Kolonialismus

1. Begriffsbestimmung

Begriffsgeschichtlich bezeichnet der K. die Begründung von Kolonien im Prozess der Kolonisation. Das Phänomen ist so alt und universal verbreitet wie die Menschheitsgeschichte. Zugleich ist es ein Brennglas für die durch die Kolonialherrschaft geschaffenen asymmetrischen Machtverhältnisse weltweit wie für die situative kulturelle Fremdherrschaft. Es ist also nicht allein auf den (west-)europäischen K. seit der Frühen Neuzeit beschränkt, sondern betrifft auch die koloniale Ausdehnung Persiens, Russlands, Japans usw.

Von lat. colere, bebauen, abgeleitet, ist die Kolonie als eine Ansiedlung bzw. Niederlassung zu verstehen (antike coloniae). Mithin stellt die Kolonisation die Praxis des Transfers von Menschen, Tieren, materiellen Gütern, Lebensweisen und Ideen in ein neu zu besiedelndes, keineswegs aber zwangsläufig unbesiedeltes Territorium dar. Die koloniale Ausdehnung in und Erschließung von Territorien geht prinzipiell einher mit Gewalt und wurde in der europäischen Naturrechtslehre (Francisco de Vitoria, John Locke etc.; Naturrecht) zumeist mit dem Einsatz von Arbeit (Ackerbau, Viehzucht) legitimiert; dies betrifft auch die bewohnten Territorien Nordamerikas oder Australiens, aus denen die indigene Bevölkerung vertrieben bzw. systematisch ausgerottet wurde. Dem lag ein spezifischer Überlegenheitsanspruch seitens der Kolonisatoren zugrunde.

Aus diesem Grund politisch-ideologisch ebenso aufgeladen wie der Imperialismus, sind beide Begriffe historisch eng aufeinander bezogen, doch exakt voneinander zu trennen. Imperialismus verweist auf die direkte und/oder indirekte Ausübung von politischer, ökonomischer, militärischer, administrativer, kultureller und geistiger Macht und Fremdherrschaft über Andere, die sich etwa in Formen der kolonialen Besiedlung abbildet. Ihrer Überwindung als Vorgang der De- bzw. Entkolonisierung ist das historisch Prozesshafte so eigen wie der Kolonisierung bzw. der Kolonisation; beide sind gleichermaßen von inneren wie äußeren Faktoren motiviert. Dazu gehören Widerstände gegen den K. ebenso wie Handlungsspielräume der Kolonisierten bis hin zur Kooperation.

Die begrifflich gesteigerte Form des „Kolonialimperialismus“ bringt die ideologische Spannung zum Ausdruck, wie sie insb. im Zeichen des Kalten Krieges üblich gewesen war. Für Wladimir Iljitsch Lenin (1917) war im Anschluss an Karl Marx und John Atkinson Hobson der K. die logische Konsequenz der Akkumulation von Kapitalismus. Koloniale Ausdehnung mit dem Ziel konkurrenzloser Hegemonie wurde v. a. vor dem Hintergrund der erfolgreichen Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) in Europa, der kapitalistischen Ausbeutung und der Schaffung eines Weltmarktes gesehen (Eric John Ernest Hobsbawm). Der Nutzung der natürlichen Ressourcen inkl. der menschlichen Arbeitskraft (Sklaven-, Kontrakt- und Zwangsarbeit) stand der Absatz industrieller Massenprodukte aus den „Mutterländern“ gegenüber. Noch Immanuel Wallerstein hat sich in seiner Weltsystemtheorie (1974–89) davon leiten lassen, die Welt in der Logik des K. als zweigeteilte zu betrachten, in der alle Herrschaftsmethoden dem Primat der Ökonomie folgten.

Der Post-K. hat dieses Defizit dadurch zu überwinden versucht, dass er in Anwendung der Diskursanalyse (Michel Foucault) und des Hegemoniebegriffs (Antonio Gramsci) sowie der Literaturtheorie und der Psychoanalyse bes. auf Faktoren wie Wissen, Kultur, Erzählung, Diaspora, Repräsentation und das Beziehungsgeflecht von Wissen, Sprache und Macht achtete (Edward Wadie Said, Gayatri Chakravorty Spivak, Homi K. Bhabha). Hieran schließen sich die Konzepte des Orientalismus und des „Subalternen“ (Dipesh Chakrabarty, Partha Chatterjee u. a.) an, die aus poststrukturalistischer Perspektive davon ausgehen, dass der „westliche“ K. die Konstruktion des „Anderen“, also des Kolonisierten, als Gegenfolie zu sich selbst zwingend benötigte. Dekolonisierungstheorien hoben schließlich historische Kategorien wie Ungleichheit, (nationale) Identität, Gewalt bis hin zur Revolution hervor.

2. Geschichte und Formen

In weltgeschichtlicher Hinsicht ist die Existenz von Kolonialreichen der Normalfall – ein anderer, ehemals eine Kolonie gewesen zu sein. Die USA bilden eine Ausnahme, weil sie Kolonie und Kolonialbesitzer waren, die Schweiz war weder das eine noch das andere. Viele Staaten aber sind entstanden, indem sie sich entweder durch Unabhängigkeitskriege von Imperien trennten (USA, Haiti, Indonesien, Algerien, Vietnam), im imperialen Kontext allmählich politische Autonomie entwickelten (Kanada, Neuseeland, Australien), ein mehr oder weniger geordneter Machttransfer bewerkstelligt werden konnte (Ägypten, Ghana, Philippinen, Indien, Pakistan) oder nach dem Zusammenbruch der imperialen Machtzentren als Restbestände übrig blieben (Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie). Nachdem die portugiesische Königsfamilie vor Napoleon Bonaparte nach Brasilien geflüchtet war, erlangte diese größte Kolonie bereits 1822 ihre Unabhängigkeit. So ist generell der Dekolonisierungsschub Südamerikas (Chile machte 1810 den Anfang) von den entsprechenden Entwicklungen in Afrika und Asien nicht nur zeitlich, sondern v. a. strukturell zu unterscheiden.

Stets spielte die koloniale Binnendynamik eine umso wichtigere Rolle, je größer ein Reich war. Gleich ob Imperium Romanum, spanisches Kolonialreich der Frühen Neuzeit oder britisches Empire vom 17. bis zum 20. Jh. – was sie einte, war die Reichsperspektive von zentralisierter Macht, die Funktionstüchtigkeit großräumiger Handelsbeziehungen, der Versuch kultureller oder religiöser Vereinheitlichung, die Behauptung zivilisierungsmissionarischer Überlegenheit (Sendungs- und Fortschrittsideologie), ein konstant gepflegtes Verkehrsnetz, der Einsatz von Funktionseliten (Elite) in Militär, Erziehung, Wissenschaft und Verwaltung sowie die symbolische Wirkung eines Königs, Kaisers, Sultans, Zaren, Tennos oder eines diktatorischen „Führers“ bzw. Duces.

Eine weitere Eigenschaft ist Transnationalität. Das Weltreich Karls V. zeichnete sich dadurch aus, portugiesische Ingenieure, italienische Bankiers, deutsche Kaufleute und irische Missionare zu integrieren; auch der niederländische oder osmanische K. hätte auf die Expertise anderer Kolonialreiche nicht verzichten können. Ihr Entstehen einten überdies i. d. R. kapitalistisches Wachstum, Phantasien der Weltbeherrschung, die Erschließung der Welt durch europäische Produktionsweise und Kultur, Handel und Markt, die Übertragung „westlicher“ Vorstellungen von Staatlichkeit, die Ablenkung innenpolitischer Spannungen über aggressiven, territorial ehrgeizigen Nationalismus und Militarismus sowie ein in Symbolen, Bauwerken, Titeln, Münzen, Hymnen, Zeremonien, Ideologien etc. sich spiegelnder herrscherlicher Rechtsanspruch.

Werden auch historisch Schübe der kolonialen Expansion unterschieden (die katholischen Weltreiche Portugals und Spaniens seit 1492; das protestantische niederländische Kolonialreich im 17. Jh.; die britische und französische Expansion insb. im 18. und 19. Jh.; die Globalisierung des K. 1870–1945), so hat es doch die diversen Formen von Kolonien zu jeder Zeit gegeben:

a) Stützpunktkolonien (Handelskolonien), die der Erschließung (nicht systematischen Durchdringung) eines Hinterlandes dienten oder Kontrolle über maritime Räume ausübten (Macao, Hongkong, Singapur, Aden, Gibraltar, Malta);

b) Beherrschungskolonien mit dem Zweck wirtschaftlicher Ausbeutung, der Errichtung von Handelsmonopolen und des Prestigegewinns (Philippinen, Taiwan, Britisch-Indien, Togo, Indochina);

c) Siedlungs- bzw. Plantagenkolonien, gekennzeichnet von durch „weiße“ Farmer und Siedler gegenüber der indigenen Bevölkerung ausgeübte Verdrängungs- und Vernichtungsgewalt, die sich auch noch im Prozess der Dekolonisation äußerte (Algerien, Südrhodesien, Angola, Jamaika, Barbados, Kuba, Kanada, Australien).

Kontinentalgeschichtlich beschrieben, erfasste der erste Schub des K. insb. die Amerikas, Indien, Indonesien und auch Sibirien (russisches Reich seit 1552), während der zweite sich auf Afrika und den vorder- sowie ostasiatischen Raum erstreckte. Den merkantilistischen Kolonialreichen war noch vornehmlich am Handel mit Edelmetallen und luxuriösen Konsumgütern (Gewürze, Zucker, Tabak, Kakao, Kaffee, Tee, Opium, Seide, Baumwolle, Felle, Elfenbein) gelegen, was neben der Ausbeutung der Naturressourcen und dem erzwungenen Handel v. a. die Versklavung weiter Teile der kolonisierten Bevölkerung beförderte, bis Großbritannien 1807 den Sklavenhandel und 1833 die Sklaverei in allen Kolonien verbot. Frankreich folgte hierin 1848, Brasilien erst 1888. Faktisch aber bestand die Sklaverei in Gestalt eines K. ohne Kolonien bis weit in das 20. Jh. fort.

3. Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Im langen 19. Jh. zwischen Amerikanischem Unabhängigkeitskrieg und den großen anti-kolonialen Nationalisierungswellen war der K. eine Angelegenheit aller gesellschaftlichen Schichten und berührte die europäische Arbeiterschaft, Bürgertum und Aristokratie in je eigener Hinsicht. Er stellte ein die Gesellschaftsschichten einigendes ideologisches Band dar. Seine inkludierende (Kolonialvereine, Kolonialausstellungen, Literatur etc.) und exkludierende (Rassismus, Stereotypen etc.) Wirkung war im deutschen Kolonialreich nicht grundsätzlich anders als im japanischen. Sie setzte sich auch im Zeichen des Kolonialrevisionismus nach dem Verlust der formalen Kolonien fort. Systematische Gewaltanwendung durch Strafexpeditionen, Zwangsumsiedlungen etc. bis hin zum Völkermord durch koloniale Herrschaft war denjenigen Kolonialismen eigen, die sich etwa auf sozialdarwinistische Theorien und Praktiken (Sozialdarwinismus) des Rassismus stützten. Hierfür spielte die zeitgenössische Obsession mit der vermeintlich wissenschaftlichen Klassifikation aller Lebewesen (Ethnologie, Anthropologie) ebenso eine Rolle wie die für den K. essentielle Kolonialbürokratie. Systematisierte Verwaltung hat häufig zur Schaffung einer Territorialmacht geführt (Handelsimperium der East India Company in Bengalen, 1765).

Auch indirekte/informelle Kontrolle kolonisierter Gebiete zielte auf deren Ausbeutung. Dabei widersprach die Semantik von „Schutzgebieten“ oder „Kondominien“ der tatsächlichen rücksichtslosen Nutzbarmachung der Kolonien. „Protektorate“ waren gewissermaßen „Halbkolonien“, die die indigene vorkoloniale Staatsgewalt bewahrten, während sie die Fremdherrschaft akzeptieren mussten (Monarchie Marokkos im französischen Kolonialreich). Oftmals vollzog sich hier auch nach formeller Souveränität ein fast bruchloser Übergang zur neokolonialen Abhängigkeit von anderen Hegemonialpolitiken. Schon 1922 hatte Frederick John Dealtry Lugard das Konzept der indirect rule (dual mandate) formuliert, demzufolge einheimische politische Institutionen für die Lokalregierung (z. B. Eintreibung von Steuern) nutzbar gemacht werden sollten.

Eine Grenzverschiebung durch Besiedlung bzw. Landnahme und entsprechende Bevölkerungsverschiebungen wie in Nordamerika nach Westen oder in Südafrika nach Norden (frontier) ist demgegenüber nur bedingt als K. zu erfassen. Von der Forschung werden in diesem Zusammenhang inzwischen die Begriffe „Metropole/Zentrum“ und „Kolonie/Peripherie“ weniger als trennscharfe Gegensätze, sondern als Bestandteile eines multipolaren (Welt-)Systems aufgefasst, in dem zum einen die Beziehung zwischen den Kolonien, zum anderen die Optionen der Kooperation zwischen Herrschern und Beherrschten herausgearbeitet werden. Ohne Kooperation und Herrschaftswissen der indigenen Bevölkerung wären weder der europäische noch der nicht-europäische (US-amerikanische, japanische) K. durchsetzbar gewesen.

Inhaltlich sowie globalgeschichtlich anschlussfähig ist die Zivilisierungsmission, die sich im Spannungsfeld zwischen Legitimierungsdoktrinen des K. als „white man’s burden“ (Kipling 1899) und der (liberalen bis sozialistischen und marxistischen) politischen und moralisch-ethischen Kritik an diesem befindet. In der Rechtsphilosophie hat es seit jeher die Auseinandersetzung zwischen der Ausübung des „natürlichen Rechts“ auf koloniale Expansion und den universalen Prinzipien von Gleichheit und Freiheit gegeben. Ein Verteidiger dieser Prinzipien wie John Stuart Mill aber war selber Angestellter der britischen East India Company, und ein Verteidiger der Freiheiten Amerikas wie Alexis de Tocqueville legitimierte die französische Kolonisierung Algeriens von 1830. In diesen langen Traditionsbeständen haben sich K.-Theorien seit der frühen jesuitischen Auseinandersetzung mit der spanischen Herrschaft in Südamerika (Bartolomé de Las Casas) bis zur Kritik am Programm einer paternalistischen Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit (Zivilisierung als Modernisierung durch Stadtplanung, Erziehung, Gesundheitsvorsorge) nach dem Zweiten Weltkrieg befunden. Nicht-europäische Stimmen (Albert Memmi, Aimé Fernand David Césaire, Frantz Fanon etc.) haben freilich unermüdlich darauf hingewiesen, dass der Prozess der Kolonisation unabhängig von Zeit und Ort direkte Rückwirkungen auf die Brutalisierung und Deformierung der Kolonialgesellschaften „zu Hause“ hatte.

Auch deshalb ist es unzureichend, den K. chronologisch und geographisch auf bestimmte Epochen und Regionen zu beschränken. Vielmehr führt er in globalgeschichtlicher Perspektive zur Theorie des Neo-K., die auf weltweite strukturelle Abhängigkeiten, Nachwirkungen und Folgen der Geschichte der kolonialen Expansion verweist, die sich bis in die Gegenwart niederschlagen, in den ehemaligen Kolonialmächten nicht weniger als in den ehemals kolonisierten Regionen wie in denjenigen, die historisch weder kolonisierten noch kolonisiert waren. Die New Imperial History hat daher die Dezentrierung der prozesshaften Wirkungszusammenhänge betont und die einfache Rollenzuschreibung von Tätern und Opfern hinterfragt, ohne selbstverständlich damit die Verantwortlichkeiten für die Gewaltgeschichte des K. in Frage zu stellen.

Frederick Cooper zufolge greift die (konstruierte) Dichotomie zwischen Kolonisator und Kolonisiertem zu kurz und ist die „koloniale Situation“ (Balandier 1970) deutlich komplizierter als das Spannungsfeld zwischen Herrschaft, Widerstand und ggf. Kooperation. Gleich ob der von Adam Smith geforderte Freihandel (Freihandelsimperialismus) oder die Praxis von Schutzzöllen, die sich unter dem Eindruck einer Aufteilung Afrikas und Chinas um 1900 durchsetzte, oder die auf allmähliche Emanzipation bauende Politik in den Dominions des Britischen Empires (z. B. Kanada 1867) oder die direkte Fremdherrschaft mehrerer Mächte (z. B. in Ägypten seit dem 16. Jh.), die formelle militärische Besetzung und rücksichtslose, genozidale Kriegsführung (wie der Deutschen in Südwestafrika, der Briten in Südafrika) oder eher informelle wirtschaftliche Kontrollpraktiken (Europäer in Südamerika und Asien) – im Grunde war jede Form des K. eine höchst widersprüchliche und umstrittene innere wie äußere Angelegenheit. Im 20. Jh. setzte sie sich nirgends so gewalttätig fort wie in der rassistischen Apartheidpolitik Südafrikas (Apartheid), das seinerseits seit 1652 zu einer der ältesten Kolonialgründungen zählt. Die auf maximalen Gewinn zielende Triebkraft des K. war seit Anbeginn ungebrochen, auch unter den veränderten Bedingungen von De-, Post- und Neokolonisierung, aber das Phänomen K. war für keine Seite ein jemals einheitliches oder planbares „Projekt“ (Smith 1910: 430). Es wird dies einer der Gründe sein, warum das Forschungsinteresse am K. konstant, aber von Konjunkturen abhängig geblieben ist. Neuere Forschungstendenzen gehen einer global vergleichenden Perspektive nach, fragen nach Transfers zwischen den unterschiedlichen Kolonialismen und nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten vom Proto-K. bis zum Neo-K. Es wird aber durchgehend eine komplizierte Frage bleiben, die gegenseitige Durchdringung der europäischen und der nicht-europäischen Welt durch den K. zu erfassen.