Ethnologie

Später als die großen geisteswissenschaftlichen Fächer hat die E. ihren Platz im Spektrum der Disziplinen gefunden, die sich mit dem Status von Mensch und Gesellschaft weltweit befassen. Entstanden vor dem Hintergrund der großen Dynamik sozialen und kulturellen Wandels im 19. Jh., beantwortet die E. Fragen nach der Diversität von und zwischen Gesellschaften sowie nach den universalen Grundlagen des Sozialen. Gemeinsam mit den Archäologen verfolgten Ethnologen dabei zunächst den methodischen Weg über die Reste und Spuren, insb. mit Berücksichtigung der als „kulturell geprägt“ erscheinenden Phänomene.

Die E. beansprucht zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Dies galt im Zeithorizont der Entstehung im 19. Jh., als sie in enger Verschränkung mit Mission und Kolonialismus Fragen der ethnischen Diversität in den kolonial besetzten Gebieten beantwortete. Dies gilt nicht weniger in der Gegenwart, wenn es um die Probleme multikultureller Gesellschaften, um Fragen der kulturellen Diversität oder die große Aufgabe der Integration geht. In welchem Maße der E. dies gelingt, soll zunächst offenbleiben.

Jedoch ist es eine unumstrittene Leistung ethnologischer Forschung, alternative Modelle des Sozialen und von der eigenen Gesellschaft abweichende Kulturformen anschaulich gemacht zu haben. Mit Clifford Geertz und gegen den durch die Globalisierung beschleunigten Trend kultureller Homogenisierung ist es heute die wichtigste Aufgabe der E., zu zeigen, wie Menschen verschiedene kulturelle Lebensformen und Wertordnungen angenommen haben und in welchem Maße solche sich immer wieder durchsetzenden Differenzen ein konstitutiver Teil der conditio humana sind.

Obgleich sich die E. heute in einer fundamentalen Umbruchsituation befindet, in der viele Theorien der früheren Phasen einer kritischen Revision unterworfen wurden, erfährt sie doch in den letzten Jahrzehnten eine positive Resonanz im Spektrum der geisteswissenschaftlichen Fächer und insb. im Kontext der Entwicklung eines neuen Konzepts der „Kulturwissenschaft“.

1. Herkunft und Zugänge

Schon lange vor der Entstehung der E. waren Gegenbilder zur eigenen Gesellschaft eine starke Motivation, sich mit außereuropäischen Kulturen (Kultur) zu befassen. Angefangen mit Charles-Louis de Montesquieu sind die auf der Beobachtung sozialer und kultureller Verhältnisse an „fremden“ Orten beruhenden, sogenannten Lettres Persanes zu einem populären literarischen Genre aufgestiegen. Basierend auf dieser Praxis, zu der auch die Erziehungsromane von Jean-Jacques Rousseau gehören, kann man der E. eine „Geburt aus der Kritik“ zuschreiben. Tatsächlich ist die Kritik an der eigenen und vertrauten Gesellschaft bis heute ein wichtiges Merkmal dieser Disziplin.

Allerdings gehört im 19. Jh. zur Entstehung des Faches noch ein weiteres Motiv, das erst in der Folge des erfolgreichen Kampfs um die Abschaffung der Sklaverei eine überzeugte Anhängerschaft fand. Dabei ging es um die Idee gleicher Rechte von Menschen, unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit oder Rasse (Menschenrechte). Die Ethnological Society of London wurde im Jahr 1843 von ehemaligen Aktivisten der Abolition gegründet und machte sich zum Ziel, für die Rechte der australischen Aborigines einzutreten sowie für weitere verfolgte Gruppen.

Die Überzeugungskraft des durch Berichte über andere Kulturen vorgehaltenen Spiegels, die aufklärerische Idee der einheitlichen biologischen Grundlagen und die Vorstellung, durch Wissen über Kulturen die Rechte der Angehörigen dieser Kulturen geltend machen zu können, sind die erste Grundlage der E. Damit ist ein historischer Zeitraum vor und um 1850 umschrieben. Damals war E. noch eine Sache gebildeter Dilettanten. Der Weg zur Professionalisierung der Disziplin führte in den darauffolgenden Jahrzehnten über die Anbindung an damals als etabliert und innovativ geltende Fächer, insb. an Biologie und Geschichtswissenschaften (Geschichtswissenschaft).

Die Etablierung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. war auch mit der Entfaltung von Aktivitäten verbunden, die heute als Praxisfelder bezeichnet würden: Es ging um die koloniale Besitzergreifung weiter Teile der Welt und deren imperiale Einverleibung in die europäischen Machtsphären (Imperialismus). Wissenschaft spielte dafür eine große Rolle. Wissen über die als „Kolonien“ klassifizierten Länder wurde u. a. auch von Ethnologen beigetragen. Reisende, die sich z. T. selbst als „Völkerkundler“ bezeichneten, verfassten Berichte über die in den Kolonien vorgefundene Kolonien, zeichneten sogenannte „Völkerkarten“ und dokumentierten die lokalen Sprachen dieser Länder. Solche praktischen Tätigkeiten waren wesentlich für die koloniale Administration der Territorien, zugleich formten sie die im Entstehen begriffene E. Mit einigem Recht kann daher das Fach als „Zwitter aus Exotismus und Kolonialismus“ bezeichnet werden (Asad 1973).

2. Konzepte des späten 19. Jh.

Das 19. Jh. war sowohl von der schockierenden Erfahrung raschen kulturellen und sozialen Wandels als auch vom starken Eindruck einer überwältigenden Diversität der Kulturen (Kultur) bestimmt. Die E. machte es sich vor diesem Hintergrund zur Aufgabe, nach Theorien zu fragen, die eine große Zahl einzelner Kulturen in eine übergreifende Ordnung fassen könnten. Ein solches Paradigma sollte erklären, in welcher Verbindung die auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Kulturen zueinander stehen. Die ersten großen Theorien waren Versuche der Vereinheitlichung. Zugleich sind sie als Entlehnungen der damals dominierenden und bes. dynamischen Disziplinen aufzufassen, insb. aus der Biologie und der Geschichte (Geschichtswissenschaft).

So konnte der Streit um den relativen Platz einzelner Kulturen in einem übergreifenden System in Großbritannien nur durch den Rückgriff auf die Evolutionstheorie überwunden werden. Erst nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Abstammungslehre fanden ethnologische Autoren wie Edward Tylor und Herbert Spencer mit ihrer Idee der Entwicklung der Kulturen Anerkennung. Sie unterschieden zwischen „primitiven“ und „entwickelten“ Kulturen und setzen die britische Gesellschaft an die Spitze ihres Systems.

Das Prinzip der Ungleichzeitigkeit der Gegenwart passte hervorragend in mehrere dominante Ideologien (Ideologie) jener Zeit. Zum einen fügte es sich in den universalen Erklärungsanspruch der Evolution, die über die Frage der Entstehung ausgeweitet wurde zum Prinzip des survival of the fittest. Zum zweiten legitimierte die Theorie der Entwicklung der Kulturen den Überlegenheitsanspruch der britischen Imperialisten (Imperialismus), die in der Besetzung der Territorien „rückständiger“ Völker eine logische Folge ihrer Position an der Spitze der Evolution sahen. Zum dritten fügte sich die Theorie zur selbst definierten Mission des kolonialen Projektes: Es ging darum, jene Völker zu „zivilisieren“, ihnen die europäischen Regeln und Werte bis hin zur Assimilation zu vermitteln. Gerade für die dritte Aufgabe (= white man’s burden) boten sich die Ethnologen in der ersten Hälfte des 20. Jh. immer wieder an. Sie erklärten sich zu Experten des Kulturwandels und versprachen Widerstand gegen die koloniale Herrschaft durch Wissen über die Strukturen in den unterworfenen Gesellschaften zu überwinden.

Auch die alternative Theorie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorwiegend in den deutschsprachigen Ländern entwickelte wurde und einen Zusammenhang der verschiedenen Kulturen auf der Grundlage des historischen Prozesses der Diffusion von Kulturmerkmalen unterstellte, stellt wenigstens implizit eine affirmative Position gegenüber dem Kolonialismus dar. Die von Ethnologen wie Adolf Bastian, Leo Frobenius und Wilhelm Schmidt vertretene Lehre basiert trotz inhaltlicher Differenzen auf einer weitgehend übereinstimmenden Vorgehensweise. Die genannten Ethnologen sahen, ähnlich wie in der Evolutionslehre, in den anderen Kulturen Spuren früherer Kulturformen in der Gegenwart. Aus der Analyse der kulturellen Phänomene identifizierten sie sogenannte Kulturkomplexe, die als Zeugnisse alter, längst untergegangener Kulturen aufgefasst wurden. Kulturelle Differenz, so die kulturhistorische Theorie, entsteht durch weltweite Diffusion, Überlagerung und Vermischung einer kleinen Zahl vorgeschichtlicher „Urkulturen“. Auch wenn diese Theorie implizit vom Entwicklungsgedanken geprägt war, stand im Fokus der Forschung der Kulturwandel als historischer Prozess kultureller Begegnungen, die oftmals mit der Dominanz der einen und dem Untergang der anderen einhergehen. Deshalb waren auch Ethnologen wie L. Frobenius davon überzeugt, dass die Gesellschaften in den Kolonien entweder zur Anpassung an die westliche Moderne oder zum Untergang verurteilt seien.

Evolutionismus und Diffusionismus, beide mit Anleihen aus der Biologie bzw. der Geschichtswissenschaft, haben den Schritt hin zur Etablierung der E. als akademisches Fach unterstützt. Ihre Laboratorien waren die Museen für Völkerkunde, in denen man die handwerklichen Erzeugnisse anderer Gesellschaften als deren „materielle Kultur“ zusammentrug. Dies geschah in der Erwartung, durch das Nebeneinanderstellen der Dinge für die zugehörige Gesellschaft eine Evidenz, entweder im Hinblick auf dessen Entwicklungsstufe oder für die Zugehörigkeit zu einem Kulturkomplex, zu finden. Wichtige Proponenten dieser Generation der Theoriebildung, wie E. Tylor und L. Frobenius, gingen den Weg von der Museumstätigkeit (Museum) zur Universität und bereiteten somit, lange vor der Etablierung ethnologischer Institute, den Weg für die volle akademische Verankerung.

3. Theorien des frühen 20. Jh.

Es sollte der zweiten Generation von Ethnologen vorbehalten bleiben, die volle Anerkennung durch akademische Institute und Professuren zu erhalten. Noch wichtiger war jedoch in den Jahren ab 1920 ihr Kampf um die Überwindung der evolutionären Theorien (Evolution) und damit auch das Abschütteln der eher starren Vorstellung von kultureller Differenz als Spiegelung des Vergangenen oder der „Rückständigkeit“. Während die großen Theorien des ausgehenden 19. Jh. ein globales Modell kultureller Unterschiede vertraten, fokussierten sich die Konzepte des 20. Jh. auf die Mikroperspektive und beschrieben vorrangig Differenzen zwischen Gruppen (Gruppe) innerhalb der einzelnen Gesellschaften oder auf regionaler Ebene. Mit der weltweiten Durchsetzung der kolonialen Ordnung (Kolonialismus), besseren Reisemöglichkeiten und dem Ende der kartografischen Erschließung wurde es für Ethnologen einfacher, sich unmittelbar zu den Gesellschaften zu begeben, sich dort länger aufzuhalten und dabei Alltag und Feste der untersuchten Kulturen (Kultur) selbst zu dokumentieren. Die sogenannte ethnografische Feldforschung wurde damit zum Standard; die Museen verloren im gleichen Zeitraum weitgehend ihre Bedeutung als Orte der ethnologischen Forschung.

Wenigstens für Großbritannien ist zudem die Theorieentwicklung eng an die Idee gebunden, durch Beschreibung und Analyse von Kulturen zur Durchsetzung der Kolonialmacht beizutragen. Bronislaw Malinowskis Theorie des Funktionalismus unterstellt, jedes Element einer Gesellschaft, von ihm als „Institution“ bezeichnet, habe eine funktionale Rolle, die zum Fortbestehen der Gesellschaft insgesamt beiträgt. So wie die gesellschaftliche Definition von „Vater“ und „Mutter“ essentiell für den Erfolg der Reproduktion ist, so kann die Einrichtung eines Häuptlingstums dazu beitragen, Konflikte innerhalb lokaler Gemeinschaften zu überwinden. Gartenbau, Kriegsführung, Heilung durch Rituale, alle diese Aspekte beschreibt B. Malinowski als Teile eines „funktionierenden Ganzen“, das auf den Fortbestand der Gesellschaft abzielt.

Dieses funktionale Modell der Gesellschaft brachte eine wichtige Entwicklung des Faches mit sich: Es ging nun nicht mehr um die Klassifizierung ganzer Kulturen in ein globales Schema, sondern um die genaue Untersuchung sozialer Rollen (Soziale Rolle), gesellschaftlicher Einrichtungen, von all dem, was B. Malinowski als „Institution“ bezeichnete. Neben diesen Leistungen sind natürlich auch Probleme dieser Theorie zu benennen: So legte B. Malinowski selbst niemals Rechnung darüber ab, wie sehr seine Betrachtung einer Kultur von den kolonialen Rahmenbedingungen abhing. Er machte sich auch nicht klar, dass seine Forderung im Grunde eine unhaltbare Vereinfachung des Modells von Kultur beschrieb. Historischer Wandel, innere politische Konflikte und Auseinandersetzungen um Werturteile (Werturteil) wurden nicht berücksichtigt, was Gesellschaften als stabil, vielleicht sogar starr, erscheinen lässt.

Schon sehr bald machte sich sein schärfster Kontrahent, der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss, über die problematischen Verkürzungen lustig, die dem Funktionalismus zugrunde lag. Dass es in jeder Gesellschaft funktionierende Institutionen gebe, sei eine so völlig banale Feststellung, dass man dafür keiner Theorie bedürfe. Dass aber alle Institutionen einer Gesellschaft eine Funktion haben müssten, das sei, so C. Lévi-Strauss, eine völlig unhaltbare Annahme, da es in jeder Gesellschaft funktionslos gewordene, oft sogar unverstandene „Überreste“ gebe.

C. Lévi-Strauss entwickelte seinerseits wenig später, in den 1940er Jahren die Theorie des Strukturalismus, die sich v. a. mit der Logik gesellschaftlicher Ordnung und der zugehörigen Denkweise befasst. Aufbauend auf die Einsichten der strukturalen Linguistik und deren Idee von bedeutungstragenden Minimalunterscheidungen zeigte C. Lévi-Strauss, dass es auch im Feld kultureller Phänomene „Minimalpaare“ gibt. Der Strukturalismus basiert mithin auf kleinsten bedeutungsrelevanten Unterscheidungen, aus denen sich die Struktur einer Kultur insgesamt entwickeln lässt. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist der Totemismus: Nach C. Lévi-Strauss stellt diese Glaubensform nichts anderes dar als ein binäres System von arbiträren Unterscheidungen. Wesentlich ist die sich aus der Unterscheidung ergebende duale Ordnung. Sie kann durch sekundäre Differenzierungen zu vier, acht oder 16 Totemgruppen in einer Gesellschaft führen. Ähnlich erklärt er die Ordnung der Verwandtschaft: Hier handelt es sich um Austauschbeziehungen zwischen zwei Gruppen. Im Bereich der Mythologie hat C. Lévi-Strauss reiche strukturale Ordnungen gefunden und in sehr vielen Beispielen die Existenz der Minimalpaare nachgewiesen.

Zu den Leistungen dieser Theorie gehört das Potential, kulturelle Grenzen (Grenze) zu überwinden. Die Denkarbeit des menschlichen Geistes ist im Grundsatz überall gleich, unabhängig davon, zu welcher Gesellschaft ein Individuum zuzurechnen ist. Mythen können gleichzeitig in verschiedenen Kulturen auftreten und auf gleichartigen binären Unterscheidungen beruhen. Nicht die alltägliche Einbettung des Mythos sondern sein Auftreten und seine Verbreitung sind dabei von Bedeutung.

C. Lévi-Strauss hat selbst keine umfangreiche Feldforschung durchgeführt und fand dies auch nicht erforderlich für eine strukturale Analyse von Kulturen. Dies ist eine Schwäche des Strukturalismus: Er betrachtet kaum das alltägliche Geschehen. Die Pragmatik einer lebensweltlichen Perspektive findet hier nur geringe Beachtung, die Regeln sind hingegen umso bedeutender. Sicherlich gibt es keine Kultur ohne Regeln und ohne Zweifel sind Regeln und Normen (Norm) von besonderer Bedeutung für die kulturelle Identität. Dennoch kennen Kulturen auch eine pragmatische Seite, die Improvisation zulässt und Normen relativiert.

Funktionalismus und Strukturalismus sind die wichtigsten ethnologischen Theorien der ersten Hälfte des 20. Jh. und sie sind enger miteinander verbunden als es die skizzenhafte Darstellung vermuten lässt. Einiges wurde angedeutet: So interessieren sich beide Theorien mehr für die Binnendifferenzierung von Kulturen. Beide Theorien beruhen auf einer methodologischen Weiterentwicklung, die eine nähere Kenntnis der untersuchten Kulturen zum Ausgangspunkt nimmt. Allerdings ist auch kritisch zu betonen, dass in beiden Theorien historische Veränderungen vernachlässigt werden. Ein Wandel der untersuchten Kulturen wird nur als Störung des Befundes, nicht aber als notwendiger Bestandteil aller lebensfähigen Gesellschaften gesehen.

Unerwähnt blieb bislang die wichtigste gemeinsame Leistung dieser Theorien: Sie bedeuten einen definitiven Abschied von den globalen Ordnungen der Kulturen sowie von evolutionären Modellen. Die Autonomie der E. zeigt sich im Zeithorizont dieser Theorien nicht nur in der akademischen Etablierung an zahlreichen Universitäten Europas, sondern noch deutlicher in der Emanzipation von fachfremden Leitbildern, z. B. aus der Biologie. Mit diesen Theorien hat die E. einen eigenen theoretischen Rahmen gefunden.

4. Neuere Theorien und Methodenentwicklung

Zur Erfolgsgeschichte der E. im 20. Jh. ließe sich noch vieles beitragen. Im Folgenden sei beispielhaft nur die Rolle des Faches für die Erforschung der kulturellen Globalisierung erwähnt. Früher als andere Kulturwissenschaftler haben Ethnologen erkannt, in welchem Ausmaß jede Kultur weltweit von globalen Einflüssen erfasst wird. Die neuen Beobachtungen von Ethnologen wie Arjun Appadurai und Ulf Hannerz beziehen sich auf den an vielen Orten dokumentierten Widerstand gegen die Faktoren, die kulturelle Differenzen infrage stellen oder gar auslöschen. Schon seit Mitte der 1980er Jahre haben die genannten Ethnologen neue Kulturtheorien der Globalisierung vorgelegt, die sich wesentlich mit den neuen Formen der Vermischung sowie der Abgrenzung zwischen globalen Kulturphänomenen und lokalen Kulturen auseinandersetzen.

Auch wenn die ethnologische Beschäftigung mit den kulturellen Folgen der Globalisierung nur eines von zahlreichen Arbeitsgebieten der Gegenwart darstellt, so ist es doch möglich, darauf aufbauend ein neues Selbstverständnis der E. zu erläutern. War die erste Phase (vor 1900) darauf ausgerichtet, eine globale Ordnung der Kulturen herauszuarbeiten, so wurden in der zweiten Phase (1900–50) eher lokale Bezüge und Differenzierungen auf der Ebene von Gruppen (Gruppe) innerhalb der Kulturen in den Vordergrund gestellt. Mit der Globalisierungsforschung zeigt die dritte Phase wieder ein größeres Interesse an weltweiten Bezügen, ohne jedoch dabei die Kulturentwicklung auf der Mikroebene zu vernachlässigen. Die dritte Phase ermöglicht mithin eine Synthese aus den beiden früheren Phasen. Sie verlangt nach der Synthese der globalen und lokalen Ebene in der Betrachtung von Kultur und Gesellschaft.

Etwas zugspitzt lässt sich sagen, dass räumliche Bezüge nun sehr viel schwieriger zu bestimmen sind. Es geht nicht mehr darum, „Völkerkarten“ zu zeichnen und es ist auch nicht mehr von Interesse, das Funktionieren von „Institutionen“ („Institution“) innerhalb einer einzelnen Gesellschaft darzulegen. Heute suchen Ethnologen nach den Verbindungen zwischen kulturellen Phänomenen, die einerseits lokale Gruppen betreffen, andererseits auf globale Phänomene verweisen.

Nicht viel anders verhält es sich mit einem weiteren aktuell wichtiger werdenden Thema, den neuen Religionsformen (Religion). Solche neuen Phänomene religiösen Ausdrucks wurden von Ethnologen als Resultat der Interaktion von globalen Religionen und lokalen Transformationen beschrieben. Die Verbindung von lokalen Ausdrucksformen und globalen Bezügen ist auch hier zentral, ohne jedoch kulturelle Differenzen zu negieren.

5. Aktuelle Probleme

Im letzten Abschnitt wurde Globalisierungsforschung exemplarisch als neue Phase der E. geschildert. Diese hat damit einen paradigmatischen Wandel durchgemacht. Nachdem in einem frühen Stadium die weltweite Ordnung der Kulturen im Vordergrund stand und in der darauffolgenden Periode das Lokale den Rahmen des Erkenntnisinteresses darstellte, verbindet sich in der Gegenwart Lokales mit Globalem. Beide Ebenen stehen der ethnologischen Auffassung zufolge in Verbindung miteinander, was wechselseitige Beeinflussung aber auch Gegensätzlichkeit miteinschließt. Die bes. Berücksichtigung von Effekten, die zwischen den unterschiedlichen Ebenen entstehen, gehört zu den Stärken der E. und hat ihr eine gewisse Anerkennung eingebracht. Dies gilt insb. im Hinblick auf methodische Fragen, die mehr auf qualitative Daten zielen und die Verflechtungen von Kulturen betrachten.

Aber mit der Auflösung einer klaren räumlichen Einbettung des Untersuchungsgegenstands sind auch neue Probleme für die ethnologische Arbeit entstanden. Dabei geht es zunächst einmal um methodologische Herausforderungen: Wie ist es möglich, einen empirischen Rahmen zu definieren, wenn der Ethnologe zunächst nicht weiß, welche Ausstrahlung möglichweise zunächst als „weit entfernt“ aufgefasste Kulturphänomene haben? Wie kann man, im Sinne der interpretativen E. nach C. Geertz, eine hinreichend „dichte Beschreibung“ generieren, wenn nicht klar ist, in welchen Bereichen und zwischen welchen Personen ein dichtes Muster der Verflechtungen existiert?

Die methodischen und forschungspraktischen Probleme der „Enträumlichung“ sind aber nur ein Teil der aktuellen Fragen an die E. Eine weitere Dimension betrifft die Bestimmung des Konzepts der Kultur. Während in einer frühen Phase die Dokumentation „lokaler Kulturen“ als Leitmotiv ethnologischen Arbeitens gelten konnte, herrscht hier eine neue Unsicherheit. Im Kontext der Globalisierung hat eine Kultur keine räumliche Grenze mehr, dennoch gibt es kulturelle Diversität. Inwiefern ist es im Lichte dieser präzisierenden Aussagen überhaupt noch möglich eine Kultur als „Einheit“ zu beschreiben? Ethnologen haben den Ausweg gewählt, nicht mehr von Kulturen, sondern eher nur von Akteuren zu berichten. Jeder einzelne Akteur, genauso wie Gruppen (Gruppe) können mehrere Kulturen (mit unterschiedlicher Intensität) zugehören; der Begriff der „Bindestrich-Identität“ hat in diesem Kontext einige Anerkennung erlangt. Zudem erscheint es sinnvoll, bestimmte Themen an mehreren Orten zu untersuchen, also mobile Forschung zu betreiben. Allerdings geht mit dieser Ausrichtung die Betrachtung von Kulturen als Strukturen oder gar als strukturelle Zwänge verloren. Hier steht die E. vor der Aufgabe einen neuen, mittleren Weg zu definieren, die ihr Erkenntnisinteresse gleichermaßen auf die kulturellen Verbindungen wie auf die Zwänge ausrichtet.

Schließlich führt drittens das neue, auf Verbindungen hin ausgerichtete Paradigma zu Fragen an die eigene Fachgeschichte. Sicherlich ist es für die Einwicklung der E. sinnvoll, neue Prioritäten anzuerkennen. Andererseits entsteht dadurch die Herausforderung, den Wert früherer ethnologischer Arbeiten neu zu bestimmen. Manche Ethnologen haben in den 1980er Jahren die Bedeutung von Ethnographie radikal infrage gestellt und sämtliche frühere empirische Arbeiten zurückgewiesen. Dies geschah u. a. mit der Begründung, dass die früheren Studien die räumliche Begrenzung von Kulturen zu hoch bewertet hätten. Fraglos ist einzuräumen, dass gerade viele theoretische Arbeiten aus der ersten Hälfte des Jh. heute als einseitig oder gar vorbelastet kritisiert werden müssen. Aber sollte nicht das heute verfügbare Spektrum an Methoden als eine Fortentwicklung früherer Methoden gelten? Muss nicht die Anerkennung von zwei in der Gegenwart außerordentlich wichtigen Begriffen, nämlich „Kultur“ und „Identität“ als eine Bestätigung früherer ethnologischer Arbeit gesehen werden?

E. ist ein im raschen Wandel begriffenes Fach, das mit guten Gründen neue Paradigmata entwickelt hat. Die Wandelbarkeit ist ein Zeichen der Lebendigkeit des Faches; die Erschließung neuer Themen hat der ethnologischen Forschung in vielen sozial- und kultwissenschaftlichen Feldern den Ruf einer willkommenen oder gar als notwendig erachteten Ergänzung gebracht. Zugleich hat jedoch die im Fach noch nicht wirklich bearbeitete Neudefinition von Begriffen und Methoden eine Verunsicherung verursacht. Die Zukunft der E. ist deshalb eng mit der Frage verbunden, ob es gelingen wird, die fachliche Basis wieder auf einen breiten Konsens zu stellen und Begriffe zu finden, die den neu angenommenen Forschungsparadigmata gerecht werden.