Soziale Rolle

Der Begriff der s.n R. bezeichnet ein Bündel von Erwartungen, die an den Inhaber einer typisch bestimmbaren Position innerhalb der Gesellschaft gerichtet werden. Voraussetzung hierfür ist, dass jeder Mensch einen Platz in der Gesellschaft einnimmt, in dem unterschiedliche Statuspositionen zusammenlaufen. Man ist dann Kind, Berufsmensch, Vereins- oder Parteimitglied, Staatsbürger, Nachbarin usw., und mit jeder dieser Eigenschaften sind bestimmte Erwartungen verbunden. Die Geschichte des soziologischen R.n-Konzepts nimmt ihren Anfang in der philosophischen Subjekt-Welt-Unterscheidung des 19. Jh. – Wilhelm Dilthey hatte sie formuliert, Georg Simmel weitergeführt. Zu dieser Zeit ist allerdings noch nicht von s.n R.n die Rede; der Begriff kommt in den Vereinigten Staaten der 1920er Jahre bei George Herbert Mead und in den 1930er Jahren bei Ralph Linton auf. Dieser bringt den Begriff mit dem Innehaben sozialer Statuspositionen in Verbindung und versteht unter einer R. die handlungsbezogene Ausführung eines jeden Status. R.n begreift er darüber hinaus als entweder von vornherein zugeschrieben oder im Laufe des Lebens erworben.

Vermutlich kommt der sozialwissenschaftliche Gebrauch des Begriffs aus dem Theater. Die Parallele von Bühne und dem Theater des Lebens findet sich schon bei William Shakespeare, der in seinem Stück „Wie es euch gefällt“ festhält: „Die ganze Welt ist Bühne, Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler“ (Shakespeare 2018: 159). Auch wenn der metaphorische Gebrauch an Grenzen stößt, lassen sich viele Dimensionen des R.n-Begriffs bzw. Etappen der teilweise kontroversen wissenschaftlichen Diskussion gut veranschaulichen. So muss jede R. gelernt werden. Im sozialwissenschaftlichen Zusammenhang geht es hier um Sozialisation, die damit beginnt, dass das Kleinkind typische Verhaltensweisen aus seinem nächsten Umfeld nachahmt. Es übernimmt dabei zunächst spielerisch die R.n anderer, übt sie ein und lernt sie zu verstehen. Später wird es sich in die R.n anderer hineinversetzen, wenn es erfolgreich mit ihnen interagieren will. Der Schauspieler wiederum ist i. d. R. an bestimmte Vorgaben gebunden, die entweder aus seiner R.n-Anweisung, seinem Text oder den Anweisungen durch die Regie hervorgehen. In der Soziologie wird diese Abhängigkeit des R.n-Trägers von gesellschaftlichen Strukturvorgaben als R.n-Determination diskutiert. Dies geht auf Überlegungen von Talcott Parsons zurück, der R.n als Bestandteile des sozialen Systems und damit als gesellschaftliche Erwartungen versteht. Sie ergeben sich aus kulturellen Werten, sind auf Bedürfnisse gestützt und auf soziale Interaktionen ausgerichtet. Ralf Dahrendorf reaktiviert im Anschluss daran den R.n-Begriff für die deutsche Diskussion und stellt ihn in den Mittelpunkt seines Menschenbildes vom homo sociologicus. Diesem ist die Gesellschaft mit ihrem komplexen Erwartungssystem, das an jede Position geknüpft ist, eine „ärgerliche Tatsache“ (Dahrendorf 1974: 20). Abhängig von der ordnungserhaltenden Relevanz eines Handlungsmusters kann, soll oder muss er sich den gesellschaftlichen Erwartungen beugen – umso mehr, als mit Blick auf die Vielzahl an Erwartungszusammenhängen, in denen Menschen im Alltag stehen, Konflikte innerhalb und zwischen sozialen R.n unausweichlich sind (Intra- und Inter-R.n-Konflikt). Eine Interpretation des R.n-Konzepts i. S. v. Strukturtheorien übersieht jedoch leicht, dass keinesfalls jede Schauspielerin ihre R. auf identische Weise und exakt nach äußerlichen Vorgaben spielt. Wie eine Bühnen-R. ausgefüllt und ausgeführt wird, hängt nicht nur von Erwartungen ab, bei deren Enttäuschung mit Sanktionen – der Regie oder des Publikums – zu rechnen ist. Zum R.n-Spiel gehören auch die individuelle Interpretation, Emotionen ebenso wie das persönliche Engagement. Übertragen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit mögen R.n zwar Erwartungszusammenhänge darstellen – aber nur wenige R.n sind so strikt vorgegeben, dass es keine individuellen Spielräume gäbe, wie die jeweilige R. auszugestalten sei. Allein das Vorhandensein von Sanktionen zeigt, dass gesellschaftliche Kräfte aufgewandt werden müssen, um ein Mindestmaß an Erwartbarkeit oder Planungssicherheit zu gewährleisten.

Problematisch wird die Theatermetaphorik jedoch an zwei Stellen. Zum einen finden sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kaum die Stereotypen des Dramas; s. R.n sind weitaus komplexer und nicht leicht zu bestimmen – es bedarf einer differenzierten R.n-Analyse. So kann von Status- oder Positions-R.n ausgegangen werden, die eine gewisse Zahl an R.n-Merkmalen beinhalten. Die Lehrer-R. umfasst typische Beziehungen zu Schülern, Kolleginnen, Vorgesetzten und Eltern. Darüber hinaus hat, wer die Berufs-R. des Lehrers ausfüllt, im Alltag mannigfaltige andere Status-R.n wie die der Staatsbürgerin, des Vaters oder der Mittelschichtangehörigen inne.

Zum anderen sind soziale Prozesse in ihrem Ablauf nicht vorgegeben und die Akteure nicht auf ein eng definiertes Bündel an R.n-Aspekten festgelegt. R.n-Trägern haften die meisten ihrer R.n nicht permanent an, und ständig kommen sie in Situationen, die sie in Interaktionszusammenhänge bringen, welche von Status und Position völlig unabhängig sein können – etwa die R. des Verkehrsteilnehmers, der Gottesdienstbesucherin oder des Liebhabers. Die Beschäftigung mit Situations-R.n ist eng mit den Forschungen Erving Goffmans verbunden, der auf das Vorhandensein alltagsspezifischer R.n-Arrangements in Interaktionsritualen hingewiesen hat.

In der deutschen Soziologie hat die These des homo sociologicus eine kontroverse Diskussion ausgelöst, die zwei Stoßrichtungen aufweist: So geht es einerseits kritisch um die Frage, ob der in Anlehnung an den homo oeconomicus konzipierte homo sociologicus für ein soziologisch geprägtes Menschenbild stehen könne. Andererseits wird die Kritik an der Trennung von Individuum und einer ihm äußerlichen R. laut, was der Prämisse einer (Selbst-) Entfremdung des Subjekts gegenüber jedweder Gruppe bzw. einer analytischen Unterordnung der Person unter die Determinierung durch gesellschaftliche Strukturmomente gleichkomme. Überdies stellt sich die Frage, inwieweit das R.n-Konzept überhaupt als sozialtheoretischer und v. a. operationalisierbarer Begriff einen messbaren Gegenstand zu konstituieren vermag. Der zweite Angriff auf rollentheoretische Argumentationsmuster erfolgt vonseiten neomarxistischer Theoretiker, die vorbringen, dass R.n-Theorien die determinierende Kraft gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse nicht berücksichtigten.

Nach diesen Auseinandersetzungen ebbt die Diskussion um den Begriff der s.n R. ab. Das Ergebnis muss ambivalent bewertet werden. Einerseits ist das Konzept Bestandteil des Kanons soziologischer Grundbegriffe und dient Studierenden als griffiges Werkzeug zum Einüben des fachspezifisch distanzierten Blickes auf standardmäßiges Verhalten in kontextabhängig typischen Situationen. Andererseits scheint, wie Hartmut M. Griese feststellt, die Diskussion ausgereizt zu sein. Möglicherweise hatten zuerst die Konjunktur und die darauffolgende Trivialisierung des Begriffs zu Kontroversen geführt, nach deren Ende das Konzept zumindest als problematisch, seine Verwendung als riskant gesehen wurde. Kurz: Beim soziologischen R.n-Begriff handelt es sich um ein fachgeschichtlich prominentes Konzept, das – zumindest aus sozialtheoretischer Sicht – bis auf Weiteres unter Quarantäne steht.