Bürgerrechtsbewegungen

  1. I. Bürgerrechtsbewegungen in den USA
  2. II. Bürgerrechtsbewegungen in Südafrika, der Tschechoslowakei, Polen und der DDR

B. setzen sich weltweit für die Durch- und Umsetzung von Menschen- und Bürgerrechten ein. Sie fordern Reformen in Systemen, in denen diese Rechte einer bestimmten Gruppe oder der Bevölkerung insgesamt vorenthalten werden. Ggf. treten sie für einen fundamentalen Systemwechsel ein, der diktatorische Strukturen durch demokratisch legitimierte Institutionen und Prozesse ersetzen soll. Dabei verbinden B. in ihren Aktivitäten Elemente des politischen Engagements, die in der jeweiligen politischen Kultur wurzeln, mit einen universalistisch ausgerichteten Verständnis von Demokratie und Menschenrechten. Nach Ursprüngen in den USA und Südafrika bildeten sich nicht zuletzt im Zuge der „dritten Demokratisierungswelle“ (Samuel Huntington) bes. ab den 1970er Jahren in vielen autoritären Systemen B., die einen aktiven Anteil am politischen und gesellschaftlichen Wandel hatten.

I. Bürgerrechtsbewegungen in den USA

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Allgemein wird unter dem Begriff B. in den USA die afroamerikanische Reformbewegung der 1950er und 1960er Jahre verstanden, deren herausragende Führungspersönlichkeit Martin Luther King jun. mit seiner „I Have a Dream“-Rede von 1963 weltbekannt wurde. Diese Bewegung forderte Gleichberechtigung der Afroamerikaner und versuchte durch Gerichtsprozesse, Massenproteste und verschiedene Arten des zivilen Ungehorsams die Diskriminierung sowie Rassentrennung im Süden anzuprangern und zu bekämpfen. Ihre Mitglieder provozierten oft bewusst die Konfrontation mit ihren Gegnern, blieben dabei jedoch dem Prinzip der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Die weltweit verbreiteten Bilder von friedlichen Demonstranten, die von Rassisten attackiert, misshandelt oder sogar getötet wurden, brachten der B. die Sympathie der Öffentlichkeit ein und trieben schließlich die US-Regierung zum Handeln. Zu den wichtigsten Erfolgen zählen der Civil Rights Act von 1964, durch den jede Form der Rassentrennung und Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht, Herkunft oder Religion in allen öffentlichen Einrichtungen, öffentlich finanzierten Programmen und auf dem Arbeitsmarkt verboten wurde, und der Voting Rights Act von 1965, durch den Schwarzen und anderen Minderheiten im Süden die ungehinderte Ausübung ihres Wahlrechts garantiert wurde.

Die Geschichte der B. ist jedoch nicht auf die Mitte des 20. Jh. beschränkt. Ihre Wurzeln liegen im jahrhundertelangen Kampf gegen Sklaverei u. a. Formen rassistischer Unterdrückung. Auch wenn sich nach dem Bürgerkrieg die rechtliche Situation der Afroamerikaner durch drei Verfassungszusätze – Abschaffung der Sklaverei (1865), Zuerkennung der Bürgerrechte (1870) und Zugang zum Wahlrecht (1870) – zunächst verbesserte, etablierten die weißen Machthaber im Süden bald wieder neue Regeln und Gesetze, mit denen sie die Gleichstellung verhindern bzw. revidieren konnten. Durch diese sogenannten Black Codes oder Jim Crow Laws wurden über 90 % der Afroamerikaner im Süden faktisch vom Wahlrecht ausgeschlossen und Rassentrennung (Segregation) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt (z. B. in Restaurants, Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln und Schulen). In seiner berüchtigten Plessy v Ferguson-Entscheidung erklärte der Oberste Gerichtshof der USA 1896, dass nach Rassen getrennte, aber formal gleiche (separate but equal) Einrichtungen rechtmäßig seien. Dadurch wurde Rassentrennung juristisch legitimiert und die Dominanz der weißen Amerikaner im Süden gesichert.

Ab Beginn des 20. Jh. formierte sich jedoch eine auf nationaler Ebene operierende neue schwarze B., zu der unterschiedliche Organisationen gehörten, darunter z. B. das Niagara Movement, die National Urban League, oder der CORE. Die größte und älteste, bis heute noch existierende dieser Organisationen ist die 1909 gegründete (NAACP), die v. a. auf juristischem Wege gegen diskriminierende Gesetze und Praktiken vorging. Der NAACP gelang 1954 mit einer Klage gegen die Segregation in öffentlichen Schulen der entscheidende Durchbruch: In seiner Brown v Board of Education of Topeka-Entscheidung erklärte der Oberste Gerichtshof, dass rassengetrennte Schulen inhärent ungleich und somit verfassungswidrig seien.

V. a. aber sorgte eine Welle innovativer Protestaktionen in den 1950er und 1960er Jahren dafür, dass die amerikanische B. nicht nur nationale, sondern auch internationale Aufmerksamkeit erhielt. Neben NAACP und CORE waren hierbei v. a. die SCLC und das SNCC von herausragender Bedeutung. Zu ihren wichtigsten Kampagnen zählten der Montgomery Bus Boycott (1955/1956), das Sit-in Movement (1961–1962), die Freedom Rides (1962), die Massenproteste in Birmingham (1963), der March on Washington (1963), der Mississippi Freedom Summer (1964) und der Alabama-Wahlrechtsmarsch von Selma nach Montgomery (1965).

Mit dem Verbot legaler Segregation und Diskriminierung durch die beiden Bürgerrechtsgesetze von 1964 und 1965 hatte die B. in den Augen vieler ihr Hauptziel erreicht. Uneinigkeit über die weitere Vorgehensweise, Radikalisierung vieler schwarzer Jugendlicher (u. a. im Black Power Movement), Konflikte wegen des Vietnamkriegs sowie Frustration über fortdauernden Rassismus im Süden trugen in den nächsten Jahren, insb. nach der Ermordung M. L. Kings (1968), zur Zersplitterung bei.

Doch die neuen Bürgerrechtsgesetze der 1960er Jahre, die Einrichtung von Kontrollbehörden wie der Equal Employment Opportunity Commission sowie die Affirmative Action-Programme, die Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) für historisch benachteiligte Gruppen fördern sollten, stellten einen großen Fortschritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA dar. Beachtenswert ist, dass nicht nur Afroamerikaner sondern auch andere Minderheiten – z. B. Hispanic Americans – und Frauen von den neuen Schutzbestimmungen profitiert haben.

Von Anfang an gab es jedoch auch Kritik an den neuen Regelungen. Viele konservative Politiker bezeichneten die Affirmative Action-Programme als unfair anderen (weißen, männlichen) Bewerbern gegenüber und sorgten seit Mitte der 1990er Jahre in zahlreichen US-Bundesstaaten für deren Abschaffung. In jüngster Zeit stehen insb. die Gruppe der homo- und transsexuellen Amerikaner und deren Rechte (z. B. auf Eheschließung) im Zentrum dieser Auseinandersetzungen.

Trotz beeindruckender Erfolge in Bezug auf die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten, die sich u. a. in der Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten, Barack Obama (2009–2017), widerspiegeln, bestehen für Afroamerikaner im sozialen und wirtschaftlichen Bereich nach wie vor gravierende Benachteiligungen. Die schwarze Arbeitslosenrate ist seit Jahrzehnten doppelt so hoch wie die weiße, fast 30 % der Afroamerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Die häufigen Fälle von exzessiver Polizeibrutalität gegenüber Schwarzen belegen ebenfalls, dass die USA trotz des gesetzlichen Verbots von Diskriminierung noch weit vom Ideal einer Gesellschaft ohne Rassismus entfernt sind. Ob neue Initiativen von Bürgerrechtlern, wie die 2013 entstandene Black Lives Matter-Campaign, zu weiteren Fortschritten beitragen können, bleibt abzuwarten.

II. Bürgerrechtsbewegungen in Südafrika, der Tschechoslowakei, Polen und der DDR

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1. Bürgerrechtsbewegungen und Systemtransformation in Südafrika, der Tschechoslowakei und Polen

In Südafrika hatten sich während der Apartheid, die seit 1948 mit der Regierungsübernahme durch die National Party auch juristisch verankert war, wegen des nahezu totalen Ausschlusses der schwarzen Bevölkerung von politischer Mitbestimmung und gröbster Verstöße gegen die Menschenrechte schon früh Bürgerrechtsgruppen gebildet, die für politische und soziale Rechte einstanden und die Opfer des Apartheidsystems unterstützten. Z. T. konnten diese Gruppen im Schutz der Kirche operieren. Oder sie organisierten sich gewerkschaftlich, hatte doch der Widerstand der Organisationen schwarzer Arbeiter gegen das System der Rassentrennung eine lange Geschichte, die bis an den Anfang des 20. Jh. zurückreicht. Einen großen Anteil an der Formierung der Anti-Apartheidbewegung hatte der African National Congress (ANC), der sich bereits 1912 gründete und in den sechziger Jahren verboten wurde. Bekanntestes Mitglied war Nelson Mandela, der sich seit den 1940er Jahren politisch engagiert hatte und die Jahre von 1963 bis 1990 als politischer Gefangener in Haft verbrachte, bis er von Präsident Frederik Willem de Klerk als Zeichen der Zulassung einer politischen Opposition schließlich entlassen und bei den ersten freien Wahlen 1994 zum Präsidenten gewählt wurde.

Bis zum Beginn der Liberalisierungsphase, die 1979 mit Reformen der Arbeitsgesetzgebung begann, wurde jeder Protest gegen die Rassentrennung als krimineller Akt bewertet und vom südafrikanischen Staat mit harter Repression unterbunden, so dass den oppositionellen Gruppen nur sehr geringer Spielraum blieb. Maßgeblichen Anteil am Ende dieser Diskriminierung hatte der internationale Druck, bes. in Form von wirtschaftlichen Sanktionen (Sanktion). Den B. kam v. a. das Verdienst zu, größtenteils mäßigend auf die schwarze Bevölkerung einzuwirken und so einen Bürgerkrieg zu verhindern. Auch waren sie maßgeblich an der Herausbildung einer Gegenelite beteiligt (N. Mandela, Desmond Tutu).

Ein ungleich größerer Einfluss auf den Wandel des politischen Systems kam den sich organisierenden Bürgerrechtlern in den mittel-osteuropäischen Staaten in der Endphase des Kalten Krieges zu. In der Folge des Prager Frühlings hatte sich in der Tschechoslowakei eine Oppositionsbewegung gebildet, die sich um einen Dialog mit der politischen Führung bemühte. Spätestens mit der Charta 77 am 1.1.1977 drang die B. in die Öffentlichkeit. Waren Vorläuferorganisationen wie die Revolutionäre Sozialistische Partei oder die Sozialistische Bewegung von Bürgern der CSSR nur von kurzer Dauer, da sie entweder sofort verboten oder von der Mehrheitsgesellschaft nicht angenommen wurden, so betonte die Charta 77 ihren „unpolitischen“ Charakter und forderte „lediglich“ die Einhaltung der Menschenrechte, zu denen sich der Staat in der Verfassung und in bindenden internationalen Vereinbarungen verpflichtet hatte. Zwar wurde die Charta 77 häufig als Intellektuellenzirkel (Intellektuelle) bezeichnet, doch ihre Wirkung im In- und Ausland war immens. Sie wirkte auch als Katalysator für das Entstehen neuer Gruppierungen, wie des Komitees zum Schutz ungerecht Verfolgter. Als 1986/87 vom neuen Generalsekretär der KPdSU Michail Sergejewitsch Gorbatschow die Reformprogramme Glasnost (Öffentlichkeit) und Perestroika (Umgestaltung) eingeleitet wurden, ließ sich die tschechoslowakische Gesellschaft kaum noch disziplinieren. Staatliche Repression gegen Oppositionelle ließ spürbar nach. Neue Bürgerrechtsgruppen wie die Bewegung für bürgerliche Freiheiten, die Tschechischen Kinder, die Demokratische Initiative oder die Studentenorganisation Stuha entstanden und schlossen sich Ende 1989 zum Bürgerforum zusammen. Massendemonstrationen – wie jene auf dem Prager Wenzelsplatz am 23./24.11.1989 mit etwa 700 000 Teilnehmern – unterstützten die Forderungen des Forums und setzten die angeschlagene Regierung weiter unter Druck. Die kommunistische Führung gab die politische Leitung an eine Regierung der nationalen Verständigung ab. Wenig später wurde mit Václav Havel einer der Erstunterzeichner der Charta 77 zum Präsidenten gewählt. Die anschließenden Parlamentswahlen wurden deutlich von den Reformern gewonnen.

Auch in Polen lässt sich der Beginn der politischen Oppositionsbewegungen auf die späten 1970er Jahre datieren. Den Ausgangspunkt bildeten Streiks in Radom und Ursus, auf welche die Staatsmacht mit harten Repressionen reagierte. Gruppierungen wie das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter oder die Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte entstanden, wobei ersteres eher politisch links stand, während letztere in die katholisch-nationale Tradition eingeordnet werden kann. In diesem Spannungsgefüge organisierte sich politischer Widerstand, wobei es zunächst auch darum ging, politisch-ideologische und religiöse Gegensätze zu überwinden. Die verschiedenen Gruppen verfolgten das Ziel, die streikenden Arbeiter zu unterstützen; doch sie nahmen auch allgemeinpolitische Aufgaben wahr. 1978 bildeten sich freie Gewerkschaften, die als Sammelbewegung unter dem Namen Solidarnosc ab 1980 die Streikführung übernahmen. Flankiert wurden sie von neu entstandenen Bauernorganisationen, welche nach dem gleichen Interessenvertretung mit politischen Forderungen verbindenden Muster agierten. Als die Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse begann, in Privatwohnungen vom Staat nicht kontrollierte Vorlesungen zu verschiedensten Themen anzubieten, bildete sich sukzessive eine differenzierte kritische Gegenöffentlichkeit, aus der auch Untergrundzeitschriften hervorgingen. Die Überwindung der Trennung gegensätzlicher politisch-gesellschaftlicher Milieus wie die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit gehören zu den bedeutendsten Leistungen der B. in Polen in den Jahren vor 1980.

Nachdem es im Sommer 1980 nach Preiserhöhungen für Lebensmittel abermals zu spontanen Streiks gekommen war, gründeten sich nun unter dem Schutz von Solidarnosc oder in den von ihr eröffneten Freiräumen Bauern-, Studenten- und Bürgerorganisationen, um den Staat mit Forderungen zu konfrontieren, die bisher nicht oder nur ungenügend geäußert werden konnten. Solidarnosc selbst verstand sich dabei sowohl als Gewerkschaft wie auch als soziale Bewegung (Soziale Bewegungen), die sich im Oktober 1981 programmatisch charakterisierte: „Uns führte der Protest gegen Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und Monopolisierung des Rechtes, die Ziele der ganzen Nation zu bestimmen, zusammen.“ Mit Verhängung des Kriegsrechts und Verbot von Solidarnosc im Dezember 1981 gelang es der Staatsmacht nur ungenügend, die Gesellschaft zu stabilisieren. Vielmehr verstärkte sich das Ansehen der Opposition trotz des Rückgangs des öffentlichen Protests. Schließlich hatten auch in Polen die von M. S. Gorbatschow angestoßenen Reformen den Effekt, dass sich das Regime zunehmend dazu genötigt sah, sich mit der Opposition zu arrangieren sowie Repression und Zensur spürbar zurückzunehmen, bis es schließlich 1986 zu einer Amnestie für eine Reihe politischer Gefangener kam. Die Regierung versuchte, ihre schwindende Legitimität durch Wirtschaftsreformen zu verbessern, ohne jedoch verhindern zu können, dass eine neue, von Arbeiterkomitees geführte Streikwelle losbrach, nachdem Forderungen auf Lohnerhöhungen brüsk zurückgewiesen worden waren. Nach einer neuerlichen Streikwelle Ende des Jahres 1988 ging schließlich die Regierung auf Gesprächsangebote von Solidarnosc-Aktivisten, angeführt von Lech Walesa, ein. Erstmals machte sie Zugeständnisse zur Demokratisierung. Es kam zur Bildung Runder Tische, an denen die gemäßigte demokratische Opposition beteiligt war. Die Gespräche dauerten vom 6.2. bis zum 5.4.1989. An ihrem Ende standen die Wiederzulassung der Solidarnosc und die Einigung auf teilweise freie Wahlen, die am 4.6.1989 stattfinden sollten. Die Bürgerkomitees erlangten damit eine schrittweise Öffnung des politischen Systems. Im Gegenzug verpflichteten sie sich, auf die fundamentalistischen Teile der Opposition – die jeden Kompromiss mit der Regierung ablehnten – mäßigend einzuwirken und selbst weiterhin einen pragmatischen, kooperationsbereiten Kurs zu verfolgen. Am 24.8.1989 wählte das polnische Parlament den Bürgerrechtler Tadeusz Mazowiecki zum Premier. Er war der erste Regierungschef nach dem Zweiten Weltkrieg, der nicht dem kommunistischen Regime angehörte. Für die Solidarnosc ergab sich damit die schwierige Aufgabe, ihre Doppelrolle als Gewerkschaft wie auch als „Regierungspartei“ neu zu definieren. Da sie im weiteren Verlauf der 1990er Jahre zunehmend auch für die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Systemwechsels verantwortlich gemacht wurde, verlor die Bewegung, die maßgeblich zum Demokratisierungsprozess beigetragen hatte, mehr und mehr an Bedeutung und Einfluss.

2. Bürgerrechtsbewegungen und Systemtransformation in der DDR

Die politische Kultur der DDR kann vor dem Aufkommen kritischer oppositioneller Bewegungen als unpolitisch beschrieben werden. Dennoch führte gerade die politisch angestrebte Zwangshomogenisierung, die das Entstehen einer nicht gesteuerten und nicht kontrollierten Öffentlichkeit verhinderte, zu einer stärkeren Fragmentierung in der Gesellschaft, zumal sich die Parteispitze unfähig zeigte, Überlegungen zur Transformation des real existierenden Sozialismus auch nur in Ansätzen zuzulassen, und innerparteilichen Reformern die Durchsetzungskraft fehlte, potentielle Veränderungen innerhalb der SED zu thematisieren. Wenn auch ab den späten 70er Jahren politisch alternative Gruppen sichtbar wurden, so konnte von einer kollektiven Bewegung lange nicht die Rede sein – nicht zuletzt auch deshalb, weil einzelne Unzufriedene die Möglichkeit ergriffen, in die Bundesrepublik abzuwandern. Früher Kulminationspunkte von Unzufriedenheit war die Bewegung von Wehrdienstverweigerern, die nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu Beginn des Jahres 1962 in den evangelischen Kirchen der DDR Rat und Aufklärung über die Rechte und Pflichten von Einberufenen suchten. Aus diesem losen Zusammenhalt rekrutierten sich ab Ende der 1970er Jahre Teile der Friedensgruppen unter dem Schutz der Kirchen als Basisbewegung. Jenseits von pazifistischen Motiven und außerhalb der Kirchen formierten sich Unzufriedene auch im Künstler- und Intellektuellenmilieu, die Starrheit und Dogmatismus der DDR kritisierten. Ein weiterer Kristallisationspunkt für das Entstehen kritischer Gruppen in der DDR lag in der – wiederum von den evangelischen Kirchen ausgehenden – sozialdiakonischen „offenen Arbeit“, in der seit Ende der 60er Jahre die Kirchen einen Schutzraum zur Verfügung stellten, in dem Unzufriedenen (Jugendlichen mit Problemen in Familie oder Schule, Haftentlassenen, Alkoholikern etc.) konkrete Hilfsangebote wie auch theologische Beratung angeboten wurden. All diese Gruppen arbeiteten dezentral und unvernetzt, so dass von einer geeinten systemimmanenten Opposition noch nicht gesprochen werden konnte. Auch vermieden sie es, als Gruppen öffentlich in Erscheinung zu treten, da die Staatssicherheit gegen „antisozialistische Gruppenbildung“ vorging.

Ab 1979 lässt sich von einer Friedensbewegung sprechen, in der sich religiös wie auch stärker politisch motivierte Kritiker und Oppositionelle zusammenfanden. Sie nahm auch einen Teil der ebenfalls entstandenen Umwelt- und Dritte Welt-Gruppen in sich auf. Ein Jahr zuvor war das Schulfach „Sozialistische Wehrkunde“ eingeführt worden, was als deutliches Signal einer weiteren Militarisierung der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Im November 1980 riefen diese Gruppen die landesweite Friedensdekade unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ aus. Es entstanden Initiativen zur Gründung eines „Sozialen Friedensdienstes“ und „Schwerter zu Pflugscharen“, die v. a. Jugendliche anzogen. „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde bald zum Symbol der gesamten Bürgerbewegung, so dass das öffentliche Tragen des entsprechenden Aufnähers im März 1982 gegen den Protest der Kirchen verboten wurde. Als die Abgeordnetenmehrheit des Bundestages am 22.11.1983 dem Nato-Doppelbeschluss zustimmte, interpretierte die DDR-Parteiführung dies als Verhärtung des internationalen Systems und reagierte mit deutlich erhöhter Repression sowie mit einer Verhaftungswelle. Außerdem wurde einer weit größeren Anzahl von Kritikern als je zuvor die Ausreise in die BRD erlaubt.

Mit der Gründung der Berliner Gruppe Initiative Frieden und Menschenrechte im Jahr 1986 wie auch der Berliner Umwelt-Bibliothek, deutete sich eine stärkere inhaltlich-thematische Differenzierung der oppositionellen Bewegung an. Zwar dominierten noch immer protestantische Orientierungen; doch wurden sie ergänzt durch eine stärkere Hinwendung zu Umweltfragen, durch eine zunehmende Kritik am Wachstumsfetischismus in der Wirtschaftspolitik, wie auch eine generelle Kritik am Führungsanspruch der SED. Hinzu kam, dass M. S. Gorbatschows Reformpolitik wie auch das Beispiel Solidarnosc große Strahlkraft ausübten. Beide Entwicklungen zeigten, dass eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaften in Osteuropa – ja selbst der UdSSR – möglich war. Dies wurde in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung, über die oppositionelle Bewegung hinaus, durchaus registriert – bis in die Mitgliederreihen der SED.

Als Mobilisierungsschub für die religiös Orientierten kann der „Konziliare Prozess“ in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre angesehen werden. Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver (Kanada) hatte die DDR-Delegation ein Gesamtkirchliches Konzil vorgeschlagen. Auf dieser Grundlage beschlossen zwei Jahre später die Synode der Kirchenprovinz Sachsen wie der Bund der Evangelischen Kirchen, sich aktiv zu beteiligen. Zwar waren die Kirchen darauf bedacht, ihre Loyalität zum Staat zu wahren. Doch sollten andererseits durchaus kritische Aspekte der Friedens- und Menschenrechts- und Umweltpolitik thematisiert werden. Für die religiös Motivierten ergab sich damit eine Möglichkeit, die kirchlichen Strukturen sowie die durch sie geschaffene „zweite Öffentlichkeit“ (in Form von Zeitungen, Flugblättern, Veranstaltungen und Seminaren) zu nutzen. Andere Oppositionelle standen diesem Prozess jedoch auch kritisch gegenüber, weil sie Abhängigkeit von der Kirche fürchteten und vor einer „Theologisierung“ der Opposition warnten. Dennoch wurden hier Strukturbildungen ermöglicht. Basisgruppen fanden einen Freiraum, um neue Handlungsfelder zu erschließen.

Zwar war die innenpolitische Krise – nicht zuletzt aufgrund der deutlichen Distanzierung der SED-Führung zum Reformprogramm M. S. Gorbatschows – kaum noch zu kaschieren, doch schien sie sich ab 1987 leicht zu entspannen: Reiseerleichterungen und auch erste offiziell erlaubte Demonstrationen, auf denen im Rahmen des Olof-Palme-Friedensmarsches sogar nicht genehmigte Plakate getragen werden konnten, legten den Eindruck nahe, das Regime setze gegenüber der Opposition nun mehr auf Entspannung. Doch die Besetzung der Berliner Umwelt-Bibliothek in der Nacht vom 24. auf den 25.11.1987 mit der Beschlagnahmung der Drucktechnik, die sich v. a. gegen die Zeitschriften „Grenzfall“ und „Querdenker“ richtete, zeigte aufs Deutlichste verstärkte Repression. Allerdings offenbarte sich die mittlerweile erreichte Stärke der Opposition in einer breiten Solidaritätswelle aus dem In- und Ausland. Innerhalb kürzester Zeit erreichte sie die Freilassung der Inhaftierten. Eine Verhaftungswelle anlässlich der Rosa Luxemburg/Karl Liebknecht-Demonstration im Januar 1988, auf der Oppositionelle für die Freiheit Andersdenkender eintraten und mehr als 100 Demonstranten festgenommen wurden, verdeutlichte jedoch abermals den Unwillen des Regimes, einzulenken. Dennoch nahm die Zahl öffentlichen Demonstrationen spürbar zu. Neben den Kirchen wurden auch andere Räume von der Opposition eingenommen. Die Politisierung schritt in Schulen, Betrieben und Universitäten voran. Aus all dem sollte jedoch nicht der Schluss gezogen werden, zu Beginn des Jahres 1989 hätte eine Revolution direkt bevorgestanden. Vielmehr strebte ein großer Teil der Oppositionellen einen Wandel innerhalb der DDR an und hielt am Leitbild des Sozialismus fest. Auch war es der Opposition nicht gelungen, die Bevölkerung allgemein mit ihren Gedanken und Forderungen zu erreichen.

Einen vorläufigen Höhepunkt des Jahres bildeten die Ereignisse rund um die Kommunalwahlen vom 7.5.1989. War schon im Vorfeld der Wahlen offen Kritik am Abstimmungsverfahren geäußert worden, so fanden bereits am Wahlabend die ersten Demonstrationen statt, nachdem in einzelnen Wahlkreisen die Auszählung kontrolliert und Unregelmäßigkeiten festgestellt worden waren. In Leipzig fand bspw. eine Demonstration mit ca. 1 000 Teilnehmern statt. Die innenpolitische Situation wurde durch die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 2.5.1989, wie auch durch die Berichterstattung in den offiziellen DDR-Medien über das Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz am 4.6.1989, die Niederschlagung der Demokratie-Bewegung in China, weiter destabilisiert. In dem Maße, in dem Bürger nun Zuflucht in den westdeutschen Botschaften suchten oder über die ungarisch-österreichische Grenze ausreisten, kam der Bürgerbewegung in der DDR nun eine – für sie nicht vorhersehbare und auch nicht erwartete – Schlüsselrolle zu. Die Teilnehmerzahlen an den Friedensgebeten nahmen– zunächst in Leipzig, dann auch an anderen Orten – spürbar zu. Basisgruppen reagierten mit neuartigen Strukturbildungen: Anfang September gründete sich mit dem Neuen Forum eine Sammelbewegung unterschiedlicher Teilgruppen, die um Reformmöglichkeiten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bemüht waren. Das Neue Forum verstand sich als Plattform für „Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen, [um sich] an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen“ (Gründungsaufruf). Gruppen wie Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Vereinigte Linke oder die SDP waren stärker programmatisch/thematisch ausgerichtet. Aus dem Zusammenspiel dreier Faktoren – den neuen Oppositionsgruppen, den ständig steigenden Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen überall im Land und einer gewaltigen Ausreisewelle in die Bundesrepublik – ergab sich im Verlauf des Oktobers 1989 eine Situation, in der die SED-Führung nicht mehr Herrin der Lage war. Erich Honeckers Rücktritt am 18.10. galt der Oppositionsbewegung nicht als Zeichen für Reformen innerhalb der SED, sondern als Zeichen der Schwäche des Regimes. Die Demonstrationen schwollen weiter an. So kamen am 4.11. in Leipzig um die 450 000 Menschen zusammen, um friedlich und gewaltlos zu demonstrieren. Am 9.11. erfolgte die Maueröffnung. Der Zerfall der SED war besiegelt. Nun zeigte sich, wie heterogen die Opposition war: War es bislang um eine Reform des maroden Systems und um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat) gegangen, so fand sich nun kein Akteur, das entstehende Machtvakuum zu füllen. Für einen großen Teil der demonstrierenden Massen wurde deshalb das Verhältnis zur BRD ein zentrales Anliegen. Der Ruf der Bürgerrechtler: „Wir sind das Volk“ wandelte sich in: „Wir sind ein Volk“, wobei die Wiedervereinigung ursprünglich nur für einen sehr kleinen Teil der Opposition eine Option darstellte. Damit führte das nahe Ende der DDR auch zum politischen Ende der Oppositionsbewegung aus kirchennahen Kräften und grün-alternativen Künstlern und Intellektuellen. Die vorgezogenen Volkskammerzahlen zeigten, dass die alten Blockparteien, die sich auf die westdeutschen Schwesterparteien zubewegt hatten, bei der Bevölkerung weit größeren Anklang fanden, während die politische Leistung oppositioneller B. – wie auch später bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 – nicht gewürdigt wurde.