Internationale Beziehungen

1. Definitionen

Das Forschungsfeld I. B. firmiert auch unter anderen Bezeichnungen, traditionell als „internationale Studien“, „internationale Politik“, „Weltpolitik“, neuerdings auch als „globale Steuerung“, „Weltinnenpolitik“ oder „internationale Systemtheorie“. Interne staatliche Entscheidungen werden großenteils ausgeblendet, während der analytische Fokus über den Begriff der „Beziehungen“ (z. B. wirtschaftlicher oder kultureller Art) stark erweitert wird.

Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Raum zwischen den Staaten, wo der hierarchisch gegliederten Politik innerhalb der Staaten das horizontale Handeln in der Anarchie des internationalen Systems entgegengesetzt wird. Auch wird auf die „Einbettung“ von Politik in weitere Handlungsstrukturen geachtet, die ihrerseits den konkreten Politikaktionen ihre je bes. Bedeutung verleihen. So können kulturelle und legitimatorische Probleme im Vordergrund stehen, wie bei der Analyse von Weltinnenpolitik. Unter diesem Blickwinkel erscheinen internationale Organisationen nicht mehr nur als Verhandlungsforen, sondern auch als Strukturen einer werdenden kosmopolitischen Weltordnung (Kosmopolitismus). Insgesamt verweist der weite Begriff der international studies, aus der imperialen Tradition v. a. Englands stammend, auf die Interaktion von (regionalen) Kulturen, Sprachen und politischen Systemen, während dem Begriff der Weltpolitik die Erforschung von verschiedenen Staatsstrukturen sowie von deren Interaktion mit den Gegebenheiten des internationalen Systems im Vordergrund steht.

Während frühere Theorien der I.n B. meist auf funktionierende Staaten mit jenem staatlichen Steuerungsmonopol in der internationalen Arena abhoben, das durch Imperium, Hegemonie oder ein Gleichgewicht der Mächte (Gleichgewichtspolitik) ausgeübt wird, erfassen neuere Systemtheorien – zumal Luhmann’scher Prägung – v. a. die Autonomie verschiedener zusammenwirkender Systeme. Diese reproduzieren sich als „autopoietische Systeme“ (Luhmann 1984: 28) entlang ihrer eigenen Funktionslogik und sind auch nicht mehr schlicht in der Dialektik von „Teil“ und „Ganzem“ zu verstehen. Steuerung, die – dank struktureller Kopplung – „der Politik“ zu obliegen schien, erscheint nun als fallweise Schadensbegrenzung bei unbeabsichtigten Nebenwirkungen unvermeidlicher Interaktionen; und an die Stelle der Vorstellung eines „Krieges aller gegen alle“ tritt das Modell einer Anarchie der Rechtsfragmentierung, einer kompensatorischen überwölbenden Verrechtlichung sowie der „Überwachung“ von Prozessen durch Transparenz und Selbsthilfe der Beteiligten. Anstelle des Regierens durch den Staat untersucht man nun das Regieren nicht nur jenseits des Staates, sondern auch jenseits einer Dichotomie von öffentlichem und privatem Handeln. Dafür bieten etwa Michel Foucault sowie netzwerktheoretische Arbeiten mannigfache Vorlagen, etwa jene zu PPP. Dabei scheinen allerdings die Droh- und Gewaltpotentiale nichtstaatlicher Formationen, etwa von terroristischen und kriminellen Vereinigungen, zu kurz zu kommen.

2. Internationale Beziehungen als akademische Disziplin

Dieser kurze Aufriss zeigt, dass der Begriff I. B. nicht im Sinne traditioneller Taxonomien verstanden werden sollte, bei denen Begriffe anhand von als essentiell ausgegebenen Merkmalen von anderen Begriffen abgegrenzt werden. Vielmehr ist I. B. ein Cluster-Begriff bzw. ein Sprachspiel im Sinne Ludwig Wittgensteins, wobei verschiedene, einander überlappende Merkmale die Bedeutung des Begriffs durch Explikation, nicht durch Definition erfassen.

Zweitens zeigt sich, dass unterschiedliche Begriffe I.r B. manche Elemente herausheben und andere in den Hintergrund schieben. Zwar ist die Ko-Konstitution des Staates und des internationalen Systems der zu erfassende Hauptprozess. Dieser wurde je nach Perspektive unterschiedlich analysiert: in diplomatischen oder Militärakademien anders als in der Geschichtswissenschaft, in der Geographie, in den heute vielfach suspekten Spekulationen der Geopolitik oder in der politischen Theorie. Gerade in dieser hat jene speziell „republikanische Theorie“, die sich von Aristoteles bis zu den Gründervätern der USA verfolgen lässt, einen reichen Fundus an einschlägigen Differenzierungsbegriffen geschaffen. Darüber hinaus sind natürlich die Betrachtungsweisen, Formeln und Konstrukte des internationalen Rechts zu erwähnen, die von Hugo Grotius bis zum Völkerbund und zur UNO mitsamt ihrer funktionalen Organisation reichen. In diesem Zusammenhang versuchten funktionalistische Theorien oft, sowohl zwischen Recht und Organisationstheorie zu vermitteln, als auch zwischen Recht und Integration vorstaatlicher, später auch supra-staatlicher und sonstiger neuartiger Organisationsformen. Letzteres war speziell bei den Integrationsversuchen „Gemeinsamer Märkte“ sowie, im europäischen Kontext, bei der Entwicklung der EU eine wichtige Aufgabe.

Im Übrigen konnte die Ausweitung des europäischen Staatensystems durch Recht, Weltkriege (etwa den Spanischen Erbfolgekrieg, der schon weltumspannend geführt wurde) und koloniale Expansion (Kolonialismus) lange Zeit als Ziel der Geschichte interpretiert werden. In diesem Zusammenhang hat etwa Immanuel Kant auf die wechselseitige Dynamik von Krieg und Recht hingewiesen, sie als Teleologie der Natur gedeutet, welche die Menschheit als solche zum Subjekt mache, und dadurch Europas Ausgriff in die Welt zumindest indirekt als Projekt der Aufklärung legitimiert.

3. Etablierung der Disziplin und deren „Große Debatten“

Dass sich diese mannigfaltigen Einsichten aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten zu einer eigenen „Disziplin“ zusammenfanden, findet seine Gründe in der Zwischenkriegszeit und in den Enttäuschungen des Versailler Friedensvertrags. Bezeichnenderweise war einer der ersten Inhaber eines Lehrstuhls für I. B. der Russlandhistoriker Edward Hallett Carr. Er kritisierte den damals zeitgenössischen liberalen Fortschrittsglauben sowie das naive Vertrauen in ein angeblich allen Staaten zugrundeliegendes Allgemeininteresse, nämlich die Vermeidung eines modernen Volkskrieges. Eine solche Ideologie diene nur den nationalen Interessen der etablierten Mächte und stärke deren Machtposition. Trotz dieser aus realistischer Perspektive vorgetragenen Kritik war sich E. H. Carr aber durchaus des erforderlichen „utopischen“ (Carr 1964: 13) Elements aller politischen Projekte bewusst, d. h. des „noch nicht Erreichten“, was natürlich Implikationen auch für gegenstandsangemessene Analysen hat.

Ähnlich äußerte sich auch der einflussreichste Vordenker Internationaler Politik am Ende des Zweiten Weltkriegs, Hans Joachim Morgenthau. Von der Frankfurter Schule geprägt, kritisierte er zunächst die Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit der amerikanischen Öffentlichkeit, die sich der schweren politischen Dilemmata beim Aufbau einer Nachkriegsordnung nur unzureichend bewusst zu sein schien. Die von ihm beobachtete Vernachlässigung von Macht und die Konzentration auf ideologische Politik, welche die Möglichkeiten klassischer Diplomatie vernachlässigte und die auch einer Großmacht gesetzten Grenzen unklug verkannte, konnte nur zu einer Außenpolitik führen, die planlos zwischen Isolation und Kreuzzug oszillierte.

Wie aber ließ sich eine solche Kritik wissenschaftlich untermauern? H. J. Morgenthau konzipierte – gleichsam parallel zum Idealtyp des homo oeconomicus – den homo politicus, dessen Streben nach Machtmaximierung jenes entscheidende Kalkül benennt, mit dem ein Analytiker jedem Staatsmann gleichsam über die Schulter blicken und dessen Politik besser verstehen kann als jener selbst. Dieser Kern des Realismus wird häufig von Neo-Realisten als H. J. Morgenthaus zentrales Vermächtnis angesehen: In der Politik geht es um Macht; diese besteht aus verschiedenen Ressourcen, die es zu maximieren gilt – so in der weiteren Verkürzung des Machtbegriffs durch den Neo-Realisten Kenneth Neal Waltz –; alle bloß institutionellen oder organisatorischen Konstruktionen – außer der von Allianzen und Gleichgewichtsstrukturen – schüren nur falsche Erwartungen. Allerdings kann Sicherheit nicht von allen Akteuren maximiert werden, weshalb die von der Realistischen Schule vorgeschlagene Lösung des Sicherheitsdilemmas unbefriedigend ist. Das führte – nach dem Diskurs zwischen „Realisten“ und „Idealisten“ – zu weiteren „Großen Debatten“.

Hedley Bull, herausragender Vertreter der Englischen Schule historisch gesättigter Politikanalyse, eröffnete die zweite Debatte durch sein Plädoyer, die Analyse der i.n B. nicht auf szientistische empirische Methoden oder auf axiomatische Modelle – wie etwa den homo politicus – zu gründen, sondern auf geschichtliches Wissen und Urteilskraft, weil allein dies der Politik gerecht werde. Diese sei nämlich gekennzeichnet durch Kontingenz, Zeitdruck und stets mangelhafte Information. Damit unterscheide Politik sich sehr von der durch universale, notwendige und ahistorische Gesetze bestimmten Naturwissenschaft. Sie könne sinnvollerweise nicht analog zur naturwissenschaftlichen Methode erforscht werden. In den USA gewannen diese lange schwelende Debatte aber die so kritisierten „Empiristen“ bzw. „Szientisten“, was nicht zuletzt dem damaligen Siegeszug des auf die analytische Wissenschaftstheorie gegründeten sozialwissenschaftlichen Behavioralismus (Behaviorismus, Behavioralismus) zuzuschreiben ist.

Eine dritte große Kontroverse entzündete sich an der Interpretation der Wissenschaftsgeschichte von Thomas Samuel Kuhn. Er zeigte, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht kontinuierlich über die „normalen“ Prozesse der Forschung erfolgt, sondern dank revolutionärer Änderungen bereits im Verständnis des zu erkundenden Gegenstandbereichs, also des gesamten Forschungsparadigmas. Das aber warf Fragen nach der Kompatibilität der aufeinander folgenden Paradigmen und somit nach der Eigenart wissenschaftlichen Fortschritts auf. Denn wenn dieser im Wechsel grundlegenden Wirklichkeitsverständnisses besteht, dann wird die für normale Wissenschaft selbstverständliche „Gegebenheit der Welt“ ebenso problematisch wie ein – insb. im Szientismus und Behavioralismus benutztes – Konzept der Wahrheit, das diese als Übereinstimmung einer Aussage mit jenem Teil der Wirklichkeit versteht, über den sie getroffen wird. Damit wurde der Weg zum Konstruktivismus eröffnet.

Im Zuge der Durchsetzung dieser Position, die sich gegen den lange Zeit dominanten Behavioralismus richtete, machten sich bei einigen postmodernen Analytikern (Richard K. Ashley, Rob B. J. Walker, Michael Joseph Shapiro), unterstützt auch von der inzwischen aufgekommenen feministischen Wissenschaftskritik, Einflüsse französischer Philosophen (Jacques Derrida) und Soziologen (Pierre Bourdieu) bemerkbar. Die sich formierenden Konstruktivisten teilten deren postmoderne Vorbehalte (Postmoderne) gegen die „Gegebenheit der Welt“, glaubten aber nicht an die „revolutionäre Aktion“ (Marx/Engels 1848: 22) i. S. v. Karl Marx als Leitbild ihrer wissenschaftlichen Agenda. Stattdessen erkundeten sie die Implikationen der Konstruktionsprozesse von Wissen wie auch von zeitspezifischen und ihrerseits wirklichkeitskonstruktiven Wissensbeständen. Neben klassischer Positivismuskritik ging es dabei um die Einbringung neuer Erkenntnisse von Niklas Luhmann, Peter Ludwig Berger, Thomas Luckmann, John Langshaw Austin und John Rogers Searle in ein neues, komplexeres Forschungsprogramm.

Diese Debatte führte nicht nur zu einer substantiellen Erweiterung der Themen, sondern auch zu einem größeren methodologischen Pluralismus als in der Phase szientistischer bzw. behavioralistischer Dominanz. Obwohl sich vielerlei Erkenntnisversprechungen nicht erfüllten, wurde deshalb der Konstruktivismus zum „dritten Ansatz“ der I.n B. erklärt, freilich ohne den am Ende sterilen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus vom fruchtbaren Sozialkonstruktivismus klar zu unterscheiden. Verdrängt wurde dabei die lange Zeit einflussreiche politökonomische Analyse im Anschluss an die Imperialismustheorie (Imperialismus) von John Atkinson Hobson und Wladimir Iljitsch Lenin. Einesteils war dies auf den Niedergang des Marxismus nach dem Ende des Kalten Krieges zurückzuführen; andernteils war dafür die Produktivität einer neuen Generation von Wissenschaftlern (z. B. John Gerard Ruggie, Peter Joachim Katzenstein, Alexander Wendt, Margaret E. Keck, Kathryn Sikkink) verantwortlich, die sich anschickten, das Forschungsfeld neu zu besetzen.

4. Ortsbestimmung der Gegenwart

Heute scheint die Lust auf große und grundlegende Debatten geschwunden zu sein. Man verfährt eklektisch, erschließt sich neue Perspektiven durch (linguistic, practic, iconic, spatial) turns. Gleichwohl stirbt die alte Suche nach der „Weltformel“ der Sozialwissenschaften nicht, auch wenn – zumal in den USA – der normale akademische Betrieb im Formulieren und Testen von Hypothesen besteht. In Europa haben sich unterdessen zwei Brennpunkte der Diskussion etabliert: die Analyse von Normen und normativer Verhaltensprägung, sowie die Wiederbelebung politischer Ökonomie auf neuen Grundlagen.

Im ersten Fall geht es um eine Weiterentwicklung der in der Debatte um internationale Regime angestoßenen Problematik, wie sich Normen über Argumente auf Verhalten auswirken und dabei ggf. kommunikativ und verhaltensmäßig diffundieren. Einerseits wird das im internationalen Menschenrechtsdiskurs greifbar, andererseits z. B. auch im Versuch, Europa nicht nur als Zivilmacht, sondern auch als „moralische Kraft“ aufzustellen, die mit „weicher“ statt „harter Macht“ politische Ziele verfolgt. Obwohl solche Argumente spekulativ sind und jenseits des Atlantiks kritisiert wurden, ließ man sich auch dort auf soft power, die problematische Vision eines demokratischen Friedens sowie auf die politische Vision zur Verbreitung von Demokratie (regime change) ein. Außerdem führte die Anwendung der Rawls’schen Theorie der Gerechtigkeit auf die i.n B. zu einer Debatte, die auch konkreten praktisch-politischen Interessen an einer kosmopolitischen Ordnung (I. Kant) entsprang. Sie umspannte Probleme der UN-Reform und humanitärer Interventionen bis hin zu administrativ-technischen Fragen einer effizienteren Gestaltung und Durchführung von systemübergreifenden Entscheidungsprozessen (z. B. die Komitologie-Verfahren der EU). Tatsächlich stellte gerade Europa für das Regieren in Mehrebenensystemen nachgerade ein Laboratorium zur Verfügung, auch wenn Voraussagen der (Neo-)Funktionalisten, die im europäischen Integrationsprozess ein Modell für andere Regionen sahen, sich als falsch erwiesen.

Insgesamt ist die Rückbesinnung auf konkrete politische Probleme zu begrüßen. Dies gilt insb. für die internationale Politische Ökonomie, welche mit Robert Gilpin, Robert Owen Keohane, J. G. Ruggie und Susan Strange einflussreich in die I. B.-Agenda zurückkehrte. R. Gilpin untersuchte die Dynamik zwischen wirtschaftlicher Innovation und jener internationalen Statusordnung, die sich durch Macht und Prestige ausdrückt. Es zeigte sich, dass internationale Systeme nicht einfach horizontal durch legale Gleichheit geordnet, sondern hierarchisch verfasst sind, da es immer Hegemonialmächte oder Großmächte mit Privilegien gibt. Dieser Analyserahmen bietet zusätzlich Ursachenkunde systemtransformierender Hegemonialkriege bzw. kleinerer, gleichgewichtserhaltender Kriege. Später wurde er noch mit einem Fragenkatalog zu konkreten Problemen der internationalen Politischen Ökonomie ausgefüllt: Freihandel, Währungsstabilität, Staatskredite und makro-ökonomische Steuerung durch die Koordination der Zentralbanken.

R. O. Keohanes Version der „hegemonialen Stabilität“ (Keohane 1984: 31) entspringt der Frage, warum nach der Freigabe der Wechselkurse und den zunehmenden Divergenzen in Handelsfragen zwischen den USA und ihren Handelspartnern nicht ähnliche Schwierigkeiten wie in der Zwischenkriegszeit entstanden. R. O. Keohane erklärt das durch die Existenz von „privilegierten Mitgliedern“ der Staatengemeinschaft, die ihre Probleme durch Übereinkommen lösten. J. G. Ruggie weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von multilateralen Institutionen hin, die es weder während der Pax Britannica noch in der Zwischenkriegszeit gegeben hatte, die jetzt aber Marktdynamiken innerstaatlich wie international in ein Regelwerk einbetten. S. Strange wiederum analysierte bereits 1986 klarsichtig jene Probleme, die sich aus der Verselbständigung der Finanzmärkte ergebenen würden, da den Staaten unter wachsender Interdependenz und fortschreitender Liberalisierung frühere Regulationsmöglichkeiten fehlen, die Märkte sich aber, allen ideologischen Argumenten zum Trotz, nicht selbst regulieren. Solche Einsichten, verbunden mit der späteren Asienkrise und neuen Risiken des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems, ließen eine völlig neue Forschungsagenda entstehen.

Die Neue Politische Ökonomie hat hieraus zwei weitere Schwerpunkte entwickelt. Sie lagern sich um die Probleme der Stratifizierung von Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung und der Armut in vielen Regionen. Aus diesen Forschungen entsprang Kritik an jenen orthodoxen Methoden nationaler und internationaler Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die hierin v. a. eine Folge ineffizienter Märkte gesehen hatten. Am Ende wurde der einstige, rein neoliberale Washingtoner Konsens (Neoliberalismus) abgelöst und die Politik der Weltbank, weniger des IWF, tiefgreifend verändert. Die sich weiter beschleunigende Konzentration des Reichtums eröffnet Theorie und Praxis weiterhin bedeutende Tätigkeitsfelder.

5. Internationale Beziehungen und Internationales Recht

Die Risiko-Diskussion führt zurück zur Frage des Rechts. Nicht zuletzt in den Finanzkrisen zeigte sich nicht nur die Regulierungsproblematik in einer globalisierten Welt, sondern auch, dass die Erwartungen der von James Nathan Rosenau betonten global governance zu optimistisch waren. M. Foucaults Bedenken gegen diese Art von „ordnen“ (gouvernementalité, welche Regieren mit mentalité verschmilzt) waren offensichtlich begründet.

Es entstehen Fragen der Verantwortung, da Entscheidungen gerade wegen der fiktiven Wirklichkeit und der professionellen Spezialisierung kaum überprüfbar sind. Statt der Nachvollziehbarkeit soll Transparenz das Problem der Rechenschaftspflicht lösen, wobei jeder sehen muss, wo er bleibt. Die „ideale“ Theorie verdrängt als Messlatte die Realität und trotz der Proliferation von Recht ist paradoxerweise immer größere Unordnung zu bemerken.

Die neuere Entwicklung im internationalen Recht zeigt eine Revolution subjektiver Rechte und zugleich die Fragmentierung der internationalen Ordnung.

Die Etablierung subjektiver Rechte stärkte die Position des Individuums, was umso wichtiger war, als traditionelle moralische oder religiöse Vorstellungen ihren Einfluss verloren hatten und sich das positive Recht als Instrument für Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg missbrauchen ließ. Neben die Ächtung des Genozids traten die zwei großen Menschenrechtskonventionen. Es schien, dass politische und soziale Probleme durch Fortschreibung der Rechte-Kataloge zu lösen waren. Die Proliferation der Rechte – oberflächlich in verschiedene „Generationen“ eingeteilt, um so Kohärenz zu symbolisieren – konnte aber konzeptionelle Schwierigkeiten nicht beseitigen. Entgegen der „Wiener Erklärung“ (Erklärung und das Aktionsprogramm von Wien von 1993) sind nicht alle Menschenrechte „gleich“: Der jüngst von der UN als „Menschenrecht“ deklarierte Zugang zum Internet ist dem Recht auf Freiheit und Unversehrtheit der Person wohl kaum ebenbürtig. Also müssen Prioritäten gesetzt werden; aber wer ist dazu berechtigt und aufgrund welcher Rechtfertigung?

Daraus ergeben sich weitere Probleme. Ursprünglich sind Menschenrechte Forderungen auf Unterlassung bestimmter Akte seitens anderer (auch des Staates), nicht Ansprüche auf bestimmte Güter, wie bei der zweiten und dritten Generation dieser Rechte. Das Recht auf Ernährung ist wohl moralisch geboten, jedoch ohne klare Spezifikation der Zuständigkeit für die korrespondierenden Pflichten als „Recht“ kaum durchzusetzen. Dies führt zur nächsten Schwierigkeit: Zur begrifflichen Zweideutigkeit dessen, was „recht“ ist. Etwas ist „recht“, wenn es nach gewissen Standards richtig ist. Jedoch ein „Recht zu haben“ beinhaltet, auch etwas Falsches tun zu dürfen. So weist die erste Bedeutung in Richtung Logik und Moral, wobei Begriffe wie Irrtum und Vergehen relevant werden, während in der zweiten solch ein Rekurs eingeschränkt ist. Das Recht auf Meinungsfreiheit oder die Gleichstellung der Frau kann nicht damit ausgehebelt werden, dass eine Zeitung verboten wird, weil sie eine „falsche“ Politik empfahl, oder weil man sich auf Tradition oder dubiose „natürliche Gegebenheiten“ beruft. Im Englischen unterscheidet man klarer zwischen natural law und natural rights, was sich im Deutschen nicht durchgesetzt hat, obwohl insgesamt die Natur (Naturrecht) und später der Mensch als Letztbegründung dienen.

Die Fragmentierungsdebatte entzündete sich an unabhängigen Regimen (Kooperationsstrukturen unterhalb der Schwelle inter- oder supranationaler Organisationen), deren Erfolg bestimmte Sachbereiche zu konstituieren und zu lenken ursprünglich hoffen ließ, traditionelle Probleme staatlicher Souveränität mittels „funktionaler“ Arrangements zu umgehen, und so paretooptimale Lösungen zu erreichen. Während I. B.-Analysten sich v. a. auf die „Nachfrage nach Regimen“ konzentrierten, interessierten sich Rechtswissenschaftler mehr für die Modalität des Aushandelns – wobei nicht so sehr die Rechtsform, als die Fähigkeit miteinander im Gespräch zu bleiben und konkrete Probleme zu lösen, im Vordergrund stand. Dass dabei nicht nur Handelsfragen (die verschiedenen GATT-Runden), sondern hochpolitische Bereiche wie z. B. das strategische Gleichgewicht mittels Rüstungskontrollverträgen (ABM-Vertrag, SALT I/II, START-Abkommen, Nonproliferationsvertag und nachfolgende Beschränkungen von dualen Technologien) „verrechtlicht“ werden konnten, schien zu beweisen, dass der Traum, die Politik „dereinst“ in Rechtsbeziehungen aufzulösen, doch mehr als eine Utopie war.

Bei solchen Regimen stellte sich heraus, dass entweder institutionalisierte Verhandlungsforen (wie das Standing Commitee in Genf für die Rüstungskontrollverträge) oder spezielle Schiedsgerichte (wie das DSU-System der WTO) ganz wesentlich zu ihrem Funktionieren beitrugen, da sie dadurch unabhängig (free-standing) wurden. Dieser „Vorteil“ war aber zugleich ihr Nachteil. So konnten z. B. Handelsfragen nach Schaffung der WTO nicht mehr dazu genutzt werden, die Beachtung von Menschenrechten einzufordern. Konzeptionell noch schwieriger war, dass jedes Gericht seine eigene Jurisdiktion bestimmen konnte, die soziale Welt aber nicht aus separaten Regimen besteht. So kann ein konkreter Fall, z. B. der Bau einer nuklearen Wiederaufbereitungsanlage, nicht nur gegen ein spezifisches Umweltregime verstoßen; er fällt auch unter generelles öffentliches internationales Recht und unter EU-Recht (Europarecht), wie z. B. bei der MOX Anlage (Irland v Großbritannien). In ähnlicher Weise stand der IGH z. B. in seinem „Mauer“-Gutachten vor dem Dilemma, Gesichtspunkte der Selbstverteidigung, des Kriegsrechts (Besatzungsrechts), des humanitären Rechts oder der Menschenrechte abzuwägen. Freistehende Regime komplizieren die Situation, da deren Schiedsgerichte (Schiedsgerichtsbarkeit) nicht im Verhältnis der Über- oder Unterordnung stehen, und unklar bleibt, was eine Entscheidung bedeutet: denn die gleiche Problematik könnte mit einigen Veränderungen auch einem anderen Schiedsgericht unterbreitet werden.

Derartige Fragen tangierten speziell den IGH, der sich als öffentlich rechtlicher Gerichtshof für die Welt (World Court) versteht und gegenüber den Schiedsgerichten eine höhere Position beansprucht. Befürchtungen der Fragmentierung bewahrheiteten sich vielfach. So kamen der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der IGH zu unterschiedlichen Urteilen. Auch in der Rechtsdogmatik (Dogmatik) fehlt es an einer erkennbaren „Philosophie“, zumal hier verschiedene Rechtstraditionen aufeinanderprallen und nicht einfach hinter dem Allgemeinplatz der „Herrschaft des Gesetzes“ verschwinden.

Während früher internationale Anarchie das Resultat fehlender Gesetze und Gerichte war, ergeben sich jetzt ähnliche Zustände aufgrund unkoordinierter Regime. Daher erheben sich Rufe nach Konstitutionalisierung des internationalen Rechts und seiner Institutionen in drei Richtungen:

a) Die älteste versuchte, die UN-Charta als Konstitution und nicht nur als multilateralen Vertrag zu interpretieren. Ihre teleologische Auslegung und strukturelle Reformen zugunsten des repräsentativen Charakters der UNO wie auch ihre Organisation sollten damit gestärkt werden.

Nach dem Fehlschlag organisatorischer Reformen rückte die „Bestrafung“ von Kriegsverbrechen und Genoziden in den Mittelpunkt. Die erweiterte Interpretation des Art. 39 UN-Charta hatte den verschiedenen Friedens- und Befriedungsmissionen der UNO bereits als Rechtsgrundlage gedient. Das neue Konzept eines „Rechts auf Schutz“ nahm nicht nur den Staat in die Pflicht, sondern gab der internationalen Gemeinschaft im Extremfall ein residuales Recht auf Intervention, was auf große Resonanz in der Zivilgesellschaft stieß. Diese Entwicklung signalisierte nicht eine Abkehr von der traditionellen Priorität des Gewaltverbots, sie machte, charakterisiert durch Sanktionen im Sinne Hans Kelsens, das Strafrecht wieder zum Modell. Doch steht jetzt nicht der Krieg als Sanktion für Verletzung der Friedensordnung im Vordergrund, sondern die individuelle Bestrafung für bes. schwere Menschheitsverbrechen. Damit wurden die Tribunale von Nürnberg und Tokyo in gewisser Hinsicht zu Vorläufern des IStGH. Die Verselbstständigung des internationalen Strafrechts ohne den politischen und organisatorischen Unterbau wurde nicht als konstitutionelles Problem angesehen, sondern beweist eine im Werden begriffene Weltgemeinschaft. Sinnstiftung bietet das alte Narrativ des Fortschritts, Gesellschaft zur Gemeinschaft führt, wobei die traditionelle Folge im Narrativ des Fortschritts genau umgekehrt wird.

b) Die zweite Richtung orientiert sich an einer constitution light, indem sie am alten Verfassungsmodell Zweifel anmeldet und damit auch seine Übertragbarkeit auf die internationale Arena hinterfragt. Geschriebene Verfassungen sind ja kein Allheilmittel, gerade wenn sie auf der Volkssouveränität beruhen und somit die Tendenz haben, Minderheiten (Rassen, Indigene, Nationalitäten) zu übergehen. Zwar können ethnische Minoritäten durch spezielle Rechte (wie kulturelle Autonomie oder Schutz der Sprache) integriert werden, doch sind die Erfahrungen des Völkerbunds oder Osteuropas nach dem Zerfall des Sowjetimperiums nicht beeindruckend. Politisch strittige Tatbestände justiziabel zu machen, kann ebenfalls zu Nachteilen, von der Konfliktverschärfung bis zum Staatsversagen, führen, nicht nur in Bananenrepubliken. Auch das europäische Projekt geriet ins Stocken, als seine „Vertiefung und Erweiterung“ mittels einer Verfassung vorangetrieben werden sollte. New Constitutionalism gilt vielfach als Methode des Bestreitens (contestations) statt als zwingende, den Streit beendende autoritative Entscheidung. Vielmehr würden weitere Einwände präjudiziert, gerade weil häufig umstritten bleibt, wer als „Hüter der Verfassung“ (Schmitt 1929) fungieren könnte. Deswegen wurde auch die Idee eines konstitutionellen Pluralismus ins Gespräch gebracht.

c) Die dritte Richtung versuchte, über das konstitutionelle Paradigma hinauszugehen. Am klarsten ist dies bei den von N. Luhmann beeinflussten Juristen, für die rechtliche Lösungen zwischen den sich immer mehr verselbständigenden autopoietischen Systemen nur temporär Friktionen managen können. Damit verliert die richterliche Entscheidung ihren Präzedenzcharakter, der ja immer praktische Gültigkeit hatte, da er dem Rechtsprinzip entspringt, gleiche Fälle gleich zu behandeln. „Informellere“ Lösungen werden gesucht, die zwar unscharf sein mögen, aber v. a. schnelles Handeln ermöglichen, zumal die Rechtsfortbildung den klassischen öffentlichen Institutionen immer mehr entgleitet und auch die subsidiären Quellen des Völkerrechtes (richterliche Entscheidungen, Beiträge anerkannter Rechtsgelehrter) nicht mehr allein autoritativ sind. So entstehen sowohl informelle Verhaltenskodizes für multinationale Firmen als auch private Mittel der Konfliktbeseitigung.

Zumal das Privatrecht als Inspiration für das internationale Recht eine lange Geschichte hat, versuchte Martti Koskenniemi die Gefahren der „Fragmentierung“ (Koskenniemi 2007) der internationalen Rechtsordnung durch Rückgriff auf dessen Denkfiguren zu meistern. Waren noch in den 1970er Jahren die informellen Regeln in Anlehnung an das Recht verstanden worden – nämlich als soft law, als „weiche Vorschriften“ gegenüber dem „harten“ Gesetz –, so ist heutzutage eine leitende Metapher dem IT-Bereich entlehnt, wo die Schnittstelle zwischen der hard- und software neue Probleme für Kompatibilität der Programme und der „Führung“ von Experten aufwirft.

Wenn Analogien zum öffentlichen Recht bestehen, finden wir sie nicht im Verfassungs- sondern im Verwaltungsrecht, das ja speziell im amerikanischen System problematisch die Gewaltenteilung übergreift, und, statt allgemeiner Repräsentation, organsierte Interessen (stake holders) in einem quasi-politischen Prozess von Anhörungen und Beurteilung der Ermessensentscheidungen an der Regulierung beteiligt. Das Globale Verwaltungsrecht (Global Administrative Law) versucht diejenigen Prinzipien und Institutionen zu identifizieren, die in der globalen Arena ähnliche Aufgaben übernehmen könnten. Als große Frage stellt sich dann, ob Teile einer Verwaltungspraxis, welche je verschieden in die verfasste Ordnung von Staaten eingebettet ist, so einfach aus diesem Rahmen herausgelöst und mit Teilen anderer Rechtssysteme verbunden werden können. Ähnliche Nomenklaturen kaschieren leicht falsche Analogien, vor denen nur eingehende Rechtsvergleiche bewahren können. Letztendlich stellt sich auch die Frage, ob das Kant’sche Prinzip der Öffentlichkeit (also Publizität, nicht retroaktive Gesetze und Gleichbehandlung von Personen und Sachlagen), schon ausreicht, oder ob I. Kant nur einer legalistischen Täuschung aufsitzt. Für I. Kant ist die Autonomie einer Gesellschaft analog zur Person entscheidend. Er wehrt sich entschieden gegen leidige Tröster und Zwangsbeglücker. Ob dieses Autonomiegebot mit seiner Präferenz für „souveränes Handeln“ – ohne Mitwirkung von Repräsentanten – vereinbar ist, ist eine nur politisch zu lösende Frage.