Deutsche Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:54 Uhr

  1. I. Mittelalter
  2. II. Frühe Neuzeit
  3. III. Moderne

I. Mittelalter

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1. Begriff und Anfänge der deutschen Geschichte

Weder die antiken Germanen noch das fränkische Großreich der Merowinger und Karolinger sind aus heutiger Sicht Teil der d. G. Davon kann erst die Rede sein, seitdem das Wort „deutsch“ (althochdeutsch theodisk, mittellateinisch teutonicus), urspr. eine Bezeichnung für nicht-romanische Volkssprachen (auch das Angelsächsische), auf den politischen Verbund der Völker des Ottonenreiches, hauptsächlich der Franken, Sachsen, Bayern und Schwaben, bezogen wurde. Vereinzelt geschah dies seit dem späten 10. Jh. als Außenwahrnehmung in Italien, aber es war erst Papst Gregor VII. (1073–1085), der im Bestreben, König Heinrich IV. (1056–1106) die Herrschaft über Italien und Burgund streitig zu machen, die einschränkende Rede vom „Reich der Deutschen“ bzw. vom „deutschen König“ aufbrachte. Langfristig vorherrschend wurde sie nicht, weil ihr die fränkische Reichstradition und seit der Kaiserkrönung Ottos I. (962) die Vorstellung vom fortwährenden Imperium Romanum entgegenstanden. So ist das Reich bis 1806 römisch geblieben und auch der noch nicht zum Kaiser gekrönte König als rex Romanorum tituliert worden. Zur Abwehr päpstlicher Ansprüche führte die staufische Reichskanzlei 1157 den Begriff des sacrum imperium, 1184 den des sacrum Romanum imperium ein. Den Zusatz „deutscher Nation“ erhielt das Heilige Römische Reich zuerst 1474 und fortan häufiger, um innerhalb des universal gedachten Imperiums den nordalpinen Kernbereich hervorzuheben. Das Volk der Deutschen, das nicht als Voraussetzung, sondern als Resultat der ottonischen Reichsbildung zu verstehen ist, blieb ohne gemeinsame Herkunft und Geschichte, bis Humanisten (Humanismus) im Banne der 1455 entdeckten „Germania“ des Tacitus die einstigen Germanen (eine Kollektivbezeichnung der Römer) zu idealisierten Vorfahren der Deutschen machten. Auch räumlich dominierte der Plural „deutsche Lande“ gegenüber einem fest umrissenen „Deutschland“.

2. Hohes Mittelalter

Die für die d. G. fundamentale Konsolidierung des Ostfrankenreiches, worin sich vier Herzogtümer formiert hatten, begann mit dem Liudolfinger Heinrich I. (919–936), der, zunächst nur von Franken und Sachsen zum König gewählt, sich bald auch in Schwaben und Bayern Geltung verschaffte und 925 das linksrheinische Lothringen, den Wurzelgrund der Karolinger, als weiteres Herzogtum hinzugewann. Sein Sohn Otto I. (936–973) überwand die fränkische Praxis der Erbteilungen, indem er seine alleinige Thronfolge in der Familie durchsetzte. Er leitete die Unterwerfung slawischer Völker zwischen Elbe, Saale und Oder ein, bannte die Ungarngefahr durch den Sieg vor Augsburg (955) und ebnete den Weg zu seiner Kaiserkrönung in Rom durch die Vereinnahmung Nord- und Mittelitaliens (künftig „Reichsitalien“ als gesondertes regnum). Damit erneuerte er auf schmalerer Basis das Imperium Karls des Großen und gab allen Nachfolgern das Ziel Kaisertum vor, dessen Vergabe inzwischen fest an das Papsttum gebunden war. Otto II. (973–983) scheiterte an der Unterwerfung auch Süditaliens und musste 983 einen Slawenaufstand hinnehmen, der die Erfolge des Vaters großenteils zunichtemachte, während Otto III. (983–1002) das Episode gebliebene Konzept verfolgte, zusammen mit dem Papst von Rom aus zu regieren, und als Kaiser den östlichen Nachbarn Polen und Ungarn den Weg zu eigenständiger Christianisierung und Reichsbildung freigab (wohingegen Böhmen als Herzogtum im Reichsverband verblieb).

Unter Heinrich II. (1002–1024), der anfangs mit einem italischen Gegenkönig konfrontiert war und erst 1014 nach Rom kam, rückte der Norden wieder in den Vordergrund, wo Heinrich im Bündnis mit heidnischen Slawen jahrelang das christliche Polen bekriegte. Da er kinderlos starb, kam es 1024 zum ersten der für die mittelalterliche Reichsgeschichte kennzeichnenden Dynastiewechsel, die bewirkt haben, dass (anders als in Frankreich und England) das Prinzip der Wahlmonarchie (Monarchie) trotz aller faktischen Erbfolgen nie unterging. König wurde Konrad II. (1024–1039) aus dem mittelrheinischen Geschlecht der Salier. Ihm gelang es 1033, mit dem Erwerb des Königreichs Burgund (später Arelat) die Trias der Reiche zu vollenden, die seither das Imperium ausmachten. Sein Sohn Heinrich III. (1039–1056) führte die nachkarolingische Kaisermacht auf den Gipfel, als er 1046 das kompromittierte römische Adelspapsttum beseitigte, um dann durch einen von ihm selbst auf den Stuhl Petri erhobenen deutschen Reichsbischof die Krone zu empfangen. Damit leitete er eine Reformära ein, in der von auswärts gekommene Päpste aktiv eine hierarchische Umgestaltung der Gesamtkirche in die Hand nahmen.

Die Ottonen und frühen Salier hatten sich durchweg die Verfügung über die Herzogswürden zu sichern vermocht und darüber hinaus auch mit einem weiteren zur Königswahl berechtigten Kreis von Großen ein allg.es Einvernehmen gewahrt, so dass einzelne Rebellionen, die unter keinem der Herrscher ausblieben, alsbald isoliert und überwunden werden konnten. Von Heinrich I. bis Heinrich III. steigerte sich so das Machtgefälle zwischen Königtum und Laienadel, verbunden mit einem wachsenden Gewicht der hohen Geistlichkeit, die von den Herrschern mit Besitz und Hoheitsrechten bedacht wurde und eine verlässliche Stütze der Zentralgewalt bildete. Das änderte sich unter dem dritten Salier Heinrich IV., der früh schon die Konsensfindung mit den Großen aufgab und 1073 vor einem landesweiten Aufstand aus Sachsen flüchten musste, wo er sich nie mehr wirklich durchsetzen sollte. Folgenreicher wurde sein Konflikt mit Gregor VII., dem er Anfang 1076 die Anerkennung entzog, unterstützt von vielen Bischöfen (Bischof), die über dessen primatialen Zentralismus verärgert waren. Als der Papst jedoch mit Suspendierung und Bannung des Saliers antwortete, geriet Heinrichs Königtum in höchste Gefahr, weil sich außer den Sachsen auch die süddeutschen Herzöge gegen ihn stellten und die Loyalität der Bischöfe rapide abnahm. Heinrich rettete sich durch den Gang nach Canossa, wo er Anfang 1077 bei Gregor die Lösung vom Bann erwirkte. Er konnte aber nicht verhindern, dass der harte Kern seiner Gegner den Schwabenherzog Rudolf zum Gegenkönig erhob, der 1080 die Bestätigung des Papstes empfing, aber wenig später in einer Schlacht umkam. Heinrich zog daraufhin nach Italien, vertrieb Gregor 1084 aus Rom und installierte einen ergebenen Gegenpapst, der ihn zum Kaiser krönte. Das Papstschisma stand fortan jeder Einigung des seit 1080 dauerhaft gebannten Saliers mit den Nachfolgern Gregors VII. über das akut gewordene Rechtsproblem der königlichen Investituren von Bischöfen und Äbten im Wege und beeinträchtigte zudem seine Autorität im Innern. Nachdem bereits 1093 der ältere Sohn Konrad (gest. 1101) von ihm abgefallen war, brachte ihn 1105/1106 ein Aufstand des jüngeren, Heinrichs V. (1106–1125), endgültig zu Fall.

Hoffnungen auf eine Überwindung des Kirchenstreits enttäuschte der neue König gleich doppelt, als er nämlich 1111 in Rom dem Papst mit roher Gewalt ein (sofort widerrufenes) Investiturprivileg zu seinen Gunsten samt der Kaiserkrönung abnötigte und 1118 sogar nochmals einen Gegenpapst erhob. So blieb es einem breiten Bündnis von Fürsten überlassen, auf den fälligen Kompromiss in der Investiturfrage hinzuwirken, der 1122 in Worms durch die Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Belangen der hohen Kirchenämter zustande kam und die Entwicklung der Reichsbischöfe zu belehnten Territorialherren analog den laikalen Machthabern anbahnte. Das in der späten Salierzeit wirksam gewordene Eigengewicht der Fürsten prägte auch die nächsten Königswahlen, aus denen 1125 nicht der staufische Neffe des kinderlos gebliebenen Heinrich V., sondern dessen resoluter Widersacher Lothar III. (1125–1137), zuvor Herzog von Sachsen, und 1138 nicht Lothars welfischer Schwiegersohn als Sieger hervorging, sondern der Staufer Konrad III. (1138–1152), der sich zuvor schon jahrelang als Gegenkönig versucht hatte. Die Folge waren beständige innere Unruhen und ein Verblassen des Kaisertums, das Lothar erst 1133 und Konrad, überdies abgelenkt durch einen unglücklich verlaufenen Kreuzzug (1147–1149), niemals erlangten.

Für einen Neubeginn stand Konrads Neffe Friedrich I. Barbarossa (1152–1190), der dem Anspruch des welfischen Vetters Heinrich des Löwen auf Sachsen und Bayern stattgab (nach Abtrennung Österreichs als gesondertem Herzogtum) und auch sonst auf inneren Ausgleich bedacht war, um nach früher Kaiserkrönung (1155) alle Kraft auf Italien zu konzentrieren, wo er seit langem missachtete Reichsrechte wiederzubeleben gedachte. Sein rigoroses Vorgehen, gipfelnd in der Unterwerfung Mailands (1162), rief die gemeinsame Gegenwehr vieler lombardischer Städte und damit einen neuartigen Machtfaktor in der Reichsgeschichte auf den Plan. Zusätzlich belastet wurde seine Politik durch das 1159 ausgebrochene Papstschisma, bei dem Friedrich gegen den vom übrigen Europa anerkannten Alexander III. (1159–1181) Partei ergriff. 1167 scheiterte sein Versuch, die Stadt Rom einzunehmen, an einer verheerenden Seuche, die Barbarossa zum Rückzug über die Alpen zwang, aber erst die Niederlage, die er 1176 bei einem neuen Vorstoß gegen die Lombarden erlitt, brachte ihn zum Einlenken: In Venedig erkannte er 1177 Papst Alexander an und willigte in Waffenstillstände mit dessen Verbündeten, dem Lombardenbund und dem Normannenreich (Sizilien) in Süditalien, ein. Mit Heinrich dem Löwen, der ihm zuletzt Hilfe in Italien verweigert hatte, kam es zum spektakulären Bruch, als ihn der Kaiser dem Gericht seiner Standesgenossen überließ, was 1180 mit dem Entzug beider Herzogtümer endete. Deren Aufteilung beschleunigte die Etablierung einer neuen höchsten Führungsschicht aus solchen Reichsfürsten, die unmittelbar vom König belehnt waren. Bevor Friedrich 1189 zum Kreuzzug aufbrach, auf dem er tödlich verunglückte, kam es 1186 zur Heirat seines Sohnes Heinrich VI. (1190–1197) mit Konstanze aus dem sizilischen Königshaus. Daraus erwuchsen 1189 unverhoffte Erbansprüche, die der staufischen Politik erneut den Weg nach Süden wiesen und an der Kurie die Sorge vor einer Umklammerung des Kirchenstaates wecken mussten. Nach einem gescheiterten ersten Feldzug gleich nach seiner Kaiserkrönung (1191) konnte Heinrich 1194 bis Palermo vorstoßen und die Krone Siziliens in Empfang nehmen. Mit dem Wunsch, die Zukunft seines Doppelreiches dauerhaft zu sichern, indem aus dem Imperium ebenfalls ein Erbreich wurde, drang der Kaiser weder bei den deutschen Fürsten noch beim Papst durch; erreichen konnte er lediglich die Königswahl seines kaum zweijährigen Sohnes Friedrich II. (1196/1212–1250), ehe er 1197 jählings in Messina starb.

Der Tod Heinrichs VI. ließ sein Werk sogleich zusammenbrechen. Während in Sizilien der Thronerbe Friedrich als Mündel Papst Innocenz’ III. (1198–1216) aufwuchs und Reichsitalien sowie Arelat sich selbst überlassen blieben, kam es im deutschen regnum nach einer Doppelwahl (1198) zwischen Heinrichs jüngerem Bruder Philipp (von Schwaben) und Otto IV., einem Sohn Heinrichs des Löwen, zum zehnjährigen Thronstreit, der mit der Ermordung des zuletzt überlegenen Staufers 1208 endete. Der Welfe erreichte 1209 die Kaiserkrönung, verfiel aber bald dem Verdikt des Papstes, als er sich auch des sizilischen Reiches zu bemächtigen suchte. Gegen ihn aufgeboten werden konnte nur Friedrich II., der 1212 über die Alpen kam, in Frankfurt (erneut) zum römischen König gewählt wurde und sich v. a. dank eines Sieges des verbündeten französischen Königs über den englischen bei Bouvines (1214) gegen Otto IV. (gest. 1218) durchsetzte. In Deutschland stellte der Staufer die geistlichen und weltlichen Fürsten 1220/1232 durch Gesetze zufrieden, die ihren Weg zu voller Landesherrschaft bestätigten. Seine vorrangigen Ziele lagen jedoch in der italienischen Heimat, wohin er sich 1220 wandte, sobald er seinen zum König gewählten minderjährigen Sohn Heinrich (VII.) als Statthalter zurücklassen konnte. Wachsende Spannungen mit dem Papsttum erwuchsen daraus, dass er die vor der Kaiserkrönung (1220) gegebene Zusage nicht einhielt, das Imperium und Sizilien zu trennen, sondern sich sowohl der zentralistischen Reorganisation des Königreichs wie dem Kampf gegen die lombardischen Städte widmete. Über die Alpen kam er nur noch 1235/1237, um den rebellierenden Sohn Heinrich abzusetzen, einen ersten Reichslandfrieden zu verkünden und an Heinrichs Stelle dessen Halbbruder Konrad IV. (1237–1254) wählen zu lassen. 1239 reagierte der Papst auf seine politische Einschnürung in Italien mit der Bannung Friedrichs, die in Deutschland erst stärkere Wirkung zeitigte, als sie 1245 auf dem Konzil von Lyon zur Absetzung des Kaisers gesteigert wurde. Auf kuriales Drängen wurden die antistaufischen Gegenkönige Heinrich Raspe (1246–1247) und Wilhelm von Holland (1247–1256) gewählt, die nur allmählich an Boden gewannen, während in Italien der gebannte Friedrich, militärisch unbezwungen, 1250 verstarb und seine Nachkommen (Konrad IV., Manfred, Konradin) am päpstlich geschürten Widerstand scheiterten.

3. Spätes Mittelalter

Mit dem Untergang der Staufer erlosch die dynastische Kontinuität an der Spitze des Reiches, während die Fürstenhäuser fortfuhren, ihre regionalen Machtpositionen auszubauen. Weite Bereiche im Norden und Osten, wo der hansische Städtebund dominierte und sich deutsche Siedlung und deutsches Recht über die Oder hinweg bis tief nach Polen (Pommern, Schlesien) sowie durch den Deutschen Orden in Preußen ausbreiteten, waren längst dem Einfluss der Zentralgewalt entrückt. Im sog.en Interregnum, als die aus der Doppelwahl von 1257 hervorgegangenen „ausländischen“ Könige Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall (Bruder des englischen Königs) kaum spürbar um die Macht im Reich bemüht waren, behalfen sich Fürsten und Städte mit autonomer Konfliktlösung durch Einungen und Schiedsgerichte. Die Initiative zur Erneuerung des Königtums ging vom Papst aus, der sich nur noch an die sieben Reichsfürsten (drei geistliche und vier weltliche) wandte, die an der Wahl von 1257 beteiligt gewesen waren und 1298 erstmals als Kurfürsten bezeichnet wurden. Sechs von ihnen einigten sich auf Rudolf I. (1273–1291), den Grafen von Habsburg, der sich bis 1278 im Kampf mit König Otakar II. von Böhmen die Herzogtümer Österreich und Steiermark als Machtbasis sicherte. Nach seinem Tod folgte ihm vorerst nicht sein Sohn, sondern Graf Adolf von Nassau (1292–1298), der mit dem Griff nach Thüringen und Meißen scheiterte und schließlich, von einer Fürstenversammlung abgesetzt, auf dem Schlachtfeld umkam. Die Kurfürsten entschieden sich nun für Rudolfs Sohn Albrecht I. (1298–1308), der nach dem Aussterben der P&rhatsch;emysliden in Böhmen (1306) vergebens versuchte, auch dort Fuß zu fassen. Das vermochte erst der nächste König Heinrich VII. (1308–1313), Graf von Luxemburg, der durch Verheiratung seines minderjährigen Sohnes in das böhmische Erbe eintrat und so den Aufstieg seines Hauses unter die führenden Familien einleitete. Er nahm die Italienpolitik wieder auf und erlangte 1312 in Rom die Kaiserkrone (durch drei Kardinäle des in Avignon residierenden Papstes), starb aber vor seiner Rückkehr.

Die Zeit der „kleinen Könige“, die sich ihre Hausmacht erst zu schaffen hatten, war damit vorüber, denn seit 1314 wechselte die Krone nur noch zwischen den drei Dynastien der Habsburger, der Luxemburger und der Wittelsbacher, die sich weniger auf das Reichsgut als auf ihre angestammten Territorien stützten und nach Kräften deren Arrondierung betrieben. Fürs erste kamen nach abermaliger Doppelwahl der Wittelsbacher Ludwig der Bayer (1314–1347), Herzog von (Ober-)Bayern, und Albrechts Sohn Friedrich der Schöne (1314–1330) zum Zuge, die sich Jahre nach Ludwigs Sieg bei Mühldorf (1322) auf einen Modus Vivendi verständigten, bei dem Ludwig die Oberhand behielt. Gegen den Willen des avignonesischen Papstes, der ihn nie anerkannte und 1324 mit dem Bann belegte, zog er nach Italien, ließ sich zum lombardischen König und 1328 vom römischen Stadtadel zum Kaiser krönen, verbunden mit der Einsetzung eines (rasch gescheiterten) Gegenpapstes. Die schroffe Konfrontation wirkte einigend im Reich und brachte 1338 sechs der sieben Kurfürsten dazu, grundsätzlich den Approbationsanspruch des Papsttums zurückzuweisen. Erst in den Folgejahren weckte die wittelsbachische Hausmachtpolitik so viel Unmut, dass sich 1346 fünf Kurfürsten zusammenfanden, um gegen Ludwig, der bald darauf starb, den Luxemburger Karl IV. (1346–1378), Markgrafen von Mähren, zu erheben. Anders als Ludwig stand er in der Gunst des Papstes, erbte sogleich die Krone Böhmens (womit er als erster König zugl. Kurfürst wurde) und regierte bevorzugt von Prag aus das Reich ebenso wie seine Stammlande, auf deren Ausweitung (nach Norden und Westen) er jederzeit bedacht blieb. 1354/1355 zog er nach Italien, wo er in Mailand zum König, in Rom (wiederum durch einen Kardinal) zum Kaiser gekrönt wurde; auf einem zweiten Zug (1365) erlangte er zudem in Arles die Krone des Arelats. Richtungweisend für die weitere d. G. wurde seine Goldene Bulle von 1356 mit ihren präzisen Regelungen der Königswahl und der Vorrechte der Kurfürsten. Ihr gemäß erreichte er (als erster seit den Staufern) zu Lebzeiten die einmütige Wahl seines Sohnes Wenzel (1376/1378–1400) zum Nachfolger. Diesem fehlten jedoch Energie und Autorität des Vaters, weshalb er der zunehmenden Konflikte im Reich, der Probleme infolge des Papstschismas seit 1378 und schließlich auch der Widerstände in Böhmen immer weniger Herr wurde und ihn 1400 die vier rheinischen Kurfürsten absetzten (d. h. auf das böhmische Königtum beschränkten; gest. 1419).

An seine Stelle trat einer der vier, Ruprecht (1400–1410), der wittelsbachische Pfalzgraf bei Rhein, der sich von Heidelberg aus mit den beschränkten Ressourcen seines Territoriums allenfalls im Westen und Süden des Reiches Respekt verschaffen konnte. Einen Italienzug musste er 1401/1402 ergebnislos abbrechen, und auch seine Bemühungen um Überwindung des Schismas, die sich gegen das Konzil von Pisa (1409) richteten, blieben ohne Erfolg. Nach Ruprechts Tod sah sein Sohn von einer Thronkandidatur ab und unterstützte den Luxemburger Sigismund (1410–1437), einen jüngeren Sohn Karls IV., dem zugutekam, dass der rivalisierende Vetter, Markgraf Jobst von Mähren, schon 1411 starb. Sigismund, bereits seit 1387 König von Ungarn, ohne Hausmacht im Reich und daher oft abwesend, stand hinter dem Konstanzer Konzil (1414–1418), das die Kircheneinheit wiederherstellte, durch die Verurteilung von Jan Hus aber auch den Aufstand der Hussiten heraufbeschwor. Mit ihnen hatte sich Sigismund im Kampf um die böhmische Krone (ab 1420) viele Jahre auseinanderzusetzen, bis 1433 ein mühsamer Vergleich mit einem Teil von ihnen zustande kam. Im selben Jahr wurde er in Rom zum Kaiser gekrönt (als erster seit 1220 wieder von einem Papst). Nachfolger wurde sein Schwiegersohn Albrecht II. (1438–1439), Herzog von Österreich, der ihn auch in Ungarn und Böhmen beerbte. Mit ihm begann die lange Reihe der Habsburger an der Spitze des Reiches, das er indes selbst in den 20 Monaten, die ihm verblieben, gar nicht betreten hat. Stark auf die eigenen Stammlande konzentriert war ebenso Albrechts Vetter Friedrich III. (1439–1493), der dort mit ständischem Widerstand und familiären Rivalen zu kämpfen hatte und weder Böhmen noch Ungarn behauptete. Gegen das Basler Konzil (1431–1449) stellte er sich auf die Seite des Papsttums und erreichte 1448 das Wiener Konkordat, zugl. die Voraussetzung für seine Kaiserkrönung 1452 (die letzte in Rom). Im Reich außerhalb der Erblande erschien er erst seit 1471 mehrfach, so zur Begegnung mit dem Burgunder-Herzog Karl dem Kühnen (gest. 1477), die 1475 zur Verabredung der Ehe von dessen Tochter mit Friedrichs Sohn Maximilian I. führte und die habsburgische Herrschaft in den Niederlanden anbahnte. Die Wahl und Krönung Maximilians zum römischen König (1486) leitete eine Zeit der Doppelherrschaft ein, in der Vater und Sohn gemeinsam das burgundische Erbe erkämpften und den Südosten gegen Ungarn absicherten. Maximilians Alleinregierung (1493–1519) begann mit dem Wormser Reichstag von 1495, der dem spätmittelalterlichen Dualismus von Kaiser und Reich zukunftweisend Rechnung trug: mit dem Ewigen Landfrieden, mit dem Gemeinen Pfennig, mit der Verstetigung des Reichstags, mit dem Reichskammergericht.

II. Frühe Neuzeit

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1. Verdichtungsschub um 1500

Das Gehäuse der vormodernen deutschen Geschichte (d.n G.), das Heilige Römische Reich deutscher Nation (Altes Reich), bekam in den Jahren um 1500 jenes institutionelle Gerüst, das es danach, in den Grundzügen unverändert, bis 1806 trug. Diese Zeit der „Reichsreform“ war die Formationsphase für alle wichtigen Reichsorgane außer dem Kaisertum: also für Reichstag, Reichskreise, Reichsgerichte; der Ewige Landfrieden wurde in dieser Sattelzeit verkündet, die erste Wahlkapitulation formuliert.

Der Ewige Landfrieden von 1495 sprach das unbefristete Verbot der Fehde aus. Modern formuliert, postulierte er das staatliche Gewaltmonopol. Wer sich geschädigt sah, hatte, anstatt dem vermeintlichen Schurken den Fehdehandschuh hinzuwerfen, ein Gericht anzurufen. An die Stelle der Selbsthilfe trat der Rechtsweg. Auch deshalb wurde im selben Jahr 1495 beschlossen, ein oberstes Reichsgericht zu installieren: das zunächst in Speyer, später in Wetzlar tagende Kammergericht. Jene Assessoren, die die Urteile fällten, wurden von den Reichsständen präsentiert. Der Kaiser reagierte, indem er einen regelmäßig arbeitenden Hofrat in Wien einrichtete. Endgültig in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands I. (1558–64) entwickelte sich dieser „Reichshofrat“ zum zweiten, im Gegensatz zum „Reichskammergericht“ kaiserlichen obersten Reichsgericht.

Dem Ringen zwischen den Versammlungsformen Königlicher Hoftag und Königsloser Tag (d. h. die Kurfürsten versammelten ohne oder gegen das Reichsoberhaupt manche oder viele der Großen des Reiches um sich) erwuchs im Lauf des 15. Jh. der Reichstag, an der Schwelle zur Neuzeit gewann er seine dann bis 1806 maßgebliche Gestalt. Er war keine formlose Versammlung irgendwo zwischen Beratungszirkel und Beschlussfassungsorgan mit vom Reichsoberhaupt willkürlich gewähltem Teilnehmerkreis, vielmehr war er als Vollversammlung der Reichsstände in seiner Zusammensetzung vom Belieben des Reichsoberhaupts unabhängig und musste allen wesentlichen Regierungshandlungen förmlich zustimmen. Auch die anderen Grundlinien der – nie schriftlich fixierten – Reichstagsordnung standen erst seither fest: dass man in drei Kurien tagte (Kurfürsten-, Fürsten-, Städterat); dass der Kurfürst von Mainz das Direktorium innehatte, der Kaiser hingegen bei den Beratungen „vor der thüre“ stand; dass die Beschlüsse eines Reichstages, vom Kaiser ratifiziert, prinzipiell (auch wenn manchmal überstimmte Minderheiten ihre „Protestationen“ einlegten) Rechtskraft besaßen. So entstanden Reichsgesetze, damals sprach man von „Reichsschlüssen“. Bevor sich die Reichsstände wieder zerstreuten, formulierte der Kurmainzer einen langen Text, der alle Reichsschlüsse dieses Reichstags aneinanderreihte: den „Reichsabschied“. Der Reichstag war folglich das zentrale politische Forum des Reiches, sein Legislativorgan, und wenn der Kaiser eine Reichssteuer benötigte, hatte er sie ebenfalls am Reichstag zu beantragen. Bis zum Ende des Reiches hat sich nur noch eine bedeutsame Änderung dieses Reichstagsprozedere eingestellt: Bis 1663 gab es keine Permanenz, einberufen hat, mit kurfürstlicher Zustimmung, das Reichsoberhaupt; der 1663 nach Regensburg einberufene Reichstag aber ging nie mehr auseinander, schließlich fand man sich mit seiner Permanenz ab – der Reichstag ist „immerwährend“ geworden.

Im Jahr 1500 wurden sechs Reichskreise eingerichtet, seit 1512 gab es deren zehn. Die Kreise formten sich im nächsten halben Jh. institutionell aus, und es wuchsen ihnen wichtige Aufgaben zu, so insb. – besiegelt durch die Reichsexekutionsordnung von 1555 – die der Friedenssicherung nach innen (zeitgenössisch: Sicherung des „Landfriedens“) und faktisch auch, da das Reichsheer nichts als eine Addition der zehn Kreisheere war, nach außen. Hatte sich der Kaiser im Mittelalter v. a. als Friedenswahrer verstanden, funktionierte die Friedenssicherung nun weitgehend kaiserfrei.

Die Zuständigkeiten des Kaisers wiederum legte erstmals 1519 eine Wahlkapitulation recht detailliert fest. Bis zum Untergang des Reiches mussten fortan alle Kandidaten, ehe sie zum Reichsoberhaupt gewählt wurden, eine solche von ihren Wählern, also den Kurfürsten formulierte Kapitulation unterzeichnen. Sie bildete den Kompetenzkatalog des Reichsoberhaupts, fixierte den für alle möglichen Regierungshandlungen jeweils erforderlichen Grad an Rücksprache: Wann musste der Reichstag befragt werden, wann hatten alle Königswähler zuzustimmen, genügte die Zustimmung der Mehrzahl der Kurfüsten?

Versuchen wir, was sich da um 1500 formiert hatte und in den Grundzügen bis 1806 bestehen blieb, nach gängigen Staatstypen zu kategorisieren, so besaß das Alte Reich eine Mischverfassung: Es wies monarchische Züge auf (Monarchie); zugl. bildeten „Kaiser und Reich“ auch und v. a. einen aristokratischen Personenverband; ferner waren der Verfassung des Reiches schwankende, aber zu Zeiten sehr ausgeprägte oligarchische Gehalte eigen (die herausgehobene Rolle der wenigen Kurfürsten). Vom Zentralitätsgrad her urteilend, müssen wir das Alte Reich zwischen Staatenbund und Bundesstaat platzieren.

Während das Reich nie mehr sein wollte als lockerer Dachverband, der für ein Mindestmaß an Koordination sorgte, aber so wenig wie irgend möglich vereinnahmte und gängelte (man war stolz auf seine „teutsche Libertät“), gingen die einzelnen Reichsterritorien den europaweit üblichen Weg der Ausformung frühneuzeitlicher Staatlichkeit (Staat), also der Professionalisierung der Regierung (Regierungssysteme) und Bürokratisierung (Bürokratie) der Verwaltung, mit einem deutlichen Intensivierungsschub schon an der Schwelle zur Neuzeit. Fürs erste neuzeitliche Jh. war daher auf dieser Ebene eine rege Gesetzgebungstätigkeit charakteristisch („Gesetzgebungsstaat des 16. Jh.“): Die territoriale Obrigkeit operierte nicht mehr mit Privilegien, mit Einzelfallregelungen für diese oder jene bes. privilegierte Personengruppe, sondern mit Gesetzen (Gesetz), die gleichermaßen für alle galten, die innerhalb der Grenzen des Territoriums wohnten. Auch jene weiteren staatlichen Innovationen (etwa die Einrichtung „stehender“, nicht mehr einem Kriegsunternehmer verpflichteter, sondern direkt dem Herrscher unterstellter Heere (Militär) oder Versuche, die Mitwirkung der Landstände an der großen Politik zurückzudrängen), die die Forschung bis vor kurzem als „absolutistisch“ apostrophiert hat (Absolutismus), sind in Mitteleuropa den einzelnen Reichsterritorien zuzuschreiben. Einen „Reichsabsolutismus“ hat es hingegen nie gegeben.

2. Eine erste Herausforderung: Die Christianitas zerfällt in Konfessionen

2.1 Sprengkraft der „causa Lutheri“, ein Erster Religionsfrieden

Kaum hatten sich der Reichsverband wie seine Territorien am Beginn der Neuzeit institutionell verdichtet, wurde die Reformation auf verschiedenen politischen Ebenen zur Herausforderung. Gedanken Martin Luthers (wie auch des schweizerischen Reformators Huldrych Zwingli) inspirierten den größten Revolutionsversuch Europas vor 1789 (Französische Revolution), den sog.en „Bauernkrieg“ in Oberschwaben, Teilen Frankens, in Thüringen und Sachsen sowie in Tirol. Es war ein folgenreiches Missverständnis, denn M. Luther verurteilte den Aufstandsversuch scharf. Er bestärkte ihn darin, auf die territorialen Obrigkeiten (Fürsten, Grafen, reichsstädtischen Magistrate) zu setzen, die sich, von M. Luther ermuntert, an die Spitze ihrer jeweiligen Landeskirchen stellten („landesherrliches Kirchenregiment“). Die Reformation wurde also von vornherein territorienweise eingeführt. In Norddeutschland optierten mehr Fürsten für M. Luther als im Süden.

Auf Deutschlands ersten konfessionell motivierten Krieg, den Schmalkaldischen Krieg 1546/47, sowie eine Reihe weiterer Unruhen und Querelen reagierte 1555 der Augsburger Religionsfrieden. Er besiegelte, dass die konfessionelle Ausrichtung der Reichsterritorien (Konfessionalisierung) vom Willen der jeweiligen regionalen Obrigkeit abhing, indem er den Reichständen anheim stellte, frei zwischen katholischen und lutherischen Glaubensanschauungen zu wählen und diese Option ihrem Territorium verbindlich vorzuschreiben. Hierfür kam die Merkformel „cuius regio, eius religio“ auf („wo ich leb, so ich bet“). Dass die Entscheidung für diese oder jene Konfession in Mitteleuropa gleichsam eine Ebene tiefer fiel als in den werdenden Nationalstaaten Südwest-, West- und Nordeuropas, fügt sich zur föderalistischen Organisation der europäischen Mitte.

2.2 Die konfessionelle Polarisierung des Reichsverbands

Das simple „cuius regio“-Prinzip von 1555 flankierten komplizierte, teilweise ziemlich auslegungsoffene Spezialbestimmungen. An ihnen hat sich Deutschlands Konfessionelles Zeitalter (Konfession) abgearbeitet und aufgerieben. Schien der Religionsfrieden eine Generation lang tatsächlich zu befrieden, wurde der Reichsverband seit den 1580er-Jahren doch erneut konfessionell polarisiert. Es war nicht zuletzt eine Frage der Generationenabfolge. Die die Krise des Reiches vor 1555 noch erlebt hatten, starben nacheinander weg. An ihre Stelle traten forsche junge Leute, die eine konfessionell durchtränkte Primärsozialisation durchlaufen hatten und deshalb mit wachsender Unerbittlichkeit auf ihrer, der einzig richtigen Lesart des Religionsfriedens bestanden.

Es rächte sich nun, dass man 1555 nicht inhaltlich (also theologisch) zueinander gefunden, sondern versucht hatte, den fortbestehenden Wahrheitsdissens politisch und juristisch handhabbar zu machen. Die „Verrechtlichung“ aller Lebensbereiche war ein für die Frühe Neuzeit charakteristischer Langfristtrend. Und dass man sich beim Verrechtlichungsversuch von 1555, weil elementare Überzeugungen divergierten, dehnbarer Formelkompromisse bedient hatte (die Zeitgenossen drückten es anders aus, sprachen vom „Dissimulieren“), war an sich typisch für die Reichspolitik. Das Regelwerk des Reiches war nicht festgefügt, sondern locker gefugt, ließ Spielräume für tektonische Verschiebungen: große Toleranzen also statt Präzisionsarbeit – aber genau das war das Erfolgsgeheimnis. Daher entstand beim modernen Betrachter der Eindruck mangelnder Effizienz, von Reibungsverlusten, da griff nicht jedes Rädchen passgenau ins andere, und doch lief die Maschine jahrhundertelang. Das Alte Reich war ja bemerkenswert viel langlebiger als alle Nachfolgegebilde in Mitteleuropa bis heute; es besaß eine überragende „Zeitelastizität“ (um den Ausdruck für die zeitliche Erstreckungsfähigkeit eines politischen Systems vom Soziologen Niklas Luhmann zu borgen). Kompromisse wurden oft nicht auf halbem Wege zwischen zwei Maximalforderungen festgezurrt, äußerten sich vielmehr in dehnbaren Formeln, in Termini, die verschiedene Interessengruppen auf verschiedene Weise füllen konnten. Jener notorische Auslegungsstreit, der Reichsgeschichte zur Rechtsgeschichte machte, mag heute bei der ersten Annäherung an das Alte Reich abstoßen, aber die Soll-Lücken, die gleich mit eingebauten Interpretationsspielräume machten die Reichsverfassung in ihrer Zeit so unwiderstehlich und langlebig.

Nur in einem Fall zahlte sich der Versuch der „Verrechtlichung“ nicht aus, und das mit schlimmen Folgen: Denn der Diskurs über den Religionsfrieden mündete in eine desaströse Kommunikationsstörung. Es bildeten sich zwei Interpretationsschulen heraus, deren gemeinsame Schnittmenge sich bedrohlich leerte. Weil die eigene Auslegung als einzig zulässige angesehen wurde, angeblich nur sie den „reinen, lauteren Buchstaben“ des Religionsfriedens zum Klingen brachte, behauptete die Gegenseite offenkundig himmelschreiendes Unrecht. Ihre unhaltbaren Verdrehungen geißelte man in ellenlangen Auflistungen seiner „Gravamina“ (lateinisch: „gravamen“, im Plural „gravamina“ – „Beschwerde“): Ehe man den Widerpart wieder als politikfähig erachten, mit ihm ins politische Geschäft kommen könne, habe er erst einmal all diese Steine des Anstoßes aus dem Weg zu räumen.

2.3 Der dreißigjährige deutsche Konfessionskrieg

Der erbitterte Streit um Lesarten des Religionsfriedens führte dazu, dass ein Reichsorgan nach dem anderen ausfiel. Aus unterschiedlichen Gründen konnten die beiden obersten Reichsgerichte bei konfessionell aufgeladenen Konflikten nicht mehr schlichten; auch das Kurkolleg war konfessionell tief gespalten, Rheinische Kurfürstentage fanden schließlich gar keine mehr statt; der Reichsdeputationstag (gleichsam ein verkleinertes Abbild des Reichstags) wurde gesprengt. Im frühen 17. Jh. war überhaupt nur noch ein Reichsorgan (leidlich) arbeitsfähig: der Reichstag. Dass der Reichstag von 1608 über der evangelischen Forderung, die Gültigkeit des Religionsfriedens im Reichsabschied zu bekräftigen, zerbrach, hatte deshalb katastrophale Auswirkungen: Der Reichsverband war nicht mehr steuerbar. Die Zeitgenossen stellten sich auf den nur schwer noch zu vermeidenden Krieg ein. Schon in den Jahren 1610 und 1614 stand man zwei Mal dicht vor der Katastrophe (Jülicher Erbfolgestreit); zur Eskalation kam es schließlich 1618 im ständisch-konfessionellen Konflikt in Böhmen (Prager Fenstersturz).

Der dreißigjährige deutsche Konfessionskrieg (1618–48) hatte desaströse Auswirkungen auf Mitteleuropa. Als er anhob, wohnten dort wohl zwischen 16 und 17 Millionen Menschen; 1648 waren es noch rund zehn Millionen. Nürnberg wird die Einwohnerzahl von 1618 erst im Jahr 1850 wieder erreichen. Das den Krieg verschuldende und die erste Kriegsdekade prägende konfessionelle Motiv (Konfessionalisierung) trat danach, und zumal seit 1632, merklich zurück; die Auseinandersetzung internationalisierte sich; der Dreißigjährige Krieg verwob sich mit dem Achtzigjährigen (also dem Separationskampf der niederländischen Nordprovinzen Spaniens) und mit dem seit 1635 tobenden Spanisch-Französischen Krieg. Schon früher war aus dem großen deutschen Konfessionskrieg auch ein Verfassungskampf geworden, weil die Kaiser in dieser langen reichstagslosen Zeit allzu gern katholische Waffenerfolge – neben der Sicherung katholischer Interessen – für eine Stärkung der monarchischen Gehalte (Monarchie) in der Mischverfassung des Reiches auszunutzen versuchten. Geschehen ist das etwa im Prager Vertrag von 1635, der besagte, dass alle reichsständischen Bündnisse (außer dem Kurverein) aufzulösen und sämtliche Truppen auf Reichsboden auf den Kaiser zu vereidigen seien, und mit dem überdies eine Steuerbewilligung verbunden war. Ein Jahr danach ließ sich der Kaiser obendrein Reichssteuern von einem Kurfürstentag „bewilligen“. Viele Zeitgenossen sahen darin die Gefahr, dass eine dauerhaft reichstagslose Regierungspraxis begründet werden könnte.

3. Peripetie und beginnende Krise des Reichsgedankens

3.1 Der Westfälische Frieden von 1648

Solche sorgen haben in den Westfälischen Frieden tiefe Spuren eingegraben. Dieser beendete 1648 nicht nur die dreißigjährige Kriegskatastrophe, er stellte auch klar, dass der Reichstag das zentrale politische Forum des Reiches sei und dass Reichsstände Bündnisse schließen sowie Truppen unterhalten dürften. Man kehrte verfassungspolitisch in die Vorkriegszeit zurück, beseitigte mit anderen Kriegsfolgelasten die zentralistischen Verbiegungen des politischen Systems seit 1618.

Über weite Strecken liest sich der Westfälische Frieden als Zweiter Religionsfrieden. Die diese wortreichen Passagen einleitende Präambel stellte klar: Der Dreißigjährige Krieg war ein Konfessionskrieg, nämlich Kampf um Lesarten des Ersten Religionsfriedens. Dieser wurde deshalb einerseits bekräftigt, andererseits deutlich modifiziert. Es ist die große Tragik der vormodernen d.n G., dass das Reich zweimal Anlauf zu seinem Religionsfrieden nehmen musste. Neues regulatives Zentralprinzip für die konfessionelle Besitzstandsverteilung war ein Stichdatum, der 1.1.1624. Konfessionelle Besitzstände, die für dieses Stichdatum plausibel gemacht werden konnten, hatte der Landesherr zu respektieren; Minderheiten, die sich bis dahin gehalten hatten, musste er fortan dulden. Er konnte den Konfessionalisierungsgrad des Territoriums nicht über den 1624 erreichten Stand hinaus vorantreiben. Ausdrücklich genoss nun auch der Calvinismus reichsrechtlichen Schutz. Der Erste Religionsfrieden wollte einigermaßen fair sein, aber dieser auslegungsoffene Text hatte eben keine Parität festgezurrt; 1648 hingegen wurde ausdrücklich die Parität, die völlige rechtliche Gleichheit zwischen den nun drei reichsrechtlich zulässigen Konfessionen (Konfessionalisierung) zur Richtschnur des Verhältnisses zwischen den Glaubensrichtungen erklärt.

„Toleranz“ stand dennoch nicht auf der westfälischen Agenda; auch 1648 dachten die damaligen Politiker nicht vom individuellen Gewissen, sondern von den bestehenden kirchlichen Großorganisationen her, deren Koexistenz auf Reichsgebiet in juristische Terminologie zu gießen war, in präzisere und stringentere als 1555. Nicht die Individualisierung des Religiösen war beabsichtigt und schon gar nicht seine Verdrängung, sondern seine friedensstiftende Verrechtlichung. Das gelang alles in allem besser als 1555, auch wenn es im Heiligen Römischen Reich weiterhin unheiligen konfessionellen Hader gab.

3.2 Wiederaufbau in den Territorien, Wiederaufstieg des Kaisertums

In den einzelnen Reichsterritorien machte man sich nach 1648 an den Wiederaufbau. Er gelang, von den demografischen Langzeitfolgen des Krieges abgesehen (und nicht zuletzt ihretwegen: die Äcker mussten weniger Menschen ernähren), recht zügig. Die Nöte der Nachkriegszeit haben gewiss mancherorts Tendenzen zu „absolutistischer“ Herrschaftskonzentration (Absolutismus) befördert, doch begründete dann Kaiser Leopold I. (1658–1705) eine landständefreundliche kaiserliche Regierungspraxis. Was sich an ständischen Kräften (oder Resten) bis ins letzte Drittel des 17. Jh. hatte hinüberretten können, stand nun des austarierenden, konservierenden Charakters des Reichsverbands und insb. seiner Gerichte wegen nicht mehr zur Disposition.

Die Reichspolitik des halben Jh. nach dem Westfälischen Frieden ist wenig untersucht, Leopold selbst heute fast vergessen. Doch wirkte er in seiner Zeit erkennbar erfolgreich. Das seit den 1620er-Jahren notorische Misstrauen dem Kaisertum gegenüber wich neuen Loyalitäten, neuem Reichspatriotismus. Dass es 1683 habsburgischen Truppen, Kreistruppen, Kontingenten einzelner Reichsfürsten sowie polnischer Reiterei (letztes Aufflackern der Idee eines „christlichen Abendlandes“) in buchstäblich letzter Stunde gelang, das von osmanischen Truppen belagerte Wien zu entsetzen, zeigte spektakulär, dass das Reich mehr war als überlebter Traditionstatbestand. Mit den sich anschließenden habsburgischen Erfolgen auf dem Balkan verflüchtigte sich die Grundangst zweier Jh., die Furcht vor „dem Türken“.

3.3 Im Zeichen der Aufklärung

Und doch verlor die Reichsidee im Verlauf des 18. Jh. an Zwingkraft. Es ist plausibel, dass das auch mit nur kurz (Josef I., 1705–11; Karl VII., 1742–45) bzw. wenig glücklich und engagiert (Karl VI., 1711–40) regierenden Kaisern zu tun hat. Es ist aber genauso plausibel, auf geistesgeschichtliche Entwicklungen zu rekurrieren. In Kontinentaleuropa war Deutschland eines der beiden Hauptländer der Aufklärungsbewegung (Aufklärung), neben Frankreich. Es gab prägnante inhaltliche und soziologische Unterschiede. Die französischen Aufklärer mussten von ihren Publikationen oder von Mäzeninnen leben, konzentrierten sich auf Paris (und seine Salons), gingen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. vollends in Fundamentalopposition zur Krone. Der typische deutsche Aufklärer war im Staatsdienst. Angestellt bei einem (gern auch kleinen) Fürsten, versuchte er rastlos reformerisch tätig zu sein (Reform), sei es in einer Amtsstube, an der Universität oder an einem kleinstädtischen Gymnasium. Die meisten deutschen Aufklärer hatten subjektiv den Eindruck, konstruktiv an der Verbesserung des Staatswesens mitwirken zu können. Anders als in Frankreich, wo Aufklärung und Absolutismus nicht zueinander fanden, kam es in Mitteleuropa an vielen Residenzen zu einer – zwar stets fragilen, aber erkennbaren – Verbindung von absolutistischem Alleinherrschaftsanspruch und aufklärerischen Ideen („aufgeklärter Absolutismus“).

Die deutschen Aufklärer standen also weder dem Reich noch seinen vielen Territorien feindselig gegenüber. Freilich verloren im Zeichen des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus Alter und Tradition ihren vor Kritik feienden Nimbus. Das Alte Reich tarierte aus, sicherte den Status quo, war in diesem Sinne ‚konservativ‘. Aufklärer dagegen glaubten an Optimierung und Fortschritt, wollten stets reformieren; sie liebten „Klarheit“ und denunzierten Komplexität allzu gern als „unnatürlich“ – das Reichsgebäude aber war verwinkelt und verschnörkelt. Aufklärer sprachen von Rechtsgleichheit und trafen sich in ihren Sozietäten standesübergreifend; das Reich indes war eine Privilegienordnung, die nicht allen Individuen das Gleiche bescheren, sondern jedem Stand das Seine sichern sollte.

4. Eine zweite Herausforderung: der preußisch-österreichische Dualismus

Nicht nur an einigen Zügen der Aufklärung rieb sich die Reichsidee (Reich). In der europäischen Staatenwelt des 18. Jh. war die „Macht“ ein vielfach evozierter Zentralwert; sie war vermeintlich genau, und zwar nicht nach Ehrwürdigkeit und Alter, sondern nach Ressourcen errechenbar und wurde im Zeichen des Gleichgewichts immer wieder neu austariert. Das Reich hingegen war ein Rechtsschutzverband, der gerade vor dem Übermut der Macht schützte. Der Kitt, der den Reichsverband zusammenhielt, das war die Masse der Kleinen und Winzigen, der des Schutzes Bedürftigen, da allein nicht Staatsfähigen. Einige Quader im Reichsgebäude wurden aber im 18. Jh. sehr groß, ihnen wurde das Reich zusehends vom Schutzverband zur Fessel. Die beiden größten, Habsburg und Preußen, bekämpften sich seit 1740 erbittert und machten das Reich zur Bühne ihrer Großmachtrivalitäten.

Dass der junge Friedrich II. (1740–86) nach seinem Regierungsantritt sogleich ins bislang habsburgische Schlesien einfiel, begründete eine lebenslange Feindschaft zur Habsburgerin Maria Theresia und schuf mit dem preußisch-österreichischen Dualismus eine Grundstruktur der d.n G., die das Ende des Reiches überdauern, auch den Deutschen Bund bis 1866 – als ihn Otto von Bismarck und Helmuth Karl Bernhard von Moltke militärisch für Preußen entschieden – prägen sollte. Der Dualismus hatte seine militärischen Phasen (Österreichischer Erbfolgekrieg 1740–48; drei schlesische Kriege zwischen 1740 und 1763; Bayerischer Erbfolgekrieg 1777/78), und auch sonst erschwerte er zielgerichtete Reichspolitik, weil beide Protagonisten auf allen Ebenen Klienteln aufbauten und gegeneinander mobilisierten.

Auf die Frage, warum das Alte Reich dem Machthunger Napoleon Bonapartes nicht viel entgegenzusetzen hatte, kann man also mehrere plausible Hinweise auf innere Strukturbrüche geben, wobei auch anderswo in Europa die Widerstandskraft nicht größer war. Dennoch kamen die entscheidenden Anstöße zum Untergang des Alten Reiches von außen. Weil er belastbare Pufferstaaten zwischen Frankreich und Habsburg legen wollte, sorgte Napoleon dafür, dass mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 die meisten Kleinen und ganz Kleinen von der mitteleuropäischen Landkarte verschwanden; übrig blieben staatsfähige Territorien, die groß genug waren, um nicht auf Rückhalt am Reichsverband angewiesen zu sein. In seiner 1803 veränderten Form, als Addition weniger zumeist stattlicher, mehrheitlich evangelischer Territorien, war das Reich nur schwer noch steuerbar, gar vom katholischen Wien aus.

Auch die finalen Schläge kamen von außen, aus Paris: 1805 erklärte Napoleon seine deutschen Verbündeten im Frieden von Pressburg für souverän, und im Sommer 1806 beschloss er ziemlich kurzfristig, die zuletzt geschaffenen Abhängigkeitsverhältnisse in einem Staatenbund unter seinem Protektorat, dem Rheinbund, zu formalisieren und zu bündeln, weshalb der Reichsverband erlöschen müsse. Ultimativ verlangte er von Franz II. (Reichsoberhaupt seit 1792) die Preisgabe der Kaiserwürde. Am 1.8. teilten die 16 Rheinbundstaaten dem Reichstag mit, sich vom Reich zu trennen. Am 6.8. legte Franz II. die Kaiserkrone nieder. Anders als lange Zeit vermutet, erfuhren die Miterlebenden dies als lang nachwirkendes Trauma. Dass Napoleon das Reich zerbrechen konnte, schmerzte und beschämte die „Generation 1813“ zutiefst. Der zunächst (der äußeren Umstände wegen) unterdrückte Groll über „1806“ war ein Nährboden für das vaterländische Pathos der Befreiungskriege von 1813.

III. Moderne

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Die deutsche Geschichte (d. G.) seit dem ausgehenden 18. Jh. ist zum einen von den großen allg.en Tendenzen der neuesten Geschichte bestimmt. Zu diesen gehören die unterschiedlichen Stadien auf dem Weg zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ebenso wie die verschiedenen ideengeschichtlichen Strömungen seit der Aufklärung und die beschleunigte internationale Vernetzung im Zuge der modernen Globalisierung. Zum anderen ist die moderne d. G. von bestimmten eigenen Voraussetzungen gekennzeichnet, die ihr – etwa durch die vergleichsweise späte Nationalstaatsgründung (Nation; Nationalismus) – eine spezifische Prägung geben. Sinnvoller zeitlicher Ausgangspunkt ist die politische und ökonomisch-gesellschaftliche Doppelrevolution der Jahrzehnte um 1800, für die die Französische Revolution bzw. die nach und nach einsetzende Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) stehen. Für die weitere Periodisierung werden unterschiedliche Möglichkeiten diskutiert. Als bes. überzeugend hat sich auch für die d. G. ein Schema erwiesen, das ein „langes 19. Jh.“ vom ausgehenden 18. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg (Weltkriege) von einem „kurzen 20. Jh.“ unterscheidet, das von 1914/18 bis zum Ende des Ost-West-Konflikts reicht. Mit einer Übergangsperiode, die – je nach Deutung – bereits in den Jahrzehnten zuvor einsetzt, beginnt mit den Jahren 1989/90 eine dritte Phase moderner deutscher Geschichte, die bis heute anhält.

1. Das „lange 19. Jh.“

Die Französische Revolution von 1789 betraf die Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation von Anfang an. Politisch wurde die monarchisch-absolutistische Verfasstheit ebenso herausgefordert wie bald auch die staatliche Organisation des Reichs. Militärisch führte die Revolution die deutsche Staatenwelt seit 1792 in eine der längsten Kriegsperioden der Neuzeit, die erst 1815 zu Ende ging. Ideell gab die Revolution Anstoß für die konstitutionelle Entwicklung sowie für ein modernes Nationalbewusstsein bzw. den Nationalismus. Verfassungsbewegung (Verfassung) und Nationalismus hingen dabei auch in Deutschland zunächst eng zusammen.

Nachdem sich das Alte Reich über den Zwischenschritt des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 im Jahr 1806 endgültig aufgelöst hatte, wurde der deutschen Staatenwelt auf dem Wiener Kongress von 1814/15 eine neue Form gegeben. Der so gegründete Deutsche Bund, der bis 1866 bestand, bietet in der Rückschau ein zwiespältiges Bild. Zum einen stellte er den Rahmen für eine partielle Konstitutionalisierung Deutschlands bereit, die v. a. in den süddeutschen Staaten stattfand. Diese ging einher mit der beginnenden Ausbildung eines neuen politischen Bewusstseins, das die aktive Beteiligung größerer Bevölkerungsgruppen einforderte. Zum anderen bot er über die Einwirkungsmöglichkeiten des von den beiden konservativen (und bis 1867 bzw. 1848/50 de facto verfassungslosen) Vormächten Österreich und Preußen dominierten Gesamtbundes den Rahmen für eine repressive Politik gegenüber der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (Bürger, Bürgertum). Die Revolution von 1848 war u. a. Ausdruck dieses Konflikts. Zwar wichen die Regierungen zunächst vor den Forderungen der Revolutionäre zurück. Der Versuch der nach allg.em Männerwahlrecht gewählten Frankfurter Nationalversammlung zur Errichtung eines einigen, politisch fortschrittlichen deutschen Nationalstaats scheiterte jedoch schon 1849. Mittel- und langfristig blieb die Revolution dennoch nicht folgenlos. Und so lässt sich die Nationalstaatsgründung von 1871 am besten als Zusammenspiel der seit 1848/49 neben der Freiheit immer mehr das Nationale betonenden Einigungsbewegung auf der einen Seite und der preußischen Politik unter dem seit 1862 amtierenden preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck auf der anderen begreifen. Hinzu kam eine bedeutende militärische Komponente. V. a. der preußisch-österreichische Krieg von 1866 sowie der deutsch-französische Krieg von 1870/71 bereiteten den Boden für die kleindeutsche Einigung ohne die deutschsprachigen Teile Österreich-Ungarns sowie für die Durchsetzung des neuen Nationalstaats in Europa.

Das deutsche Kaiserreich von 1871 stellte nicht den halbabsolutistischen Staat dar, den Kritiker in ihm häufig sahen. Es handelte sich bei seinem politischen System vielmehr um ein kompliziertes Machtgefüge, bei dem einer starken Exekutive aus Kaiser und Reichskanzler ein keineswegs schwaches Parlament gegenüberstand und das unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten zuließ. Zu Beginn des 20. Jh. erscheint die d. G. entsprechend vielgestaltig: So bot das Reich unter den Bedingungen des allg.en Männerwahlrechts, einer zunehmend politisch ausdifferenzierten Massenöffentlichkeit (Öffentlichkeit) sowie eines etablierten Rechtsstaats auf der einen Seite das Bild einer durchaus pluralen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen Rechnung tragenden Gesellschaft. Auf der anderen Seite war neben dem bürgerlichen Charakter das monarchisch-aristokratische Gepräge unverkennbar. Beide Momente vermochten sich zudem in einer starken militärisch-nationalistischen Strömung zu verbinden.

Außenpolitisch hatte sich die Situation des Reichs im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. erheblich verschlechtert. War es während der Kanzlerschaft O. von Bismarcks (1871–90) noch gelungen, die prekäre Sicherheitslage durch ein geschicktes, stets aber auch gefährdetes Bündnissystem zu stabilisieren (u. a. deutsch-österreichischer Zweibund 1879, deutsch-italienisch-österreichischer Dreibund 1882, deutsch-russischer Rückversicherungsvertrag 1887), geriet das Reich nach der Jahrhundertwende immer mehr in die Isolation. 1914 war nur Österreich-Ungarn als verlässlicher Bündnispartner geblieben. Ökonomisch vollzog das Reich bis zum Beginn des 20. Jh. eine rasante Entwicklung. Hatte Deutschland in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) noch einen erheblichen Rückstand gegenüber Großbritannien aufgewiesen, so stieg es seit der Reichsgründung – neben Großbritannien und den USA – zu einer der drei führenden Industrienationen auf (mit entsprechenden gesellschaftlichen Folgen wie vermehrter Urbanisierung oder dem Aufkommen der Arbeiter- bzw. sozialen Frage). In manchen Bereichen, wie der Chemie- oder Elektroindustrie, hatte es das britische Vorbild überholt, und auch die internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft war am Vorabend des Ersten Weltkriegs weit vorangeschritten.

2. Deutschland im „kurzen 20. Jh.“

Die deutsche Reichsregierung hat den am 1.8.1914 beginnenden Ersten Weltkrieg (Weltkriege) nicht planvoll vorbereitet, aber mit ihrer Politik in der Julikrise von 1914 den Krieg doch sehenden Auges riskiert. Primär ging es ihr um die Sicherung der Großmachtstellung in Europa und in der Welt. Konkret expansionistische Ziele in Europa oder im Rahmen des seit den 1880er Jahren auch von Deutschland betriebenen Imperialismus spielten keine unmittelbar kriegsauslösende Rolle.

Im Ergebnis hat der Erste Weltkrieg die d. G. im „kurzen 20. Jh.“ sowohl ökonomisch als auch sozial und ideengeschichtlich-ideologisch stark geprägt, wobei er nicht nur als Auslöser, sondern ebenso als Katalysator bestehender Entwicklungen gewirkt hat. Politisch führte er zu einer Radikalisierung, die in der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit fortwirkte. Die nach der Kriegsniederlage und der revolutionären Beseitigung der Monarchie am 9.11.1919 ausgerufene und später nach dem ersten Tagungsort der Nationalversammlung benannte Weimarer Republik war dennoch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der erste Versuch der Deutschen mit der Demokratie konnte vielmehr zunächst auf erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung setzen, ausgedrückt im hohen Wahlsieg der die neue Ordnung tragenden Parteienkoalition aus SPD, katholischem Zentrum und Linksliberalen bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung im Januar 1919. Warum die Republik dennoch scheiterte, ist eine der wichtigsten Fragen der modernen d.n G. geblieben. Zu den ökonomischen und politischen Belastungen aus dem Krieg kamen die wirtschaftlichen Krisen der Zwischenkriegszeit, von der Hyperinflation von 1923 bis zur Weltwirtschaftskrise ab 1929. Zudem waren die Demokratie und ihre politischen Regeln zu wenig verankert, als dass sie die Belastungen, denen die Republik ausgesetzt war, hätten aushalten können. Unter diesen Umständen blieb die Gegenwehr gegen die vor keinem Mittel zurückschreckenden antidemokratischen Bewegungen von links und v. a. von rechts zu gering. Der von Zeitgenossen und Historikern lange Zeit als mitentscheidend eingeschätzte Versailler Vertrag von 1919 dagegen wird von der Forschung inzwischen sehr viel differenzierter betrachtet. Sicherlich ein harter Friedensvertrag, verschloss er Deutschland keineswegs den politischen und ökonomischen Wiederaufstieg. Seine Bedeutung liegt so weniger in den objektiven Belastungen, die er für das Reich brachte, als in der subjektiven Einschätzung durch die Zeitgenossen, die ihn fast durch alle politischen Lager hindurch als nationale Demütigung empfanden.

Am meisten von dem „Anti-Versailles-Konsens“ in der Weimarer Republik profitieren konnte schließlich die 1919 gegründete NSDAP. Für ihren Aufstieg und die Machtübernahme entscheidend wurden neben den sozialen und ökonomischen Belastungen sowie der Schwäche der demokratischen Kultur schließlich Fehleinschätzungen konservativer Eliten, die der NSDAP in einer Teilidentität der politischen Ziele verbunden waren. Von national-konservativen Beratern gedrängt, ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler am 30.1.1933 zum Reichskanzler, nachdem bereits zuvor die demokratische Regierungsweise durch die seit 1930 ohne parlamentarische Mehrheiten regierenden „Präsidialkabinette“ erheblich geschwächt worden war.

Die von 1933 bis 1945 dauernde nationalsozialistische Herrschaft ist nach wie vor die größte Herausforderung für die Erforschung der modernen d.n G. Neben klassischen Fragen, wie der nach den Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus, hat sich die Forschung in jüngerer Zeit verstärkt der Erinnerung an den Nationalsozialismus nach 1945 oder der Analyse konkreter nationalsozialistischer „Lebenswelten“ im Dritten Reich zugewandt. Bezogen auf die historische Einordnung in die neueste Geschichte insgesamt stellte die NS-Herrschaft mit ihrer Politik des Verbrechens nach innen und außen ohne Zweifel einen beispiellosen Zivilisationsbruch in der modernen deutschen und europäischen Geschichte dar. Auf der anderen Seite war sie aber ebenso mit vielen Aspekten der Geschichte im 19. und 20. Jh. eng verzahnt. So wurzelte die völkische Ideologie der NSDAP in nahezu all ihren Aspekten im radikalen „neuen Nationalismus“, wie er im späten 19. Jh. in Deutschland und Teilen Österreich-Ungarns entstanden war. Zudem haftete dem Nationalsozialismus mit seiner Politik der radikalen, endgültigen „Lösungen“ ein Muster an, das von verschiedenen Interpreten als modernes Phänomen betrachtet wird und entsprechend auch der Völkermordpolitik NS-Deutschlands moderne Züge verleiht (Zygmunt Bauman). Das vom Regime propagierte Konzept der rassisch, sozial und politisch homogenen „Volksgemeinschaft“ (Volk) widersprach hingegen fundamental der modernen Tendenz (Moderne) zu mehr Pluralismus und der damit verbundenen Anerkennung von Widersprüchen und ordnete sich in die dezidiert antimodernen Strömungen des 19. und 20. Jh. ein.

Außenpolitisch verfolgte das nationalsozialistische Deutschland von Anfang an einen Kriegskurs. Der am 1.9.1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnene Zweite Weltkrieg (Weltkriege) nahm dabei eine in der neueren Geschichte bis dahin unbekannte verbrecherische Dimension an. In der deutschen Kriegsführung verband sich der Versuch, „neuen Lebensraum“ im östlichen Europa zu erobern, mit dem gleichzeitig vorangetriebenen Völkermord an der jüdischen Bevölkerung (Antisemitismus) Europas. Am Ende fielen dem Krieg in Europa bis zu 50 Mio. Menschen zum Opfer, darunter etwa sechs Mio. Juden. Es bedurfte einer weltweiten Koalition, der seit 1941/42 auch die ideologisch eigentlich verfeindeten USA und UdSSR angehörten, um Deutschland zu besiegen und das Morden zu stoppen. Mit Datum vom 8.5.1945 kapitulierte das Deutsche Reich.

Die d. G. nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg war im bes.n Maße von internationalen Konstellationen bestimmt. Die am 23.5.1949 mit der Verkündigung des Grundgesetzes aus den Trümmern des Deutschen Reichs entstandene BRD sowie die am 7.10. desselben Jahres gegründete DDR waren Ergebnis wie auch Teil des nach dem Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition entstandenen „Kalten Kriegs“ zwischen dem von den USA geführten, bürgerlich-demokratischen Lager und dem kommunistischen (Kommunismus), von der Sowjetunion dominierten Staatenblock. Unter den Vorzeichen des ideologisch, ökonomisch, politisch und an der Peripherie auch militärisch geführten Konflikts entwickelten sich die beiden Staaten äußerst uneinheitlich. Im Westen etablierte sich nach und nach ein demokratisches politisches System (Demokratie, Politisches System), das von bestehenden demokratischen Anknüpfungspunkten in der d.n G. ebenso profitierte wie von westlichen Ideentransfers und das in den Aufbaujahren der 1950er und 60er Jahre zusätzlich von einem langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung unterstützt wurde. Die ökonomische Prosperität, die in der gesamten westlichen Welt zu beobachten war und für die neben bundesdeutschen Ursachen internationale Entwicklungen ausschlaggebend waren, gab der demokratischen Entwicklung jene Unterstützung, die während der Weimarer Jahre gefehlt hatte. In der DDR konnte sich das neue politische System nie in der gleichen Weise etablieren. Sein repressiver Charakter, die im Gegensatz zur Rolle der Westmächte in der Bundesrepublik bis zuletzt als Fremdherrschaft empfundene Stellung der Sowjetunion sowie fehlende wirtschaftliche Prosperität verhinderten die Stabilisierung des neuen Staates. Es entstand eine Fluchtbewegung in den Westen, die erst durch den Bau der Berliner Mauer von 1961 gestoppt werden konnte. Aber auch danach blieb die Konsolidierung überwiegend eine äußerliche. Dabei wurde bedeutsam, dass die Bundesrepublik für die Führung wie für die Bevölkerung der DDR ein, wie sich zeigte, nicht erreichbarer Maßstab blieb, an dem man den eigenen Erfolg bzw. Misserfolg maß. Auch im Zeichen der deutschen Teilung blieb die Geschichte der beiden Gesellschaften somit eng, wenn auch „asymmetrisch“ (Christoph Kleßmann) miteinander verflochten.

Während der 1971 in der DDR-Führung vollzogene Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker nicht den erhofften Umschwung brachte, wurden die 1960er und beginnenden 70er Jahre in der Bundesrepublik zu einer Phase wichtiger Veränderungen. Politisch bedeutete der Regierungswechsel von 1969 hin zu einer sozialliberalen Koalition einen wichtigen Einschnitt, nachdem bis dahin die CDU/CSU alle Bundesregierungen geführt hatte. Gesellschaftlich kam es zu einer weiteren Liberalisierung und Pluralisierung. Entsprechende Trends hatten bereits deutlich vor dem Höhepunkt der 68er-Bewegung eingesetzt, fanden aber in dieser ihren sichtbarsten Ausdruck. Dabei spiegelten sich die Veränderungen – in der Frauenemanzipation (Frauenbewegungen), in Bürgerinitiativen oder der Umwelt- und Friedensbewegung – zunehmend auch im politischen wie privaten Alltag wider. Ökonomisch läuteten v. a. die 70er Jahre das Ende der klassischen, im 19. Jh. entstandenen Industriegesellschaft ein. Flexibilität, die Betonung der Bedeutung von Wissen und Ausbildung, der Rückgang des Anteils klassischer Produktionsbetriebe, aber auch wachsende Unsicherheiten für den Einzelnen sowie verstärkte internationale Konkurrenz prägten nun die Arbeitswelt. Außenpolitisch schließlich leitete die sozialliberale Koalition mit der „neuen Ostpolitik“ eine wiederum stark international geprägte Entspannungspolitik gegenüber den osteuropäischen Staaten sowie der DDR ein, von der auch die seit 1982 amtierende Koalition aus CDU/CSU und FDP nicht grundsätzlich abrückte.

3. Deutschland in der Welt nach 1989/90

Der durch die Öffnung der Berliner Mauer am 9.11.1989 rasant beschleunigte Zusammenbruch der DDR erklärt sich durch ein Zusammenspiel aus äußeren wie inneren Entwicklungen (Bürgerrechts- und Protestbewegung in der DDR [ Bürgerrechtsbewegungen ], Reformpolitik und politische Umstürze in der Sowjetunion sowie in Polen und Ungarn, zunehmende Schwäche des DDR-Regimes und „Vorbild“ BRD). Gemeinsam mit der am 3.10.1990 formal vollzogenen Wiedervereinigung leitete der Mauerfall für Deutschland die vorerst letzte Etappe der modernen Geschichte ein. Diese war einmal mehr geprägt von nationalen wie internationalen Zusammenhängen und Problemstellungen. Im Innern waren die Jahrzehnte um 2000 von dem schwierigen Vereinigungsprozess ebenso geprägt wie von verschiedenen Reformbemühungen und Umbauten des Sozialstaats, wobei der bereits in den 70er und 80er Jahren einsetzende neue Internationalisierungsschub eine Rolle spielte. Andere Entwicklungen betrafen die durch die medial-digitale Wende ausgelösten Veränderungen, die in Schlagwörtern wie „Web 2.0“ oder „Wirtschaft 4.0“ (Digitalisierung) ihren Ausdruck fanden. Weitere die Epoche der jüngsten Geschichte prägende und die deutsche Gesellschaft innen- wie außenpolitisch bestimmende Momente waren die Gefahr des internationalen Terrorismus, die Frage, wie die europäische Integration (Europäischer Integrationsprozess) von mittlerweile 28 Mitgliedstaaten der EU fortgeführt werden konnte, sowie die seit der Jahrtausendwende immer sichtbarere Krise der internationalen Ordnung. Krisenherde im Nahen und Mittleren Osten (Naher Osten), aber auch in Europa (Jugoslawienkriege 1991–95, Ukraine-Krimkrise 2014/15), bestimmten die Außenpolitik und sorgten für Diskussionen über die internationale Rolle Deutschlands. In der Gesamtschau zeigte sich eine Vielzahl von Entwicklungen, die die Epoche nach 1989/90 im Innern wie nach außen zunehmend von den Problemstellungen des „kurzen 20. Jh.“ oder des „langen 19. Jh.“ entfernten, die die Geschichtsschreibung bisher aber v. a. in ihren einzelnen Dimensionen erfasst hat.

Für jede der vorgestellten Themen und Teilepochen liegt eine große Zahl unterschiedlicher Interpretationen vor. Dabei zeigt sich in Übereinstimmung mit Tendenzen in der allg.en Geschichte auch in der Forschung zur modernen d.n G. seit einiger Zeit eine Betonung internationaler Momente. Neben „Modernisierung“ oder „Industrialisierung“ (Industrialisierung, Industrielle Revolution wird wachsende „Inter- und Transnationalität“ bzw. „Globalisierung“ als ein Grundzug verstanden, mit dem nicht nur die unmittelbar zurückliegenden Jahrzehnte, sondern wichtige Aspekte der modernen Geschichte überhaupt begriffen werden können. Aus Sicht der meisten Interpreten bedeutet dies keineswegs, dass die Bedeutung des Nationalstaates (Nation, Nationalismus) – oder die regionaler und lokaler Entwicklungen – verschwindet. Im Gegenteil: Auch die d. G. gilt es als ein Wechselspiel unterschiedlicher Maßstabsebenen zu beschreiben, von denen die nationale nur eine, im modernen Bewusstsein allerdings häufig sehr wichtige ist. Große Aufmerksamkeit haben in jüngerer Zeit neben klassisch politik- und sozialgeschichtlichen Themen auch solche zu – im weiten Sinne – kulturhistorischen Aspekten gefunden. Hierbei rücken bes. auch langfristige Prägungen in den Blick, sei es in einer lange durch autoritäre Werte und Normen bestimmten deutschen politischen Geschichte oder in einer im bes.n Maße stabilitätsorientierten Wirtschaftskultur. Deutlich weniger national ausgeprägt sind bisher weitere jüngere Themenfelder, wie die Umwelt- und Ressourcengeschichte oder die schon länger existierende Gendergeschichte (Gender). Dass auch die Geschichtsschreibung zur modernen d.n G. von diesen Forschungen im hohen Maße profitiert, steht außer Frage.