Unabhängigkeitsbewegungen

Unter U. versteht man Gruppierungen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, eine nationale oder ethnokulturelle, religiöse, soziale oder tribale Einheit aus einem gegebenen Staatsverband zu lösen, um realen oder imaginierten Unterdrückungssituationen oder Ungerechtigkeiten zu entgehen und um nationale, kulturell religiöse oder soziale Selbstbestimmung (Selbstbestimmungsrecht) zu erlangen. Dabei unterscheiden sich U. von Bewegungen, denen es um bloße Autonomie innerhalb eines Staatsverbandes geht, durch das höhere Maß an Radikalität, aber nicht notwendig durch ein gesteigertes Maß an Militanz. U. sind nicht notwendig gewalttätig, wie etwa die schottische, frankokanadische und katalanische U. der Gegenwart belegen. Zudem können Autonomiebewegungen in U. ebenso umschlagen, wie sich, nach Erfüllung gewisser Mindestforderungen, U. zu Autonomiebewegungen zurückentwickeln können wie etwa in Québec.

In einem gewissen Sinn hat es U. in der Geschichte immer gegeben, insb. im Kontext größerer Reichsverbände und Imperien. Man kann etwa mit guten Gründen die These vertreten, die jüdischen Aufstände gegen das Seleukidenreich unter den Makkabäern (ab 166 v. Chr.) oder gegen das Imperium Romanum (66–73 und 132–35) seien nationalreligiöse U. gewesen. Ähnliches kann vom Aufstand der Eidgenossen gegen die Herrschaft des Hauses Habsburg (ab 1386) oder vom Unabhängigkeitskrieg der Niederländer gegen die Spanier (1568–1648) gesagt werden. Allerdings läuft man dann Gefahr, die Komplexität imperialer und reichischer Verfassungskonstellationen, die durchaus höchst unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit und Autonomie kannten, ahistorisch zugunsten moderner Ideen von homogener Nationalstaatlichkeit zu übersehen. Mehr Sinn macht es, im Interesse epochenübergreifender Vergleichbarkeit einerseits von einem weiteren Sinn von U. zu sprechen, der die oben genannten Phänomene einzubeziehen vermag, anderseits sich im Interesse größerer analytischer und begrifflicher Präzision auf U. in der Neuzeit, also vor dem Hintergrund nationalstaatlicher Verdichtungs-, Territorialisierungs-, Vereinheitlichungs- und Sozialdisziplinierungsmaßnahmen mit dem Ziel größtmöglicher ethnischer, kultureller, sozialer und religiöser Homogenität, zu konzentrieren. Ausgehend von der zweiten Begriffsverwendung kann man den Beginn moderner U. auf das ausgehende 18. Jh. ansetzen, wo in einem relativ kurzen Zeitraum die Revolutionen in Nordamerika, auf Kuba und in Frankreich sowie Lateinamerika (alle zwischen 1765 und 1820) zu einer ersten Massierung von U. geführt haben. Sie alle entstanden aus der Dialektik von reichisch-imperialen und nationalstaatlichen Dynamiken und den daraus resultierenden strukturellen Friktionen von Zentrum und Peripherie, wobei sich sowohl das Ringen um die imperiale Hegemonie zwischen Großbritannien und Frankreich im 18. Jh. wie die französischen Revolutionskriege mitsamt den Napoleonischen Kriegen als Jahrhundert-Katalysatoren der Entwicklung erwiesen. U. und die krisenbedingte systemische Destabilisierung der Mächtebeziehungen im spätkolonialistischen (Kolonialismus) Zeitalter bedingten sich gegenseitig. Mit dem Ende dieser ersten Destabilisierungsphase des internationalen Systems nach dem Wiener Kongress (1815) und dem Aufkommen des Hochimperialismus (Imperialismus) im späten 19. Jh. ließ die Dynamik von U. partiell nach. Aber v. a. in Europa, wo etwa die Polen die Loslösung vom zarischen Reichsverband anstrebten (1831), fanden sich U., die gleichfalls von der Spannung zwischen Nationalismus und Reichsloyalität profitierten. Mit dem Ersten Weltkrieg (1914–18) und dem Ende der supranationalen Imperien der Habsburger, Romanows und Osmanen (weniger des bereits primär national ausgerichteten Hohenzollernreiches) gewannen die U. nationaler Minoritäten, die teilweise schon in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg unter den nationalen Homogenisierungsbestrebungen der jeweiligen Staatsvölker gelitten hatten, neues Gewicht. Dabei konnten sich nicht alle ethnischen Minderheiten nationalstaatlich konstituieren (Kurden, Kroaten, Slowaken). Oft lag dies an den inhomogenen Siedlungsstrukturen, etwa im Vorderen Orient und auf dem Balkan. Mit dem offenkundigen Sieg des nationalen Gedankens aber wurden neue supranationale Staatsgebilde, z. B. Jugoslawien, der Irak, Italien, Ungarn, Russland, aber auch das 1831 geschaffene Belgien (die ehemals spanischen Niederlande), von nationalistischen U. im Inneren destabilisiert. Einige dieser Spannungen sind bis heute nicht beigelegt worden. In Großbritannien führte der Konflikt zwischen den dominanten angelsächsischen Protestanten und den irischen Katholiken zu deren U., die erst in die Gründung des irischen Freistaates (1921) und dann in den gewaltsamen, inzwischen aber deeskalierten Nordirlandkonflikt mündete (ab 1969).

Der Zweite Weltkrieg, insb. die raschen Niederlagen der europäischen Kolonialmächte (Frankreich, Niederlande, Großbritannien, aber auch der USA auf den Philippinen) gegen Deutschland und primär Japan führte zu einem neuerlichen systemischen Kollaps, der dann durch den binären Mächtekonflikt zwischen den USA und ihren oft imperialistischen Alliierten und der kommunistischen, offen antiimperialistischen UdSSR (die paradoxerweise selbst ein supranationales Staatsgebilde darstellte) intensiviert wurde, zumal die USA sich in den 1940er und 1950er Jahren als antiimperialistische Macht profilierten. Im Gefolge dieses Kollapses radikalisierten sich bereits vorhandene U., z. B. in Indien, oder wandelten sich afrikanische Autonomiebewegungen zu U. In den 1950er bis 1970er Jahren kam es zu einer neuerlichen Welle von Unabhängigkeitskriegen, in denen sich nationale und tribale, aber auch religiöse Motivlagen überschnitten. Man denke etwa an die drei tribal wie weltanschaulich konfligierenden U. in Angola ab 1961 (Movimento Popular de Libertação, Frente Nacional de Libertação de Angola, União Nacional para a Independência Total de Angola) oder die Gründung des islamisch-indischen Staates Pakistan. Aus dem antikolonialen Kampf entstanden prekäre Staatsgebilde, in denen die ehemaligen U. oft den Charakter zwangshomogenisierender Staatsparteien annahmen, was zu weiteren, nachfolgenden Unabhängigkeitsbestrebungen führte (Biafra, Cabinda, Amboina, Osttimor, Südsudan, Eritrea). Fast gleichzeitig traten im Bereich des politischen Islam (Islamismus) religiös motivierte U. auf, so der IS, der ab 2014 gegen den postkolonialen Laizismus der Ba’ath-Regime im Irak und Syrien antrat.

Eine dritte große Welle von U. ergab sich aus dem Kollaps des sowjetischen Hegemonialsystems nach 1980. In Osteuropa und dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion beschleunigte sich der Trend zu nationalistischen U., die mitunter (so in Weißrussland, der Ukraine, Kirgisien, Tadschikistan) von spätstalinistischen Kadern instrumentalisiert wurden. In den baltischen Staaten setzten sich demgegenüber, wie in Georgien und Armenien, prowestliche Regime durch. Auch der neue russische Staat musste sich, etwa in Tschetschenien, mit nationalislamistischen U. auseinandersetzen. In der ehemaligen Č̌SSR kam es zur friedlichen Abspaltung der Slowakei, während das ehemalige Jugoslawien ab 1992 infolge des militanten serbischen und kroatischen Hegemonialstrebens sowie wegen der Islamisierungstendenzen in Bosnien und dem Kosovo in einer Abfolge von Kriegen zerfiel. Die anschließenden U. der Zeit seit 2005 sind v. a. in Europa eher friedlicher Natur (Flamen, Schotten, Katalanen, Basken) und versuchen, den verfassungsrechtlichen Spielraum der jeweiligen Nationalstaaten für ihre Interessen auszunutzen.