial-)anthropologischen Grundlagen der S. dringend weiterentwickelt werden.

b) Nicht nur das Verhältnis zwischen einem anthropologischen Ansatz und einer Theorie der Gesellschaft, auf die sich der sozialethische Orientierungsanspruch richtet, ist weitgehend ungeklärt, sondern das sozialethische Verständnis von Gesellschaft als solcher bedarf einer eingehenden theoretischen Durchdringung auf der Höhe heutiger Gesellschaftstheorien, um das Konstrukt von S. als ethisch grundlegenden Orientierungen für diese soziale Wirklichkeit wissenschaftlich angemessen vertreten zu können.