Staatsrecht

1. Begriff und Funktionen

S., ein in die romanischen Sprachen und das Englische kaum übersetzbarer Begriff, wird – wie der konkurrierende Begriff „Verfassungsrecht“ (im materiellen Sinne) – heute als Gesamtheit der Normen verstanden, die die Grundzüge des Staates regeln, d. h. Staats- bzw. Verfassungsorgane sowie Aufbau und Ausrichtung des Staates im Ganzen. Auf den Rang dieser Normen (etwa: Verfassungsrang, Rang einfacher Gesetze, Rechtsverordnungen, Geschäftsordnungen) kommt es dabei nicht an. S. geht daher in einer Hinsicht über das Verfassungsrecht im formellen Sinne hinaus. So zählen zum S. des Bundes neben dem GG bspw. das PartG, das BWahlG, die BWO, die Geschäftsordnungen der Bundesorgane, das BVerfGG; entsprechendes gilt für das jeweilige Landes-S. Auch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte gehört – je nach Einordnung: als Rechtsquelle oder Rechtserkenntnisquelle – zum S., ferner das Verfassungsgewohnheitsrecht (Gewohnheitsrecht). Auf der anderen Seite kann das S. hinter dem Verfassungsrecht im formellen Sinne zurückbleiben, wenn nämlich Verfassungen Einzelfragen regeln, die bei materieller Betrachtung verwaltungs- oder bürgerlich-rechtlichen Charakter haben (wie die Nichtigkeitsklausel in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG). – Im Begriffswettstreit mit „Verfassungsrecht“ (im materiellen Sinne) ist „S.“ im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte mehr und mehr zurückgefallen; dabei wird häufig (zu undifferenziert) auf den Vorrang der Verfassung vor dem Staat verwiesen. Funktionen des S.s sind die „Formung, Bindung, Limitierung“ (Dreier 2001: 59) staatlicher Macht und damit ihre Legitimation, wenn nicht sogar ihre Konstituierung.

2. Historische Aspekte

Im letzten Drittel des 17. Jh. entstand durch Werke wie Ulricus Hubers „De Jure Civitatis libri tres“ (1672) ein „Allgemeines S.“ (oder „philosophisches S.“) als staatsbezogenes Naturrecht; es trug wesentlich zur Verrechtlichung des neuzeitlichen Staates bei. Demgegenüber war der im ersten Drittel des 18. Jh. aufkommende Begriff „Staats-Recht“ die Bezeichnung des positiven Verfassungsrechts, etwa bei Friedrich Gladov, Heinrich Burchard Meder und insb. bei Johann Jakob Moser („Teutsches Staats-Recht“, 1737–54). Auf Reichsebene bestand es aus den leges fundamentales (wie der „Goldenen Bulle“ oder dem Ewigen Landfrieden), Verträgen, Lehnrecht u. a. Auch nach 1806 blieb der Begriff des S.s erfolgreich und fand (etwa bei Johann Ludwig Klüber) auf den Rheinbund Anwendung. Demgegenüber verlor das Allgemeine S. im 19. Jh. an Bedeutung; wegweisend wurden auf die juristische Methode ausgerichtete Werke, insb. Paul Labands „Staatsrecht des Deutschen Reiches“ (3 Bde., 1876–82). Während dem Begriff des S.s in dieser Zeit auch Normen unterfielen, die einfache Gerichte und Behörden adressierten (wie Gerichtsverfassungsrecht, Prozessrechte und Verwaltungsrecht), wurden diese Materien schrittweise aus dem S. ausgesondert, so dass S. in der Weimarer Zeit meist als Verfassungsrecht im materiellen Sinne verstanden wurde. Im von Gerhard Anschütz und Richard Thoma herausgegebenen „Hdb. des Staatsrechts“ (2 Bde., 1930–32) stellten die berühmtesten Staatsrechtler der Zeit „das Ganze des deutschen Reichs- und Landesstaatsrechts“ (Anschütz/Thoma 1930: V) dar, wobei das Reichs-S. dem Landes-S. weit rigidere Vorgaben machte, als es heute Art. 28 GG tut. Sowohl auf Länder- wie auf Reichsebene waren nebeneinander die Begriffe „S.“ und „Verfassungsrecht“ geläufig. Dies galt auch für das Dritte Reich, in dem die WRV und das bisherige S. – ohne förmliche Aufhebung – nicht mehr galten, aber auch nicht durch ein neues S. ersetzt wurden, sondern der Polykratie und Willkür des dual state weichen mussten: „In dieser form- und normentleerten Welt absoluter personaler Allgewalt reduzierte sich das gesamte Staatsrecht auf einen einzigen Satz: es gilt der Wille des Führers“ (Dreier 2001: 59). Das S. des Neuanfangs war und ist durch die ausdrückliche Bindung aller drei Staatsgewalten an die Grundrechte gekennzeichnet; diese treten z. T. an den Beginn der Verfassungen (HessVerf 1946, GG 1949) und werden durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit durchsetzbar. Art. 20 GG bringt das S. der Bundesrepublik mit der Formel „sozialer und demokratischer Bundesstaat“ auf den Begriff. Sowohl das Öffentliche Recht wie auch die darauf bezogene Wissenschaft differenzieren sich stark aus, doch sind Verfassungs- und Verwaltungsrecht durch die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts miteinander verklammert. In der akademischen Befassung rückte seit den 1960er Jahren das S. zugunsten des Verfassungsrechts zunehmend in den Hintergrund, der „Staat trat als Denkkategorie zu Beginn der siebziger Jahre bei der Mehrheit der Staatsrechtslehrer gänzlich in den Hintergrund“ (Günther 2004: 321). Doch machen Europäisierung und Internationalisierung zunehmend deutlich, welche Errungenschaften der Staat als demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Friedensordnung und damit auch das moderne S. verkörpern.

3. Systematische Einordnung und Bereiche des Staatsrechts

S. als das Recht der zentralen Organe eines Staates ist Gegenbegriff zu überstaatlichem Recht (Völkerrecht, Europarecht), zum Verwaltungsrecht (etwa Kommunalrecht, Polizeirecht) und zum Kirchenrecht. Dagegen ist das Staatskirchenrecht jener Teil des S.s, der sich mit dem Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen befasst („Religionsverfassungsrecht“). Häufig unterteilt man das S. in Staatsorganisationsrecht („S. I“), Grundrechte („S. II“) sowie Bezüge zum Völker- und Europarecht („S. III“). Dabei ist Staatsorganisationsrecht die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen, die sich mit den Staatsorganen, Staatsebenen (wie Bund und Ländern) sowie Verfassungsprinzipien (Staatszielen und Staatsstrukturbestimmungen [ Staatszielbestimmungen ]) beschäftigen. Demgegenüber sind Grundrechte jene verfassungsrechtlichen Verbürgungen, die das Grundverhältnis der Privaten (insb. der Individuen) zum Staat betreffen; als solche sind sie eminenter Teil des S.s, während die Menschenrechte als ihr internationales Pendant Teil des Völkerrechts sind. Als Scharnier zwischen Verfassungsrecht einerseits und Völker- und Europarecht andererseits fungiert das „S. III“, das in der Sache Bezüge zum Staatsorganisationsrecht wie zu den Grundrechten hat. In der wissenschaftlichen Beschäftigung besteht in Deutschland ein Hiatus zwischen Grundrechten einerseits und dem Staatsorganisationsrecht andererseits, der ihren gemeinsamen Boden vergessen lässt: das positive Verfassungsrecht vor dem Hintergrund seiner Entwicklung und das jeweilige Vorverständnis von Staat und Verfassung. Daher kann S. nicht betrieben werden ohne Verfassungsgeschichte, Verfassungslehre und Allgemeiner Staatslehre.

4. Eigenart des Staatsrechts

S. wird als „fundamentales“, „politikbezogenes“, „fragmentarisches“ und „rahmenartiges Recht“ angesehen (Böckenförde 1991: 14): Es gibt der gesamten Rechtsordnung ihr Fundament; es reguliert Politik durch Verteilung von Macht- und Entscheidungspositionen; es regelt nicht vollständig, sondern selektiv; und es hält bewusst Spielräume offen. Allerdings wird beim S. des Bundes der fragmentarische Charakter durch die Regelungslust des verfassungsändernden Gesetzgebers, der Rahmencharakter durch die zuweilen aktivistische Rechtsprechung des BVerfG zweifelhaft: Seit 1949 hat das GG seinen Umfang verdoppelt, und die starke Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG entnimmt den Grundrechten als (vermeintlich) „objektiver Werteordnung“ (BVerfGE 7,198) Richtlinien und Impulse für die gesamte Rechtsordnung. Darin liegt eine außerordentliche Verdichtung des S.s (und konkret des Verfassungsrechts im formellen Sinne), die unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch ist.

5. Staatsrechtswissenschaft

„S.“ dient manchmal zugleich als abkürzende Bezeichnung der S.s-Wissenschaft, also der wissenschaftlichen, insb. akademischen Befassung mit dem S. In der S.s-Wissenschaft der Bundesrepublik – in den 1950er und 1960er Jahren durch die Konfrontation von Schmitt- und Smend-Schule geprägt – sind kaum mehr Schulen und auch kaum konfessionelle Prägungen erkennbar. Auffällig ist eine Fixierung auf die Rechtsprechung des BVerfG, dem eine „Entthronung der Staatsrechtswissenschaft“ (Schlink 1989) zugeschrieben worden ist. Richtig ist, dass die Aufgabe der S.s-Wissenschaft in einer kritisch-konstruktiven Begleitung des Handelns aller Verfassungsorgane liegt, die auch nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv (beratend) sein sollte. Daher erscheint eine Integration der Legistik (Rechtsetzungslehre) in die S.s-Wissenschaft überfällig. Während sich die S.s-Wissenschaft in der Bundesrepublik intensiv mit dem S. des Bundes befasst, ist die Beschäftigung mit den S.en der Länder randständig; die „Zweigeteiltheit des deutschen Staatsrechts“ (Stern 1995: 220) droht in Vergessenheit zu geraten. – Im Gegensatz zur S.s-Wissenschaft ist „S.s-Lehre“ ein (leicht antiquiertes) Synonym für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht insgesamt, d. h. vom Verfassungs-, Verwaltungs-, Europa- und Völkerrecht. Deren Fachgesellschaft für den deutschsprachigen Raum ist die 1922 gegründete Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer; ihre Bedeutung liegt darin, die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Zweige des Öffentlichen Rechts sichtbar zu machen und zu stärken.

6. Zukunft des Staatsrechts

Während sich die Konkurrenz zwischen S. und Verfassungsrecht in den letzten Jahren relativiert hat, erleidet das S. durch die zunehmende Europäisierung und Internationalisierung von Hoheitsgewalt und die damit bedingte Relativierung der Steuerungskraft der nationalstaatlichen Verfassung einen Bedeutungsverlust. Von dem im 20. Jh. proklamierten Tod des Staates und damit auch des S.s kann jedoch keine Rede sein. Daher behält das S. für den innerstaatlichen Bereich (Bund wie Länder) seine herrschaftskonstituierende, -legitimierende und -limitierende Funktion und setzt damit zugleich Maßstäbe für Unionsrecht und Völkerrecht.