Individualismus

Einen Beitrag zum Stichwort „I.“ findet man in früheren Aufl.n des StLs der Görres-Gesellschaft nur in Bd. 2 der fünften Aufl., verfasst von Johannes Messner. Bereits im Einleitungssatz seines Beitrages, in dem er dem I. eine „übertriebene Betonung der Einzelpersönlichkeit u. ihrer Freiheit gegenüber überpersönlichen Bindungen“ (Messner 1927: 1459) anlastet, bringt der Autor die in der katholischen Soziallehre vorherrschende kritisch-ablehnende Sicht des mit dem Liberalismus identifizierten I. zum Ausdruck. So stellt J. Messner in dem ebenfalls von ihm für das StL verfassten Beitrag zum Liberalismus fest: „Die Weltanschauung des Liberalismus muss vom Standpunkt der katholischen Weltanschauung abgelehnt werden […], weil sie […] einen widerchristlichen Individualismus vertritt“ (Messner 1929: 985). Im gleichen Sinne spricht Clemens Bauer, der Verfasser des in der sechsten Aufl. des StLs erschienenen Beitrages zum Liberalismus von der „Spannung zwischen der liberalen Sozialphilosophie des Individualismus und der katholischen Soziallehre“ (Bauer 1960: 380).

Als die katholische Soziallehre kennzeichnend wird meist betont, dass sie, wie es in der Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ heißt, „die Klippen gleicherweise des Individualismus wie des Kollektivismus“ (1931: 110) umschifft, dass sie die beiden „Irrwege“ des I. und des Kollektivismus vermeidet. Der Mittelweg zwischen den beiden „Irrwegen“ wird dabei gemeinhin, anknüpfend an den von Heinrich Pesch geprägten Begriff, als Solidarismus bezeichnet, eine Sichtweise, die nach Anton Rauscher „in der Sozialverkündigung der Kirche […] und in der katholischen Sozialwissenschaft als Prinzip der Gesellschaft anerkannt“ (Rauscher 1988: 1192) ist.

Nun deuten eingefügte qualifizierende Attribute – wenn etwa von einem „extremen Individualismus“ (Nell-Breuning 1980: 165), einer „übertriebene[n] Betonung der Geltung der Einzelpersönlichkeit“ (Messner 1929: 1459) oder einer „Überbetonung des Individuums gegenüber der Gesellschaft“ (Nell-Breuning 1956: 128) die Rede ist – darauf hin, dass es den Vertretern der katholischen Soziallehre nicht um eine Kritik am I. schlechthin geht, sondern um die Ablehnung bestimmter unter diesem Namen vertretener Auffassungen. Auf die Notwendigkeit einer Differenzierung deutete Oswald von Nell-Breuning hin, als er von den „hervorragenden Leistungen“ (Nell-Breuning 1956: 218) sprach, die „neoliberale Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere auch die sogenannt Freiburger Schule“ mit ihrer Betonung der institutionellen Grundlagen einer Freiheitsordnung erbracht hätten. Zwar fügte er einschränkend hinzu, auch ihnen sei es nicht gelungen, sich „der individualistischen und formalistischen Verfälschungen des alten Liberalismus“ (Nell-Breuning 1956: 218) zu entledigen, betonte aber, dass die „Entwicklung des Neo- und Ordo-L. […] noch nicht abgeschlossen“ (Nell-Breuning 1956: 220) sei. Der Frage, wie die traditionellen Einwände der katholischen Soziallehre gegen den I. und Liberalismus im Lichte jüngerer Theorieentwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften, insb. der neuen Institutionenökonomik zu bewerten sind, hat Clemens Dölken sich in seinem Buch „Katholische Sozialtheorie und liberale Ökonomik“ (Dölken 1992) gewidmet, in dem er anmahnt, die dem I. angelasteten „Übertreibungen“ müssten „im jeweiligen Ergebnis eigens nachgewiesen, nicht aprioristisch behauptet werden“ (Dölken 1992: 47).

Die Auffassungen, die Vertreter der katholischen Soziallehre bei ihrer Kritik des I. vornehmlich im Auge zu haben scheinen, kann man dessen möglichen Interpretationen als ontologischen, methodologischen und normativen I. zuordnen. Ein ontologischer I. ist offenbar gemeint, wenn J. Messner davon spricht, es werde „nur dem Individuum Realität, nicht aber dem Gesellschaftsganzen […] zuerkannt“ (Messner 1927: 1461), oder wenn O. von Nell-Breuning feststellt, das „einzig Wirkliche“ (Nell-Breuning 1956: 129) für den I. seien „die zutiefst unverbundenen, alleinstehenden […] Einzelmenschen“, er wolle besagen: „Das Ganze ist nicht mehr als die Summe der Teile“ (Nell-Breuning 1956: 134). Gegen eine solche ontologische Kritik des I. ist zweierlei einzuwenden. Zum einen wird man wohl kaum Autoren benennen können, die in der Tat die Gesellschaft sprichwörtlich als bloße Addition von Individuen betrachten und etwa die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen ignorieren würden. Vertretern institutionenökonomischer Ansätze kann man dies gewiss nicht vorwerfen. Zum anderen erschöpfen sich ontologische Dispute allzu leicht in einem fragwürdigen Essentialismus, wie er bei O. von Nell-Breuning anklingt, wenn er für den Solidarismus beansprucht, anders als der I. „den Wesens- und Seinsverhalt, die Tatsachen, so zu sehen, wie sie wirklich sind“ (Nell-Breuning 1956: 361).

Gesteht man zu, dass unser Wissen über die Erfahrungswelt in nichts anderem bestehen kann als den Theorien, die wir darüber aufstellen, dann ist fraglich, worauf sich der Anspruch stützen soll, wir könnten uns auf diesen Theorien vorgängige Erkenntnisse über „Wesens- und Seinsverhalte“ stützen. Dann kann die Kritik sinnvollerweise nur dem sozialtheoretischen Ansatz des I. gelten, also einem methodologischen I., der Forderung, soziale Phänomene sollten ausgehend von Annahmen über das Verhalten der beteiligten Individuen erklärt werden. Auf diesen zielt O. von Nell-Breunings Vorwurf, im I. werde das „gesellschaftliche Zusammenleben […] rein mechanistisch verstanden und gewertet“ (Nell-Breuning 1956: 129), so wie in „der kinetischen Gastheorie die Moleküle eines Gases“ (Nell-Breuning 1956: 129) betrachtet werden. Ähnlich hatte auch J. Messner moniert: „Die individualistische Gesellschaftstheorie atomisiert die Gesellschaft in lauter isolierte, sich selbst genügende (autarke) u. nur sich selbst verantwortliche […] Individuen, deren Verbindung lediglich nach Art eines Mechanismus […] besteht“ (Messner 1927: 1460). Diese Kritik mag auf gewisse Varianten ökonomischer Theorie zutreffen, modernen institutionenökonomischen Ansätzen, die gerade die Rolle sozialer Normen und Regeln im Zusammenleben der Menschen betonen, wird man schwerlich eine solch „rein mechanistische“ Sicht vorwerfen können.

Auf bes. scharfe Kritik seitens der katholischen Soziallehre ist der normative I. gestoßen. Als Kernelement des Liberalismus wird ihm angelastet, er mache „die schrankenlose Freiheit im Verfolg der wirtschaftlichen Interessen zum obersten Prinzip der Wirtschaft“ (Messner 1929: 981), er befürworte „die weitgehend ungehemmte Verfolgung dessen, was die Menschen für ihr ‚wohlverstandenes Interesse‘ halten“ (Nell-Breuning 1956: 133). Auch für diesen Vorwurf gilt, dass er zwar im Hinblick auf bestimmte Autoren eine gewisse Berechtigung gehabt haben mag, generell gilt jedoch für die Vertreter eines I. und Liberalismus, dass sie nicht einer „schrankenlosen“ Freiheit das Wort reden, sondern deren Einhegung durch eine rechtliche Rahmenordnung als selbstverständlich voraussetzen. Auch der von J. Messner auf den Liberalismus gemünzte Vorwurf, es liege „in der Konsequenz der Prinzipien des Individualismus, den Eigennutz schließlich zum obersten Moralprinzip zu machen“ (Messner 1929: 981), entbehrt der Berechtigung. Die Vertreter einer individualistischen Sozialtheorie, von den schottischen Moralphilosophen bis zu ihren heutigen institutionenökonomischen Nachfolgern, erklären die Eigeninteressiertheit menschlichen Handelns nicht zum „Moralprinzip“, sondern betrachten sie schlicht als eine anthropologische Gegebenheit, von der sie bei ihren Erklärungen sozialer Phänomene ausgehen. Sie unterstellen auch keineswegs, dass die „ungehemmte Verfolgung“ der Einzelinteressen zu sozial wünschenswerten Ergebnissen führt. Sie betonen vielmehr gerade die Notwendigkeit eines geeigneten Regelrahmens, soll den eigeninteressierten Bestrebungen der Einzelnen eine mit den Gemeininteressen verträgliche Richtung gegeben werden. In diesem Sinne kann auch der von O. von Nell-Breuning erhobene Vorwurf, für den I. sei „‚Gesamtinteresse‘ nicht mehr als ein leerer Sammelname“ (Nell-Breuning 1956: 132), nicht unwidersprochen bleiben. Wogegen sich Vertreter eines normativen I. wenden, ist eine Interpretation des Gemeinwohls, die sozialen Kollektiven ein von den Einzelinteressen abgehobenes „Gesamtinteresse“ zuschreibt. Sie betonen, wie dies in besonderer Deutlichkeit in der konstitutionellen Ökonomik (Neue Politische Ökonomie) von James McGill Buchanan geschieht, dass, will man kollektivistische Hypostasierungen vermeiden, unter Gemeininteresse sinnvoll nichts anderes verstanden werden kann, als die Interessen, die allen Beteiligten gemeinsam sind. Damit bleiben aber die Interessen der Einzelnen der einzige Maßstab, an dem zu messen ist, was als Gesamtinteresse gelten kann. Im Kontrast zu einer dem Liberalismus unterstellten „Leugnung der Berechtigung jeder Bindung der Einzelmenschen“ (Messner 1929: 987) ist für den vertragstheoretischen I. (Vertragstheorie) J. M. Buchanans der Gedanke zentral, dass es im gemeinsamen Interesse von Individuen liegt, sich an Regeln zu binden, die ihnen ein wünschenswerteres Zusammenleben ermöglichen als es ansonsten der Fall wäre.

Nimmt man, wie im Vorhergehenden geschehen, die traditionell in der katholischen Soziallehre gegenüber dem I. vorgebrachten Einwände genauer in Augenschein, so zeigt sich, dass Anlass zu ihrer Überprüfung besteht. Auf einen methodologischen I., wie er der Institutionenökonomik zugrunde liegt, und auf einen normativen I. Buchananscher Prägung treffen sie jedenfalls nicht zu. C. Dölken schließt denn auch sein Buch mit dem Satz: „Im erweiterten Kontext der modernen Institutionenökonomik wird für eine Vereinbarkeit der – modifizierten – Ansätze von Katholischer Soziallehre und liberaler Ökonomik plädiert“ (Dölken 1992: 191).