Selbstverwaltung

1. Begriffsklärung

S. ist ein Organisationskonzept, das sowohl im Bereich der öffentlichen Verwaltung (insb. in Gestalt der kommunalen und funktionalen S.) als auch im gesellschaftlich-privaten Bereich (insb. bei Genossenschaften und Verbänden) zur Anwendung kommt. Es ist in einem allgemeinen Sinne dadurch gekennzeichnet, dass die Entscheidungskompetenz ganz oder teilweise den Entscheidungsbetroffenen zugewiesen wird. S. ist Gegenstand rechtswissenschaftlicher, soziologischer, ökonomischer und politikwissenschaftlicher Forschung. Es ist von ähnlichen Konzeptionen wie Selbstregulierung, Autonomie, dezentrale Organisation abzugrenzen.

2. Rechtswissenschaftliche Verständnisse

Das rechtswissenschaftliche Verständnis von S. ist durch ein übergreifendes formales Begriffsverständnis einerseits und ausgestaltende Regelungen auf mehreren Rechtsebenen andererseits geprägt.

Das formale Begriffsverständnis von S. qualifiziert dieses als „fachweisungsfreie Wahrnehmung eigener Angelegenheiten“ (Schreyer 1982: 105). Von einer eigenen Angelegenheit ist auszugehen, wenn die betreffenden Aufgaben einen erkennbaren Bezug zu den Entscheidungsadressaten besitzen. Bei den gebietsbezogenen S.s-Konzepten, v. a. den Kommunen, wird an die örtliche bzw. regionale Wirkung bzw. Verwurzelung der Aufgaben angeknüpft. Bei den personell oder funktionell ausgerichteten S.s-Konzepten (Kammern, Hochschulen, Sozialversicherungen usw.) wird an die jeweiligen Mitglieder als Adressaten von Entscheidungen abgestellt (Betroffenen-S.). Soweit die S. an das Grundeigentum anknüpft (Realkörperschaften, z. B. Wasser- und Bodenverbände, Jagdgenossenschaften), stellen die damit verbundenen Lasten und sozialen Pflichten die Anknüpfungspunkte dar. In Bezug auf die jeweiligen „eigenen Angelegenheiten“ wird durch die Etablierung von S. ein Gestaltungsspielraum eröffnet, der die Steuerung sowohl durch das Gesetz als auch durch die Ministerialverwaltung (Weisungsrechte) begrenzt und eigenverantwortliche Entscheidungsfreiräume eröffnet (S. als Dezentralisation). In Bezug auf diese Entscheidungsfreiräume wird zugleich die Legitimation und Verantwortlichkeit den Mitgliedern der S.s-Organisationen zugewiesen (S. als Legitimationskonzept).

In Bezug auf die rechtliche Verankerung von S. ist zwischen verfassungsrechtlich begründeten und geschützten S.s-Trägern einerseits und einfachgesetzlichen Ausgestaltungen von S. andererseits zu unterscheiden.

Der Begriff der S. wird teilweise synonym mit Autonomie verwendet, wobei dieser Begriff ungenauer ist, weil er nur die Unabhängigkeit gegenüber der Ministerialverwaltung zum Ausdruck bringt. S. ist eine von mehreren Erscheinungsformen dezentraler Verwaltungsorganisation. Von Selbstregulierung wird schließlich gesprochen, wenn privaten Verbänden, etwa Wirtschaftsverbänden, die Normsetzung überlassen wird.

3. Verfassungsrechtliche Regelungen

Auf der Ebene des Verfassungsrechts ist an erster Stelle die Garantie der kommunalen S. in Art. 28 Abs. 2 GG und den entsprechenden Regelungen der Landesverfassungen zu nennen. Sie bezieht sich in erster Linie auf die Gemeinden und Städte und garantiert diesen das Recht, in Bezug auf einen bestimmten Aufgabenkreis („Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“) das Recht der eigenverantwortlichen Regelung (S.s-Recht). Für die Gemeindeverbände wird in Satz 2 ohne Schutz eines Aufgabenbestandes ebenfalls das S.s-Recht gewährleistet. Satz 3 erstreckt diese Garantien auf das Recht finanzieller Eigenverantwortung. Ein weiteres prägendes Element der kommunalen S. folgt aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 und 3 GG. Danach muss es ein direkt gewähltes kollegiales Leitungsorgan geben, durch das das personelle Element (Selbstorganschaft) abgesichert wird.

Neben der kommunalen S. wird auf der Ebene des Landesverfassungsrechts das S.s-Recht der Universitäten und Hochschulen verfassungsrechtlich garantiert, wobei diese Garantie in Bezug auf die Rechtsstellung der Professoren durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich unterstützt wird. Die NdsVerf schützt in Art. 57 Abs. 1 das S.s-Recht gesetzlich eingerichteter S.s-Körperschaften und erstreckt auch die Konnexitätsregelung in Absatz 4 auf die nicht kommunalen S.s-Träger.

Schwache verfassungsrechtliche Absicherungen lassen sich zudem für die soziale S. aus Art. 87 Abs. 2 GG ableiten.

4. Einfachgesetzliche Regelungen

Die meisten S.s-Träger beruhen auf einfachgesetzlichen Regelungen mit der Folge, dass auch ihr S.s-Recht nicht qualifiziert verfassungsrechtlich geschützt ist. Dazu gehören die Sozialversicherungsträger (Renten-, Kranken-, Unfallversicherungen), die Wirtschafts- und Berufskammern und die sogenannten Realkörperschaften. Ihre Identifikation als S.s-Träger erfolgt i. d. R. mit Hilfe der Regelungen zur Staatsaufsicht, die auf eine Rechtsaufsicht beschränkt wird. Von einem S.s-Recht wird in den gesetzlichen Regelungen nur ausnahmsweise ausdrücklich gesprochen.

S.s-Rechte sind vereinzelt auch bei Ausschüssen oder Förderanstalten (z. B. der Filmförderung, BVerfGE 135,155) anzutreffen. Dabei geht es meist um die Ermöglichung staatsferner Entscheidungen in grundrechtsrelevanten Bereichen.

5. Autonomie und Selbstverwaltung im Bereich der Gesellschaft

Die Autonomie der als K.d.ö.R. verfassten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV ist nicht als S.s-Recht, sondern als grundrechtliche Freiheit zu qualifizieren. Das gleiche gilt für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Das S.s-Recht in den eingetragenen Genossenschaften sowie den BGB-Vereinen stellt eine Entfaltung des S.s-Gedankens im Bereich des Privatrechts dar, ist aber systematisch eigenständig zu behandeln.

6. Historische Entwicklungen

Idee und Konzept der S. finden ihren historischen Ursprung im frühen 19. Jh. und einer Rezeption und Transformation von Entwicklungen in Großbritannien, die v. a. als Vorbild für die Entwicklung der kommunalen S. wirksam waren. Zunächst für die Städte, Gemeinden und Landkreise (Kreis) und ab Mitte des 19. Jh. für die Wirtschafts- und Berufskammern wurde die Idee der S. stufenweise umgesetzt und zu einem bis heute prägenden Merkmal der deutschen Staats- und Verwaltungsorganisation ausgebaut, das u. a. die Bereiche der Sozialverwaltung und der Wirtschaftsverwaltung bestimmt und einen im internationalen Vergleich einmaligen dezentralen Verwaltungsaufbau etabliert.

7. Systemfunktionen von Selbstverwaltung

Um diese Gestaltungspraxis zu verstehen, erweist sich der Blick auf die Systemfunktionen von S. als hilfreich. Fünf Gesichtspunkte können dabei unterschieden werden. Erstens wird durch S. die aktive Einbeziehung der Bürger in die Verwaltung ermöglicht und damit Partizipation, Legitimation und Akzeptanz der Entscheidungen erhöht. Durch die mit der S. verbundene Dezentralisation wird die Berücksichtigung örtlicher und regionaler Besonderheiten sowie unterschiedlicher sachlicher Prioritäten ermöglicht. Zugleich wird durch die Staatsaufsicht die Einbindung in das Staatsganze gewährleistet. Durch die Einbeziehung der Betroffenen wird zudem die Wissensgenerierung der Entscheidungen in der S., mittelbar durch die Beratung staatlicher Stellen, durch die S. aber auch die gesamtstaatliche Wissensgenerierung verbessert. Schließlich wird durch die grundsätzliche Selbstfinanzierung der S. der Staatshaushalt entlastet.

8. Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte

Während die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Gewährleistungen in Bezug auf die kommunale S. durch die ausdrückliche Verankerung in Art. 28 Abs. 2 GG und den Landesverfassungen bis auf wenige Streitfragen geklärt sind, besteht bei der sogenannten funktionalen S. ein weitreichender Klärungsbedarf. Die Rechtsprechung des BVerfG hat dazu in den letzten Jahren wichtige Klärungen vorgenommen.

Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Problematik ist die Vereinbarkeit der personellen demokratischen Legitimation der Leitungsorgane der S.s-Körperschaften durch die Mitglieder mit dem Demokratieprinzip (Demokratie), das grundsätzlich eine auf das Staatsvolk rückführbare ununterbrochene Legitimationskette verlangt (BVerfGE 83,60). Das BVerfG hatte in den ersten Jahrzehnten mehrfach pauschal die Vereinbarkeit der S. mit dem Demokratieprinzip festgestellt (BVerfGE 33,125 [161 f.]). Erst die Wasserverbands-Entscheidung aus dem Jahr 2001 (BVerfGE 107,59) lieferte dann eine dogmatisch differenzierende Begründung, die durch weitere Entscheidung fortgeführt und vertieft wurde (u. a. BVerfGE 146,164). Die Kernaussagen dieser Rechtsprechung lauten: „1. Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung ist das Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 2 GG offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaubt, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. 2. Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt das demokratische Prinzip. Der Gesetzgeber darf ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden. 3. Verbindliches Handeln mit Entscheidungscharakter ist den Organen von Trägern funktionaler Selbstverwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht nur gestattet, weil und soweit das Volk auch insoweit sein Selbstbestimmungsrecht wahrt. Das erfordert, dass die Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Organe in einem von der Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt“ (BVerfGE 107,59). Bislang haben sich alle gesetzlichen Regelungen, die das BVerfG zu überprüfen hatte, in diesem Rahmen bewegt.

Die zweite verfassungsrechtliche Fragestellung betrifft die Vereinbarkeit der in fast allen Trägern funktionaler S. anzutreffenden gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft mit den Grundrechten. Die Grundidee der funktionalen S., die Betroffenen-Partizipation, verlangt die Einbeziehung aller Gruppenangehörigen (Berufsgruppe usw.) in die Mitgliedschaft. Fraglich ist, ob und in welches Grundrecht damit eingegriffen wird.

Das BVerfG hat sehr früh entschieden, dass in diesen Fällen nicht Art. 9 Abs. 1 GG (negative Vereinigungsfreiheit) als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist, weil dieses Grundrecht sich nur auf die Gründung privatrechtlicher Vereinigungen bezieht und mit der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft die Mitwirkung in einem Verwaltungsträger ermöglicht werden soll (BVerfGE 10, 89 – st. Rspr., zuletzt BVerfGE 146,64). Da mit der Mitgliedschaft im Regelfall aber Beitragslasten verbunden sind, weil die S. auch Selbstfinanzierung bedeutet, wurde die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt (BVerfGE 146,164 [194]). Die Rechtfertigung der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft unterliegt dabei den folgenden weiteren Anforderungen: Erstens muss die Organisation einem legitimen öffentlichen Zweck dienen, z. B. der Förderung des Berufsstandes und der Qualitätskontrolle. Zweitens muss für die Verwirklichung des Zwecks die Mitgliedschaft aller Gruppenmitglieder erforderlich sein. Drittens müssen die mit der Mitgliedschaft verbundenen (finanziellen) Belastungen verhältnismäßig sein. Bislang wurde in keinem Fall eine Grundrechtsverletzung durch das BVerfG festgestellt. Fehler im Bereich der Beitragserhebung sowie der Beitragsverwendung werden regelmäßig durch die Verwaltungsgerichte korrigiert (siehe BVerwGE 153,314 sowie BVerfGE 111,191 [218]).

9. Verwaltungsrechtliche Gesichtspunkte

Aus der verwaltungsrechtlichen Perspektive ist S. materiell-rechtlich durch ein weites Ermessen in Bezug auf das Ob und Wie der Aufgabenwahrnehmung und organisationsrechtlich durch die Rolle des Ehrenamtes geprägt. Zu beachten ist dabei, dass der Gesetzgeber für einzelne Aufgabenbereiche zwingende Vorgaben (Pflichtaufgaben) regeln kann, denn sowohl die kommunale als auch die funktionale S. sind nur im Rahmen der Gesetze gewährleistet, so dass zwingende gesetzliche Vorgaben für die Aufgabenwahrnehmung nicht generell ausgeschlossen sind.

In der gesetzlichen Einräumung von Ermessen kommt die Zurücknahme des gesetzlichen Steuerungsanspruchs zum Ausdruck, der den S.s-Trägern die Gestaltungsspielräume eröffnet, die sie eigenverantwortlich ausfüllen können. Deshalb sind auch die Maßstäbe und Instrumente der Staatsaufsicht auf eine Gesetzmäßigkeitskontrolle, die auch das von den S.s-Trägern erlassene Satzungsrecht (Satzung) einbezieht, reduziert; eine Fachaufsicht, die sich auf die Zweckmäßigkeit der Aufgabenwahrnehmung bezieht, ist ausgeschlossen. In Bezug auf diese Gestaltungsfreiheit ist auch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auf die Beachtung der gesetzlichen Vorgaben des Verwaltungshandelns einschließlich des Zwecks des Ermessens und seiner Grenzen (§ 40 VwVfG) beschränkt (§ 114 VwGO). Damit in der Ermessensbetätigung der spezifische Sachverstand der zur S. berufenen Berufs- oder Personengruppen zum Ausdruck kommt, werden die meisten Leitungsorgane der S.s-Träger durch ein Ehrenamt (Freiwilligenarbeit) wahrgenommen. Das gilt für die Mitglieder der kommunalen Vertretungsorgane (Gemeinde- und Stadtrat, Kreistag) ebenso wie für die Voll- oder Mitgliederversammlungen der Träger funktionaler S. Die ehrenamtliche Wahrnehmung der Leitungsaufgaben hat keine Absenkung der rechtlichen Anforderungen zur Folge, die zu beachten sind (§ 83 VwVfG). Vielmehr müssen sich die ehrenamtlich tätigen Personen entweder selbst die notwendige Sachkunde erwerben oder sich z. B. durch die Mitarbeiter der hauptamtlichen Verwaltung sachkundig beraten lassen. Auch in haftungsrechtlicher Hinsicht (Haftung) besteht grundsätzlich keine Privilegierung. Soweit mit der Wahrnehmung des Ehrenamtes ein Verdienstausfall oder bes. Aufwendungen verbunden sind, besteht ein Entschädigungsanspruch (siehe § 85 VwVfG), der nicht sozialversicherungspflichtig ist.

Für den Bereich der Wirtschafts- und Berufskammern hat die Rechtsprechung aus der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft als kompensatorisches Recht einen allgemeinen Anspruch auf Einhaltung der gesetzlichen Grenzen der Aufgabenzuweisung abgeleitet, der jedem einzelnen Mitglied einen weitreichenden Kontrollanspruch zuweist (BVerwGE 137,171). Einen vergleichbaren Kontrollanspruch des Einzelnen gibt es in anderen Bereichen der Verwaltung nicht.

Während die kommunale S. durch Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG auch hinsichtlich ihrer Finanzierung verfassungsrechtlich und landesverfassungsrechtlich auch die Hochschulen abgesichert sind, sind die meisten Träger funktionaler S. auf eine Finanzierung durch Mitgliederbeiträge angewiesen. Der S. korrespondiert insoweit eine Selbstfinanzierung. Die Rechtsprechung prüft diese auf ihre Angemessenheit im Hinblick auf die mit der Mitgliedschaft verbundenen Vorteile (BVerfGE 146,164; zur GKV BVerfGE 115,25).

S.s-Träger unterliegen grundsätzlich auch der Rechnungshofkontrolle gemäß Art. 114 Abs. 2 GG, §§ 105 ff., 111 f. BHO/LHO, soweit keine gesetzlichen Sonderregelungen greifen (BVerwGE 98,163). Bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind die Besonderheiten des S.s-Rechts zu berücksichtigen.