Kompromiss

1. Begriff

Der Begriff K., von Latein compromittere, übereinkommen, hat seinen ursprünglichen Ort im römischen Zivilprozess und bezeichnet dort die Vereinbarung der Kontrahenten, sich dem Spruch eines Schiedsgerichts (Schiedsgerichtsbarkeit) zu unterwerfen. Er ist heute im Bereich zwischenmenschlicher Verhältnisse ebenso eingebürgert wie in der demokratischen Politik. Die Komplexität der sozialen Wirklichkeit und die situative Gebundenheit des Entscheidens erfordern es, trotz konkurrierender Überzeugungen und gegebener Interessengegensätze gemeinsame Ziele geschichtlich konkreten Handelns zu bestimmen. K. bezeichnet den stets vorläufigen und überholbaren Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen, Standpunkten oder Überzeugungen auf ein gemeinsames Handlungsziel hin. K. kann sich auf das Verfahren wie auf das Ergebnis der K.-Bildung beziehen.

2. Kompromiss in politischer und ethischer Perspektive

Die ethische Bewertung des gesellschaftlichen K.es ist umstritten; dgl. die Frage, ob der K. nur eine soziale und politische Kategorie zur (ggf. ethisch anspruchsvollen) Findung pragmatischer Handlungsentscheidungen oder auch eine ethische Kategorie zur Lösung von Normenkonflikten darstellt. Ob der K. als Mittel gesellschaftlicher Entscheidungsfindung geschätzt, in Kauf genommen oder generell abgelehnt wird, hängt von dem jeweils beanspruchten Ethikverständnis bzw. dem politischen Systemtypus ab: In der Sphäre der Politik baut eine demokratische Ordnung auf den K. als legitimes Verfahren, während autokratische Systeme diesem Modell der Entscheidungsfindung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Eine konsequentialistische Ethik wird den K. grundsätzlich für ein legitimes Mittel der Entscheidungsfindung halten; für deontologische Ethiktheorien stellt der K. notwendigerweise ein Problem dar. Ein hermeneutisch (Hermeneutik) angereichertes Ethikverständnis, das die Einbettung normativer Urteile in die Zeitstruktur von Entscheidungen und in die Vielfalt kontextueller Bedingungen reflektiert, wird den K. als gesellschaftlichen Modus ethisch bedeutsamer Entscheidung nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern danach streben, Bedingungen und Grenzen verantwortbarer K.-Bildung zu analysieren. Theologische Ethik macht zudem die sittliche Beanspruchung des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) und die Gewissensbildung als Voraussetzung für die reife und streitbare ethische Auseinandersetzung auch in Bezug auf den gesellschaftlichen K. geltend. In der Gegenüberstellung von Verantwortungs- v Gesinnungsethik, von Max Weber auf das Berufsethos des Politikers bezogen, treffen die ethische und die politische Dimension des K.es aufeinander. K. steht für die Notwendigkeit praktischer Orientierung des Handelns nach ethischen Kriterien in einer je konkreten sozialen Wirklichkeit. Zu einer christlichen Ethik des K.es gehört zudem, die Überholbarkeit gesellschaftlicher K.-Entscheidungen als Aufforderung zur Prüfung neuer und besserer Lösungen ernst zu nehmen.

3. Ethische Anforderungen an Kompromissbildung

Der (politisch-)ethische Anspruch der K.-Bildung betrifft die Verantwortung der Beteiligten für konkrete Handlungsentscheidungen und deren intendierte wie nicht-intendierte, aber erkennbare Folgen; diese sind in der Entscheidungsfindung zu antizipieren und zu gewichten. Verantwortbare K.e setzen ethische Überzeugungen und die gemeinsame Anerkennung fundamentaler Werte, insb. die wechselseitige Achtung der Beteiligten als gleichrangige ethische Subjekte, voraus. Der K. als Verfahren erfordert, den Kontrahenten mit Respekt zu begegnen und deren nicht geteilte bzw. abgelehnte Positionen als prinzipiell gleichberechtigt anzusehen, und zwar genau so lange, wie dieses Fundament nicht durch Intoleranz einer Seite unterlaufen wird. Intoleranz vereitelt als Verabsolutierung der eigenen Position und als exklusiver Geltungsanspruch jede Chance auf einen fairen K.

Das Verfahren der K.-Bildung stellt grundlegende Anforderungen:

a) Alle Konfliktparteien sind herausgefordert, im Interesse einer gemeinsam zu vertretenden Lösung Maximalpositionen zu räumen, in gewissen Punkten nachzugeben und auf bestimmte Elemente ihrer ursprünglichen Position zu verzichten (insofern besteht eine Spannung zwischen Überzeugung und K.). Dies setzt ein Mindestmaß an Handlungs- und Entscheidungsmacht voraus. Niemand darf gezwungen werden, den eigenen Standpunkt völlig aufzugeben. Die Freiheit der Beteiligten ist unbedingt zu achten. Ein K. ist „ein freiwilliger Verzicht auf gewaltsame Konfliktlösungen auch bei eigener Machtüberlegenheit“ (Ringeling 1982: 99). Alle am Prozess beteiligten Subjekte haben als gleichberechtigt zu gelten; alle eingebrachten bzw. entscheidungsrelevanten Standpunkte verdienen grundsätzlich gleichrangige Beachtung. Der Prozess der K.-Findung verlangt zwar von allen Beteiligten eine gewisse Zurücknahme eigener Überzeugungen und Geltungsansprüche, dies kann aber auch Lernprozesse freisetzen: Beteiligte können ihren Standpunkt im Ringen um gemeinsame Entscheidungen selbstkritisch ändern.

b) Ansprüche Dritter sind zu berücksichtigen; es muss sichergestellt werden, dass Rechte und Interessen Betroffener, aber nicht Beteiligter im Verfahren wirksam zur Geltung gebracht werden: Ein K. ist, verantwortungsethisch gesehen, mehr als der pragmatische Interessenausgleich zwischen den beteiligten Konfliktparteien.

c) Ein K. ist eine Entscheidung durch Annäherung dissentierender Positionen unter gegebenen Umständen für eine bestimmte Situation: Sie ist vielfältig bedingt, sie bleibt grundsätzlich überholbar und muss in entsprechenden rechtlichen Verfahren überprüft werden können (z. B. durch ein Verfahren vor dem BVerfG).

Auf der Inhaltsebene bedeutet K. nicht Konsens. Es bleibt ein Dissens in der Sache trotz Einigung auf eine bestimmte Handlungsoption. Der K. führt zu einer Veränderung, auch wenn die Beteiligten nicht davon überzeugt sind, die modifizierte Verhaltensweise/Handlungsentscheidung stelle die an sich beste Lösung dar, sondern nur die situativ bessere gegenüber dem Beharren auf handlungsverhindernden Divergenzen. Dem K. haftet ein Moment der Vorläufigkeit an; das je gefundene Ergebnis bleibt korrekturoffen, insofern jede Handlungsentscheidung der kontextuellen (zeitlichen und räumlichen) Begrenztheit menschlicher Einsichtsfähigkeit unterworfen ist. Die K.-Entscheidung selbst muss ethischen Gütekriterien genügen, um nicht als „fauler“ (unethischer) K. diskreditiert zu werden:

a) Ethische Grenzen der Abwägung sind zu ziehen, wo Inhumanität droht; der Verlauf solcher Grenzen selbst wird Gegenstand öffentlicher und politischer Debatten sein (vgl. etwa die rechtlichen und ethischen Debatten um den Schwangerschaftsabbruch; gerade in Bezug auf dieses Thema hat das Lehramt der katholischen Kirche strenge Grenzen markiert und jede K.-Bereitschaft in der Sache ausgeschlossen). Jede K.-Entscheidung basiert auf einer Gewichtung und Priorisierung von Gütern und Werten. Diese muss bestimmte Grenzen unverhandelbarer Grundwerte respektieren. Die Relativierung eines Wertes darf nicht dazu führen, dass die Würde eines Menschen verletzt wird oder grundlegende Menschenrechte missachtet werden.

b) Die Abwägung zwischen konkurrierenden Werten darf nicht zur Negation eines Wertes ohne Gegengewicht eines vergleichbaren Wertes führen.

c) Ggf. erforderliche Konflikte zwischen Rechten Einzelner (Menschenrechte) und Gemeinwohlbelangen (Gemeinwohl) müssen unter Berücksichtigung der Ranghöhe und der Dringlichkeit der konfligierenden Güter bzw. Werte gelöst, Grenzen der Abwägungsfähigkeit berücksichtigt werden.