Intellektuelle

  1. I. Historische Genese
  2. II. Gegenwart

I. Historische Genese

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Der I.n-Begriff ist zwar erst seit der Wende zum 20. Jh. allgemein gebräuchlich. Doch Denker, Gelehrte oder „Literaten“ hatten bereits vor der phänomenbegründenden Dreyfus-Affäre (1898), in der sich Émile Zola als Prototyp des öffentlich intervenierenden Schriftstellers profilierte, über öffentliche Angelegenheiten nachgedacht, die herrschende Ordnung in Frage gestellt und nach Möglichkeiten der politischen Einflussnahme gesucht. Zum Status des I.n zählt in der Moderne gemeinhin seine Unabhängigkeit, die sich idealiter in ökonomischer und geistiger Selbständigkeit ausdrückt, und seine Zuständigkeit für das Allgemeine.

Die Genese des I.n ist darum mit der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit verknüpft: Zeitschriften, Verlagswesen und Buchhandel mussten zunächst die Verdienstmöglichkeiten für freie Schriftsteller bereitstellen (Gotthold Ephraim Lessing, Voltaire). Dabei waren die Anhebung des Bildungsniveaus sowie die Erschütterung der kirchlichen Hegemonialstellung in geistigen Fragen die Vorbedingungen für den Aufstieg des I.n, der sich in der Epoche der Aufklärung vollzog: Reges Salonleben, die Gründung von Geheimgesellschaften und eine Kommerzialisierung des Buchhandels trugen zur Dynamisierung gesellschaftlicher Diskurse bei, in denen I. jenseits von Kirche, Staatsdienst und Universität ihre Rolle fanden.

Paradigmatisch lässt sich die Herausbildung des I.n anhand der Enzyklopädisten um Denis Diderot nachzeichnen: Nicht nur ging es darum, alle erreichbaren Erkenntnisse aus Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft generell öffentlich verfügbar zu machen bzw. gegen eine religiöse Orthodoxie zu etablieren, sondern dieses Unterfangen sollte auch wirtschaftlich erfolgreich sein und sich selbst finanzieren.

In der Aufklärung schälten sich die wesentlichen Tugenden heraus, die bis in die Gegenwart zum Idealbild des I.n zählen: Skepsis gegenüber Tradition, Mut zum Selbstdenken, Glaube an die Transparenz und Publizität von Debatten und an die damit einhergehende Kultivierung des öffentlichen Meinungsstreits. Immanuel Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ (1784) lässt sich als ein programmatisches Manifest für die Rolle des I.n lesen.

Die theoretische Ausweitung der Sagbarkeitsgrenzen geriet allerdings in der Praxis mit staatlichen Restriktionsmaßnahmen und Zensurbestimmungen (Zensur) in Konflikt. Aufgrund dieser Zwangslage waren nicht selten unternehmerischer Einfallsreichtum, Anonymität und kreative Umgehung der Vorschriften gefordert, um eine Gegenöffentlichkeit zu profilieren.

Es wäre gleichwohl problematisch, den I.n einseitig als Aufklärer und Progressisten aufzufassen. Spätestens im Revolutionszeitalter und mit der Herausbildung der modernen Ideologien (Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus) funktionalisiert und pluralisiert sich die Rolle der schreibenden und reflektierenden Intelligenz sichtbar, auch weil der rapide gesellschaftliche, kulturelle und politische Wandel (Sozialer Wandel) individuelle Positionswechsel verursacht. Begreift man den I.n im soziologischen Sinne, so ist es kaum verwunderlich, dass in der Restaurationsepoche (Restauration) bedeutende Denker wie Friedrich Gentz oder Adam Müller Wirkungsmöglichkeiten im Staatsdienst oder als Fürstenberater wahrnahmen und sich als Vordenker des Konservatismus profilierten. Die Hochzeit liberaler Intellektualität lässt sich im Raum des Deutschen Bundes v. a. im Vormärz und im sogenannten Professorenparlament der Paulskirche von 1848 erkennen. Der politisch-engagierte und öffentlich wirkende Professor präfiguriert dabei zugleich das Bild des bis heute wahrnehmbaren akademischen I.n, der den Nimbus seiner Wissenschaftlerrolle für politisch-gesellschaftliche Interventionen nutzt. Von diesem individualistisch und bürgerlich geprägten Bild unterscheidet sich der sozialistische Partei-I., der sich revolutionär für die Arbeiterbewegung einsetzt, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundstürzend zu ändern bestrebt ist und gleichzeitig den Aufklärungsanspruch zu einem gezielten politischen Bewusstseinswandel radikalisiert. Der parteiische I., wie er vom frühen Karl Marx verkörpert wurde, strebte zugleich nach der Stellung des Theoretikers, übt also nicht nur Kritik am Bestehenden, sondern weist zugleich ideologisch den Weg in eine bessere Zukunft. Die Organisationserfordernisse der sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jh., deren Bildungsideale und die Forderung nach programmatischer Weiterentwicklung boten ihm ein breites Betätigungsfeld.

Einerseits können parteigebundene I., in Friedrich August von Hayeks Worten als „second-hand dealers in ideas“ (1949: 417) ohne unbedingten Originalitätsanspruch sein beträchtlichen Einfluss ausüben. Andererseits diversifizierte sich die intellektuelle Aktivität von Gelehrten und ideologischen Individualisten, die ihre Arbeit nicht nur in der Suche nach Weltanschauung verstanden, sondern sich als „Vordenker der Moderne“ zu profilieren suchten. Liberale Universalisten oder technokratische Gesellschaftsreformer lancierten ihre Entwürfe im ausgehenden 19. Jh. ebenso wie Ideologen des Nationalismus, Antisemitismus und Imperialismus. Erst mit der normativen und verfassungsmäßigen Rahmung der modernen liberalen Demokratie im 20. Jh. ließ sich daher wieder eine verbindliche Gemeinwohlorientierung (Gemeinwohl) als Kriterium für den engagierten I.n wiedererwecken, freilich ohne dass damit ein intellektuelles Monopol auf liberaldemokratische Konsensetablierung (Konsens) zu sichern ist.

II. Gegenwart

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Die Frage nach der kulturellen Bedeutung des modernen I.n lässt sich neben der Herausbildung einer (gebildeten) politischen Öffentlichkeit nur im Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft beantworten, in der die Dominanz einer repräsentativen Kultur nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Die funktionale Notwendigkeit intellektueller Leistungen ist eine Folgeerscheinung komplexer Gesellschaften, die ein ausgeklügeltes System differenzierter Berufsrollen hervorgebracht haben. Aber die Angewiesenheit moderner Gesellschaften auf hochspezialisierte Experten begründet noch keine nähere Bestimmung der I.n. Alvin Ward Gouldner unterscheidet die technische Intelligenz von einer kritisch-emanzipatorischen Gruppe von I.n, für die insb. die Unterscheidung zwischen Macht und Geld zentral ist.

Nach Joseph Alois Schumpeter schafft insb. der moderne Kapitalismus kraft der Logik seiner Zivilisation ein festgewurzeltes Interesse an sozialer Unruhe. I. (die „freischwebende Intelligenz“ [Mannheim 1969: 135]) sind keine soziale Klasse. Ihre Tätigkeit besteht darin, sich gegenseitig zu bekämpfen und „Lanzen zu brechen für Klasseninteressen, die nicht ihre eigenen sind“ (Schumpeter 1975: 236). Sie können nicht einfach als die Gesamtsumme aller Menschen definiert werden, die höhere Bildung genossen haben; aber jeder, der sie genossen hat, ist ein potentieller I.r. Auch die Zugehörigkeit zu den freien Berufen bildet kein hinreichendes Kriterium, Ärzte und Rechtsanwälte sind keine I.n im eigentlichen Sinn, es sei denn sie schreiben oder sprechen über außerhalb ihrer beruflichen Zuständigkeit liegende Gegenstände. Aber die berufliche Stellung ist doch ein entscheidendes Merkmal, betrachtet man den Beruf des Journalisten. I. sind demzufolge Leute, die die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes handhaben und sich von anderen Leuten durch das Fehlen einer direkten Verantwortung für praktische Dinge unterscheiden. Zur Entwicklung einer Atmosphäre (kapitalismus-)kritischer Dauergereiztheit bedarf es aber nicht nur bestimmter Gruppen, in deren Interesse es liegt, den Groll zu steigern und zu organisieren, ihn zu hegen und zu pflegen, ihm Stimme zu verleihen und ihn zu lenken, sondern auch einer Öffentlichkeit, die sich im Streit der Meinungen von den I.n Orientierung erwartet.

I. sind also Leute, die es mit Ideen zu tun haben, die über das Private hinausgehen und mit einem Anspruch auf Verbindlichkeit verknüpft sind. Ihr Geschäft ist die Opposition zu Institutionen und Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft, die radikale Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Demnach sind nicht alle Schriftsteller, Akademiker und Publizisten per se I. Um als solche zu gelten, müssen sie sich zusätzlich zu ihrer professionellen Tätigkeit in einer bestimmten Weise in der (politischen) Öffentlichkeit äußern und verhalten. Ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit ist daher zentral.

Die Ursprungskonstellation des modernen I.n-Begriffs hat mehrere Implikationen. Zum einen werden die I.n auf inhaltliche Positionen festgelegt: Sie gelten i. d. R. als tendenziell links, staats- und religionskritisch, unabhängig, als Anwälte der Wahrheit, des Universellen (Universalismus), der Demokratie und der Menschenrechte. Die moralische Erwartung, dass I. immer und überall unerschrocken und mit persönlichem Risiko für die als richtig erkannte Position einstehen, verkennt nur allzu leicht die Tatsache, dass sie auch den Herrschenden und Besitzenden ihre Stimme leihen können.

Unter den Bedingungen einer „hypothetischen Zivilisation“ (Spaemann 2010) hat sich der Streit um die richtigen Überzeugungen grundsätzlich verändert. Nützlichkeitserwägungen, Entideologisierung und Entpolitisierung haben dazu geführt, dass das intellektuelle Aufregungspotential kaum noch ein interessiertes Publikum findet. Der moderne Individualismus, in Verbindung mit einer Partikularisierung der Interessen und verstärkt durch einen modischen Kulturrelativismus, hat nicht nur dem bisherigen common sense über die Notwendigkeit von Unterscheidungen und Kompetenzen, institutionellen Leitideen und gemeinsam getragenen Logiken der Urteilsbegründung, sondern grundsätzlich allen universalistischen Werten schweren Schaden zugefügt. Daraus folgt, dass die Frage nach der Genese und der gegenwärtigen Gestalt des modernen I.n fast nur noch ein Thema für Historiker ist.