Barmherzigkeit

1. Kulturelle Situation

Der „autonome Mensch“ (Autonomie) der Moderne will nicht auf fremde „Gnade und B.“ (Elsässer 1994: 16) angewiesen sein; er setzt auf sozialstaatlich garantierte Rechtsansprüche (Sozialstaat). Nicht alle Formen der Not sind jedoch damit zu beseitigen; die „unzeitgemäße Tugend“ B. (Dirks 1992) als spontane, freiwillige Hilfsbereitschaft bleibt unersetzbar. Trotz irreführender Assoziationen (Herablassung, selbstbezogenes Mitleid, Bemäntelung versäumter Sozialreformen) gewinnt die jüdisch-christliche Haltung der B. angesichts globaler Herausforderungen (Migration; Armut) neu an Gewicht. Papst Franziskus hat für 2016 ein „Jubiläum der B.“ ausgerufen. Unbedingte Zuwendung und freier Einsatz für fremde Not (lat. „misericors“: ein Herz für Elende) verlangt heute individuelle wie sozial-diakonische Empathie.

2. Philosophische Aspekte

Obwohl B. in der griechischen Philosophie prinzipiell kritisch gesehen wurde, sind dennoch positive Elemente der Bewertung auszumachen. Der Stoiker muss B. als logoswidriges Pathos der Seele überwinden. Lucius Seneca stellt dem schädlichen Mitleidsaffekt jedoch tatkräftige Milde gegenüber. Im Mittelalter gehört misericordia als Tugend der B. zur Nächstenliebe. Immanuel Kant lehnt B. als sittlich minderwertig ab, bejaht aber „tätiges und vernünftiges Wohlwollen“, das nicht Unwürdige fördert. Friedrich Nietzsche zählt B. sogar zu den pathologischen Affekten: Als weichlicher Selbstgenuss vermehrt sie nur das Leiden in der Welt und entehrt den Leidenden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel dagegen hält barmherzige Nächstenliebe des Einzelnen im Selbstwerdungs-Prozess des absoluten Geistes schlicht für unbedeutend; Wohltun ist Aufgabe des Staates. Für Karl Marx steht B. wie Gnade im Widerspruch zu Freiheit, Selbständigkeit (Autonomie) und Emanzipation. Mildtätigkeit ist bloße „Kumpanei mit den Herrschenden und Ausbeutern“ (Hauser 1971: 754). Tatsächlich kuriert individualistische Mildtätigkeit systemstabilisierend oft nur Symptome. Doch ist totale Unabhängigkeit von Hilfe nicht eine „Illusion“ (Bopp 1998: 89)? Arthur Schopenhauers „Mitleidsethik“ sieht bibelnah die reine Liebe (agápe, caritas) als Erkenntnis fremden Leidens. Martin Heidegger weist auf die Ambivalenz von Fürsorge hin: Sie kann den Hilfsbedürftigen abhängig halten, ihn aber auch zum Subjekt seiner eigenen Existenz-Sorge machen und zur Freiheit befähigen. So trifft die philosophische Kritik nur ein rein gefühlsbetontes, entmündigendes Mitleidig-Sein, nicht aber B. in all ihren Dimensionen. Eine prinzipielle Offenheit für ihren anthropologischen Gehalt macht Walter Kasper in der Moderne aus (Frankfurter Schule; W. Schulz; E. Levinas; J. Derrida; P. Ricœur). Trotz semantischer Unklarheit werden die positiven Seiten des Begriffs wieder entdeckt.

3. Biblisch-theologische Kernaussagen

Auch wenn B. keine jüdisch-christliche Erfindung (Judentum), sondern auch im Islam und Buddhismus wichtig ist, gilt sie in unserem Kulturraum (noch) als „grundlegende hermeneutische Schlüssel-Metapher zum Verständnis des biblischen Gottes und seines Heilshandelns. Gott ist der schlechthin und durchgängig Barmherzige“ (Bopp 1998: 114). Wer Gottes Erbarmen erfährt, muss selber barmherzig sein. Als Kernforderung des Gesetzes zitiert Jesus Hos 6,6: „B. will ich, nicht Opfer“ (Mt 9,13). Doch alle „Werke der B.“ – leibliche wie geistige – zählen erst „am Ende“ (Mt 25, 31–46), was falsche Heilssicherheit ausschließt. Jesu Gleichnis vom sprichwörtlich gewordenen „barmherzigen Samariter“ (Lk 10, 25–37) birgt theologisch-ethische Sprengkraft: Das spontane, rein humane Handeln des religiösen Außenseiters hebt kulturell-religiöse und Standes-Grenzen auf. Erst im Tun der B. wird man dem Anderen zum Nächsten. Unabhängig von religiösen Normen stiftet B. gegenseitige Beziehung, die lebensrettend wirkt.

Theologiegeschichtlich setzt nach der bibelnahen Patristik die Spannung zwischen (strafender) Gerechtigkeit und B. ein. Der praktisch-existenzielle Glaubensvollzug wird im Mittelalter zur Tugend bzw. „als Casus der Lohn- und Strafgerechtigkeit“ (Kasper 2012: 21) untergeordnet. Trotz Rückgriff der Reformatoren auf die Bibel (B. als Folge der Rechtfertigung) und pietistischer Ausweitung auf Fremde, Mitglieder anderer Religionen und Feinde wird B. nur als „moralische Pflicht“ eingefordert. Erst Karl Barth sieht Gottes B. wieder relational: „Gerade indem er barmherzig ist, ist er gerecht“ (zit. n. Bopp 1998: 160). Inkarnatorisch wird nach Karl Rahner in jeder authentischen Tat der B. Gott selbst angenommen und die ganze Wahrheit des Glaubens verwirklicht. Trotz der Enzyklika „Dives in misericordia“ (Johannes Paul II., 1980), die Erbarmen als tiefste Quelle der Gerechtigkeit fasst und an das Sprichwort „summa iustitia summa iniuria“ erinnert, ist B. in der neueren Dogmatik „ein sträflich vernachlässigtes Thema“ (Kasper 2012: 19). In der Ostkirche gilt Gottes barmherzige „Oikonomia“ (Heilsordnung) als soteriologisch-pastorales Prinzip, z. B. im Umgang mit Geschiedenen. Im römischen Kirchenrecht muss dieses Prinzip bloßer Rechtsapplikation auch inhaltliches Interpretations- und Handlungsprinzip werden. Mit der neuen, humanwissenschaftlich fundierten Sensibilität für Solidarität, „compassion“ und Empathie entdeckt die Praktische Theologie B. als Grunddimension und „Heilmittel“ (Johannes XXIII.) des pastoralen, missionarischen und diakonischen Handelns der Kirche wieder. Von der „Option für die Armen“ und dem „Lernziel Solidarität“ (Horst-Eberhard Richter) her erschließen die „Theologie der Befreiung“ (Jon Sobrino) und die „Sozialpastoral“ (Hermann Steinkamp) die universale Dimension der B. neu.

4. Sozialethische und politische Konsequenzen

Philosophie und Wissenschaft zeigen kritisch die „Ambivalenz zwischen echter zwischenmenschlicher Solidarität und mehr oder weniger subtilen Formen versteckter Machtausübung“ (Bopp 1998: 101), zwischen Nächstenliebe und verbrämtem Eigennutz, befreiender Hilfe und herabsetzendem Mitleid auf. Dennoch: Wie keine unmoderne Tugend im modernen Sozialstaat, steht sie für „Gefühle und Handlungsweisen von Menschen“ (Bopp 1998: 101), die sich von Not und Schmerz Anderer herausfordern lassen. Gesellschaftlich-kulturell muss daher die Fähigkeit, empathisch auf persönliche wie strukturelle Notlagen zu antworten, in Sozialisation, Bildung, Sozialpolitik und Religion umfassend gefördert werden. Sozialethisch ist festzuhalten: Autoritarismus und geringes Autonomiebewusstsein verhindern empathische Prosozialität und universale Solidarität. Im modernen Sozialstaat muss B. als organisierte Dienstleistung in politischer Anwaltschaft bes. für Verlierer der Modernisierung und ihre Subjektwürde eintreten und für eine solidarische Kultur der Teilhabe aller optieren.