Imperialismus

Mit I. wird historisch insb. die Herrschaft europäischer Staaten, aber auch der USA sowie Japans über andere Teile der Welt zwischen dem letzten Drittel des 19. Jh. und dem Ende der großen Kolonialreiche in der zweiten Hälfte des 20. Jh. bezeichnet. I. in diesem Sinne unterscheidet sich vom Kolonialismus der Frühen Neuzeit ebenso wie von einem weiteren, häufig politisch gebrauchten Verständnis, das unter I. jegliche Form asymmetrischer Machtbeziehungen zwischen Staaten und Gesellschaften fassen kann und das meist in kritischer Absicht verwendet wird. In Abgrenzung von solchen Begriffsbestimmungen wird v. a. die Phase zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg auch als Zeitalter des klassischen I. oder als Hoch-I. bezeichnet.

1. Formen

Das Ausgreifen der imperialistischen Mächte in die Welt fand im 19. und 20. Jh. auf unterschiedliche Weise statt. Von der sog.n direkten Ausübung von Herrschaft über fremde Territorien (direkter oder formeller I.) sind v. a. mittelbare Formen von Kontrolle zu unterscheiden. Dieser indirekte oder informelle I. bestand etwa in der Einsetzung von Beratern oder Beratergremien, die dann die eigentliche Macht ausübten, aber auch in der Vergabe von ökonomischen Konzessionen bzw. rechtlichen Privilegien an die imperialen Staaten und deren Vertreter. Innerhalb des direkten I. ist zwischen Formen zu unterscheiden, bei denen offizielle Protagonisten und Institutionen der imperialen Staaten Kontrolle über die einheimische Bevölkerung ausübten, und solchen, bei denen trotz der formalen Besitzergreifung einheimischen Eliten die Ausübung der Herrschaft vor Ort überlassen wurde (indirect rule). Zu den in der Forschung umstrittenen Formen gehört der sogenannte Freihandels-I., wie er für die erste Hälfte des 19. Jh. beschrieben worden ist. Dabei handelt es sich um die ökonomische Durchdringung fremder Gebiete als eigenständiges Ziel, die nur im Notfall durch direkte Kontrolle ersetzt wurde.

Hinsichtlich der Typen von Kolonien lassen sich v. a. Siedlungskolonien von Herrschaftsgebieten unterscheiden, in denen die wirtschaftliche Ausbeutung im Zentrum stand, etwa durch intensive Plantagenwirtschaft. Während Siedlungskolonien im Regelfall nach und nach politische Autonomierechte erhielten, blieben Pflanz- und Plantagenkolonien meist den europäischen Zentren direkt unterstellt, ohne der einheimischen Bevölkerung Autonomierechte zu gewähren. Praktisch immer einher ging I. mit Gewalt. Diese reichte von alltäglicher Gewalt, wie z. B. der „Züchtigung“ von Einheimischen, über „Straf-“ und Polizeiaktionen bis zu regelrechten Kolonialkriegen, die regelmäßig mit besonderer Brutalität geführt wurden und in manchen Fällen, wie dem deutschen Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika, zu Genozid (Völkermord) führten bzw. genozidale Formen annahmen. Grundsätzlich wurde die imperialistische Politik von den Bevölkerungen in den Kolonialstaaten unterstützt. Dessen ungeachtet führten gewalttätige Auswüchse regelmäßig zu öffentlichen und politischen Skandalen. Auch während des Hoch-I. darf damit die I.-Kritik in den kolonisierenden Staaten nicht übersehen werden.

2. Verlauf

Der Beginn des Zeitalters des klassischen I. wird gemeinhin mit der Errichtung eines französischen Protektorats über Tunesien im Jahr 1881 sowie der britischen Okkupation Ägyptens ein Jahr später angesetzt. In rascher Folge erwarben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten europäische Staaten weitere Territorien, überwiegend in Afrika („Scramble for Africa“), aber auch in Asien oder der Südsee. Von den vorherigen Phasen des Kolonialismus unterschied sich der Hoch-I. ab 1880 damit durch das quantitative Ausmaß direkter Herrschaft, durch die Beteiligung weiterer Länder wie Belgien, dem Deutschen Reich oder Italien sowie durch das Ziel, zusammenhängende und territorial vollständig durchdrungene Kolonialreiche zu schaffen (u. a. „Kap-Kairo-Linie“ im britischen Empire, „Deutsch-Mittelafrika“ als deutsches Kolonialziel). Bis 1914 waren so neben Ägypten u. a. der Sudan, Uganda, das heutige Kenia, Rhodesien, Britisch-Somaliland und Nigeria unter britische Herrschaft gekommen. Frankreich erwarb fast ganz Nordafrika westlich von Ägypten und dem Sudan sowie Madagaskar und Teile des Kongo. Zu den größeren Kolonialstaaten in Afrika gehörten zudem Belgien (Belgisch-Kongo), Portugal (Angola und Moçambique) und Italien (Libyen, Eritrea, Italienisch-Somaliland). Das Deutsche Reich errichtete Kolonien in Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun (alle 1884) sowie Deutsch-Ostafrika (1885). Im asiatisch-pazifischen Raum erweiterte Großbritannien seine Herrschaft an der Ostgrenze Indiens (Oberburma 1886) sowie in Teilen Borneos (ab 1881). Frankreich schloss 1887 verschiedene Gebiete Südostasiens zu Französisch-Indochina zusammen (u. a. Kambodscha und Vietnam). Das Deutsche Reich erwarb neben verschiedenen pazifischen Inselgruppen Teile Neuguineas (1885) sowie 1898 im Zuge ähnlicher Aktionen anderer europäischer Mächte die Hafenstadt Qingdao auf dem chinesischen Festland. Zu den traditionellen Kolonialmächten im asiatisch-pazifischen Raum gehörten die Niederlande, die im Laufe des 19. Jh. ihre Herrschaft in Indonesien erheblich ausweiteten. Unter den nicht-europäischen Imperialmächten erwarben die USA als Folge des amerikanisch-spanischen Krieges 1898 die Philippinen. Japan brachte 1905/1910 Korea in seinen Besitz. Das russische Kolonialreich bildete insofern einen Sonderfall als es an das eigene Kernterritorium angrenzte. Nichtsdestotrotz kam es auch hier im Zeitalter des klassischen I. v. a. in Mittel- sowie Ostasien zu einer erheblichen Ausweitung des Imperiums. Zu den wichtigsten Zielregionen des informellen I. zählten vor 1914 das Osmanische Reich, China und Persien.

Mit Ausnahme der deutschen Kolonien blieben die Kolonialreiche nach dem Ersten Weltkrieg zunächst bestehen oder wurden sogar noch ausgebaut (Übernahme von ehemals deutschen bzw. osmanischen Gebieten als Mandate des Völkerbunds, italienische Annexion Äthiopiens 1936, japanische Besetzung der Mandschurei 1931). Auf der anderen Seite hatte der Erste Weltkrieg aber auch deutlich die Schwäche der Kolonialstaaten gezeigt bzw. war der Krieg mit einer Delegitimierung europäischer Herrschaft über außereuropäische Territorien einhergegangen. Das sich damit ankündigende Zeitalter der Dekolonisation zeigte sich zunächst in den britischen Dominions, die im Statut von Westminster 1931 auch formal die Unabhängigkeit von der britischen Regierung erhielten. Auch in Indien erhielt die Unabhängigkeitsbewegung durch den Ersten Weltkrieg einen massiven Schub, erreichte bis zum Zweiten Weltkrieg allerdings nur kleinere Zugeständnisse von den Briten. Im Fall der afrikanischen Kolonien kam es in der Zwischenkriegszeit v. a. zur Ausbildung antikolonialer Eliten, deren Repräsentanten dann nach 1945 die Unabhängigkeitsbewegungen anführten.

Der Zweite Weltkrieg brachte den endgültigen Durchbruch zur Auflösung der Kolonialreiche. 1947 wurden Indien und Pakistan unabhängig. Zum entscheidenden Jahr der afrikanischen Dekolonisation wurde das Jahr 1960, in dem fast 20 Staaten die Unabhängigkeit erlangten. Zu längeren antikolonialen Kämpfen bzw. Unabhängigkeitskriegen kam es v. a. in Vietnam (ab 1946), Algerien (ab 1954) oder auch in Indonesien (ab 1945/46). Heute existieren nur noch Restbestände der einstigen Kolonialreiche (z. B. Überseegebiete in der Karibik, Falklandinseln, Französisch-Polynesien).

3. Interpretationen

Frühe Begründungen des I. argumentierten ökonomisch oder mit der vermeintlichen kulturellen Überlegenheit der Kolonisatoren. Gerade im Zeitalter des klassischen I. spielten aber auch geostrategische, machtpolitische sowie Fragen des nationalen Prestiges eine Rolle. Insb. in den Jahrzehnten um 1900 schien Zeitgenossen der Großmachtstatus ihres Landes an den Besitz von Kolonien gekoppelt. Im späten 19. Jh. entstanden zunehmend rassistische Begründungen (Rassismus), die den I. auf die Überlegenheit der eigenen Rasse gründeten. Wichtige frühe I.-Theorien entwickelten der britische Ökonom und Journalist John Atkinson Hobson sowie der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der in einer zuerst 1917 erschienenen Schrift den I. aus dem kapitalistischen Weltmarkt sowie den Bedürfnissen des Monopolkapitals heraus erklärte. V. a. in der deutschen Geschichtswissenschaft wurde die Theorie des „Sozialimperialismus“ von Hans-Ulrich Wehler einflussreich, die den I. als Politik verstand, mit der die herrschenden Eliten innenpolitische Probleme und soziale Spannungen nach außen abzuleiten versuchten. Die Rolle der Kolonisten vor Ort bei der imperialen Besitzergreifung betont eine Deutung, die wie die Diskussion um den Freihandels-I. auf die beiden britischen Historiker Ronald Robinson und John Gallagher zurückgeht („men on the spot“).

Heutige Interpretationen versuchen den I. als ein Zusammenspiel komplexer Akteursstrukturen zu deuten. Zu den politischen, ökonomischen, aber auch kirchlichen (Missionen und Missionare) Akteuren aus den europäischen „Zentren“ kamen die innereuropäischen Rivalitäten sowie die keineswegs nur von den Europäern bestimmten Akteursstrukturen in der „Peripherie“. Gerade in der ersten Phase europäischer Herrschaft mochten die Kolonisierenden lediglich als ein weiterer Akteur in vorhandenen Machtstrukturen vor Ort erschienen sein. Aber auch danach blieb die Kontrolle in vielen Fällen noch lange brüchig. Sehr viel stärker als die ältere weist die jüngere Forschung so auf die Grenzen bzw. Schwäche imperialer Kontrolle hin. Zumindest bis Anfang des 20. Jh. blieb koloniale Herrschaft in vielen Gebieten ein temporäres sowie regional bzw. lokal stark beschränktes Phänomen. Wichtige Impulse erhielt die historische Forschung durch die in den 1970er Jahren aufkommenden postcolonial studies (Postkolonisalismus) und insb. durch das Werk des Literaturwissenschaftlers Edward Said. Dieser analysierte den I. als einen Diskurs, durch den sich Europa seiner vermeintlichen Überlegenheit versicherte, die außereuropäische Welt als das unterlegene Andere konstruierte und so imperiale Macht legitimierte. Indem sie die darauf beruhende koloniale Kultur dekonstruieren, bemühen sich postkoloniale Autoren den imperialen „Objekten“ ihre Stimme zurückzugeben und z. B. auch die vielen Wirkungen der außereuropäischen Welt auf die kolonisierenden Staaten und Gesellschaften zu zeigen.

4. Folgen

Das imperialistische Ausgreifen in die Welt hat bestehende Ordnungen zerbrochen, Wirtschaftsstrukturen zerstört und direkt oder indirekt Millionen von Opfern gefordert. Dabei beschränken sich die Folgen nicht auf den politischen und ökonomischen Bereich. So hat der I. ideengeschichtlich den Nationalstaat als dominantes staatliches Ordnungsmuster überall auf der Erde verbreitet und z. B. ökologisch zur Umgestaltung ganzer Landschaften geführt. Darüber hinaus ist seine Rolle bei der zunehmenden „Uniformierung“ (Bayly 2008) der Welt unverkennbar. I. verbreitete nicht nur politische, ökonomische oder kulturelle Normen, Werte und Techniken, er schuf auch neue Verbindungswege bzw. Verbindungsräume. I. und moderne Globalisierung sind so eng verbunden. Nach wie vor umstritten ist die Frage nach den Folgen bis heute. Während bei Migrationsbewegungen (Migration) nach Europa bis in die Gegenwart die imperialen Verbindungen zu erkennen sind und z. B. im Nahen und Mittleren Osten die Brüchigkeit der auf den I. zurückzuführenden Grenzziehungen immer wieder deutlich wird, ist in den letzten Jahrzehnten etwa für Afrika viel über die Erklärungskraft der imperialen Geschichte für die heutige Situation diskutiert worden. Die bereits 1969 von Jacob Festus Ade Ajayi vorgetragene These, wonach der I. in der langen afrikanischen Geschichte nicht mehr als eine „Episode“ (Ajayi 1969) gewesen sei, hat sich insgesamt aber nicht durchgesetzt. Der I. hat gerade in Afrika zweifellos massiven Einfluss auf die weitere Geschichte genommen. Gerade aus postkolonialer Sicht ist dennoch davor gewarnt worden, seine Erklärungskraft für die weitere Geschichte der kolonisierten Gesellschaften zu stark zu betonen und damit die imperiale Sichtweise einer europäischen Dominanz bis heute fortzuschreiben.