Gender

  1. I. Soziologisch
  2. II. Sozialethisch

I. Soziologisch

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Die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen erfolgt auch im deutschsprachigen Raum in wachsendem Maße mit dem englischen Begriff „G.“ Zunächst in den Sozial- und den Kulturwissenschaften verwendet, hat der Begriff, v. a. vermittelt über das Feld der Politik, Eingang auch in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden. Das Englische kennt eine begriffliche Unterscheidung, die es im Deutschen nicht gibt: sex und g. Sex steht für das anatomische bzw. biologische, g. für das sozio-kulturelle Geschlecht. Diese Unterscheidung geht auf die Sexualwissenschaft der 1950er Jahre zurück; sie wurde eingeführt, um das Phänomen einer z. B. bei trans- oder intersexuellen Menschen beobachteten Differenz von körperlichem Geschlecht und Geschlechtsidentität zu fassen. In der deutschsprachigen Geschlechterforschung findet sich diese Unterscheidung seit den 1980er Jahren. Mit ihr hat sich eine neue Perspektive auf Geschlecht und Geschlechterverhältnisse entwickelt, bei der Geschlecht „nicht mehr als biologisch unveränderbare Größe, sondern als soziales Phänomen untersucht [wird], das Gesellschaft strukturiert und zugleich gesellschaftlichem Wandel unterliegt“ (Bereswill 2011: 162). Mit der Kategorie G. ist eine kritische Perspektive auf eine Naturalisierung von Geschlechterverhältnissen verbunden, mit der bestehende geschlechtliche Disparitäten der Kritik entzogen werden. Gegenstand der G. Studies sind Prozesse, Strukturen und Konsequenzen der sozialen und kulturellen Geschlechterdifferenzierung. Judith Lorber unterscheidet drei Dimensionen von G.: „Process, Stratification, and Structure“ (Lorber 1994: 32). Dementsprechend lassen sich drei zentrale Forschungsbereiche identifizieren: die Herstellung der Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit, Hierarchien und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sowie die Bedeutung von Geschlecht für die Ordnung sozialer Beziehungen und Verhältnisse.

1. Von Frauenforschung zu Geschlechterforschung

Mit der Kategorie G. hat sich die Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in den Sozial- und Kulturwissenschaften in zweifacher Hinsicht entscheidend verändert: durch eine konstruktivistische Wende auf theoretischer Ebene (s. u.) und durch eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs und der Perspektiven. Letzteres lässt sich als eine Entwicklung von Frauen- zu Geschlechterforschung beschreiben. Dass Fragen des Geschlechts auf die Agenda wissenschaftlicher Forschung gelangt sind, ist ein Erfolg der Frauenforschung. In enger Verzahnung mit der Frauenbewegung wurde ab den 1970er Jahren zunächst die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen kritisiert und zum Gegenstand der Forschung gemacht. In dem Maße, in dem die anfangs stark an den Prinzipien von Parteilichkeit und Betroffenheit orientierte, politisch positionierte Frauenforschung einen Prozess der Professionalisierung vollzogen hat, hat sie sich zur Geschlechterforschung erweitert. Gegenstand sind nicht mehr nur Lebenslagen von Frauen; diese werden zudem einer differenzierten Betrachtung unterzogen. Judith Gerson und Kathy Peiss haben die Implikationen der G.-Perspektive folgendermaßen umrissen: „This emphasis suggests that we appreciate women as the active creators of their own destinies within certain constraints, rather than as passive victims or objects. At the same time, this suggests that feminist scholars must avoid analyzing men as one-dimensional, omnipotent oppressors. […] Clearly researchers need to examine men in the context of gender relations more precisely and extensively than they have at the present time“ (Gerson/Peiss 1985: 327).

Mit der Kategorie G. ist eine Abkehr von einer polarisierenden Geschlechtskategorisierung verbunden, die von der frühen Frauenforschung zur Organisation ihrer Themen sowie ihres Personals verwendet wurde: „Forschung von Frauen über Frauen“ (Gildemeister 2004: 29). Eine Konsequenz ist die Absage an die Idee eines einheitlichen Subjekts Frau, die bei der politischen Mobilisierung von Frauen eine große Bedeutung hatte. Eine weitere Konsequenz ist die Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf männliche Lebenslagen und damit ein umfassendes Verständnis von Geschlecht als relationale Kategorie. Die G.-Perspektive postuliert einen differenzierenden Blick auch auf männliche Lebenszusammenhänge, ohne allerdings die Machtrelation zwischen den Geschlechtern aus dem Auge zu verlieren. In den Blick geraten des Weiteren auch Machtrelationen innerhalb der Geschlechtergruppen. Diese Perspektive ist insb. in den men’s studies mit dem Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ (Connell 2015: 129), die in einer hierarchischen Relation nicht nur zu Weiblichkeit, sondern auch zu untergeordneten Männlichkeiten steht, entwickelt worden. Ob Differenzierungen von Weiblichkeit mit der gleichen Begrifflichkeit von hegemonial und untergeordnet charakterisiert werden können, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.

2. Soziale Konstruktion von Geschlecht

Im sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontext ist mit dem Begriff G. keine spezifische Theorie benannt, allerdings eint die unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs eine konstruktivistische Perspektive (Konstruktivismus) auf Geschlecht. Die soziologische Grundannahme einer „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969) gilt auch für die Geschlechterverhältnisse. Dass Geschlecht sozial konstruiert ist, ist bereits 1949 in dem berühmten Diktum Simone de Beauvoirs „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (Beauvoir 1992: 334) angedeutet; systematisch entfaltet wurde die sozialkonstruktivistische Perspektive auf Geschlecht erstmals im Rahmen der Ethnomethodologie. Dies ist ein praxeologischer Ansatz, der untersucht, mit welchen Methoden die Mitglieder einer Gesellschaft in ihren alltäglichen, wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen die soziale Wirklichkeit hervorbringen, in der sie handeln, bzw. wie in sozialer Interaktion systematisch soziale Ordnung hergestellt wird. Anstatt wie der Common Sense selbstverständlich vorauszusetzen, dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt, wird die Konstitution der Zweigeschlechtlichkeit selbst zum Topos der Forschung gemacht. Das im Alltag fraglos Gegebene wird „eingeklammert“, das Selbstverständliche heuristisch in etwas höchst Voraussetzungsvolles transformiert. Nicht nur die gesellschaftliche Ausprägung des Geschlechterverhältnisses, dessen Relationen von Mit- und Gegeneinander sowie Über- und Unterordnung, die Geschlechtszugehörigkeit selbst wird als soziale Konstruktion verstanden.

Die Ausgangsfrage ethnomethodologischer Geschlechterforschung lautet: „How is a social reality where there are two, and only two, genders constructed?“ (Kessler/McKenna 1978: 3) Gefragt wird nach den Kriterien, an denen die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern im Alltag festgemacht wird, nach denen Geschlechtszuschreibungen in sozialen Interaktionen vorgenommen werden. Die Bedeutung der primären Geschlechtsmerkmale wird insofern als eher gering erachtet, als es nicht Informationen über diese Merkmale sind, die den Handelnden in sozialen Interaktionen normalerweise zur Verfügung stehen. Dennoch ist in einem anderen Sinne Geschlechtszuschreibung „Genitalzuschreibung“, weil im Alltagswissen eine entsprechende Verknüpfung vorgenommen wird. Wir „wissen“, dass eine Person, die einen Rock trägt, eine Handtasche umhängen hat und deren Gesicht geschminkt ist, eine Vagina hat und jemand, der mit „männlichen“ Attributen daherkommt, einen Penis. In diesem Sinne sprechen Suzanne J. Kessler und Wendy McKenna von „kulturellen Genitalien“ (Kessler/McKenna 1978: 153 f.). Im Alltag wird Geschlecht auf der Basis wahrnehmbarer kultureller Geschlechtszeichen attribuiert.

Den Anstoß zu dieser Sichtweise gab eine Fallstudie von Harold Garfinkel über „Agnes“, eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle. Transsexuelle Menschen müssen, um als kompetente Mitglieder des Geschlechts, dem sie sich zugehörig fühlen, akzeptiert zu werden, die sozialen Praktiken beherrschen lernen, die eine Person fraglos als weiblich oder männlich erkennbar machen. Dies umfasst Gesten, Mimiken, Bewegungen, die Art, das Haar zu tragen, Accessoires, mit denen man sich umgibt, und vieles mehr. Die Rekonstruktion der Normalisierungsleistungen, die transsexuelle Menschen erbringen, zeigt, dass Geschlechtszugehörigkeit mittels bestimmter Praktiken im Alltagshandeln interaktiv hergestellt wird. Dies ist mit dem Begriff des „doing gender“ (West/Zimmerman 1987) erfasst. Er lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Gemeint ist, dass man ein Geschlecht nur hat, indem man es tut. Im doing gender wird die Geschlechterdifferenz dadurch hervorgebracht, dass die Handelnden sich „kontinuierlich zu Frauen und Männern machen und machen lassen“ (Hirschauer 1993: 56). Geschlecht wird als eine praktisch-methodische Routine-Hervorbringung (accomplishment) begriffen, die auf fortdauernder Interaktionsarbeit der Handelnden beruht. Geschlecht wird damit als soziale Praxis und nicht als eine individuelle Eigenschaft analysiert. Doing gender meint i. d. R. keine bewusst vollzogene Handlung. Die Handelnden verfolgen nicht die Intention, doing gender zu praktizieren; es ist vielmehr in vielfältiger Weise in alltägliche Routinehandlungen eingelassen. Der männliche Krankenpfleger, der im Umgang mit den Patienten eine Attitude der „Coolness“ entwickelt, praktiziert doing gender ebenso wie die von Jean-Claude Kaufmann beschriebene Ehefrau, die die Wäsche bügelt oder das Bad reinigt, weil sie darin geübter ist als der in diesen Dingen unbeholfene Mann: „doing gender while doing work“ bzw. „while doing family“. Erwerbsarbeit und Familie sind zwei zentrale Felder der Her- und Darstellung von geschlechtlicher Differenz.

Neben der Ethnomethodologie haben sich die geschlechtersoziologischen Arbeiten von Erving Goffman als einflussreich für ein Verständnis erwiesen, das Geschlecht nicht als ein individuelles Merkmal begreift. E. Goffman analysiert das institutionelle Arrangement der Geschlechter, die Geschlechter(mikro)politik von Identitätszuschreibungen und ritualisierten Darstellungsformen, in und mit denen die Geschlechter die soziale Ordnung ihrer Beziehungen herstellen. Er behandelt Geschlecht als einen Fall sozialer Klassifikation und sieht darin den „Prototyp einer sozialen Klassifikation“ (Goffman 1994: 72). Die Geschlechtsklassen unterscheiden sich durch spezifische Sets von Praktiken. Eine Geschlechtszugehörigkeit außerhalb dieser oder unabhängig von diesen Praktiken gibt es nicht. Einen Körper mit bestimmten Geschlechtsmerkmalen zu haben garantiert nicht die Mitgliedschaft in einer Geschlechtsklasse. Geschlechtszugehörigkeit muss gleichsam auf der Bühne des Alltags dargestellt und von den Anderen bekräftigt werden. Dies macht die performative Dimension von Geschlecht aus.

Die Geschlechtsklassengebundenheit individueller Verhaltensweisen bezeichnet E. Goffman als „Genderismus“ (Goffman 1994: 113). Sein Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, wie angeborene Geschlechterunterschiede sozial bedeutsam gemacht werden, wie die Referenz auf sie als Rechtfertigung sozial hergestellter Geschlechterarrangements und -unterschiede genutzt wird. Hierzu führt er den Begriff der „institutionellen Reflexität“ ein (Goffman 1994: 107). Ein Beispiel sind die Konventionen der heterosexuellen Paarbildung, die zur Folge haben, dass meistens die Frau kleiner ist als der Mann. Zwar sind Männer im Durchschnitt etwas größer als Frauen, doch ist der Bereich der Überschneidung breit genug, dass bei der Mehrzahl der Paare Frauen und Männer annähernd gleich groß sein könnten. Die soziale Praxis nutzt einen biologisch gegebenen Unterschied, um ein symbolisches Mittel zur Darstellung der Geschlechterordnung zu gewinnen und macht ihn dadurch bedeutsam sowie im Alltag sichtbar. Ein weiteres von E. Goffman angeführtes Beispiel ist die Trennung öffentlicher Toiletten nach Geschlecht. Eine biologisch begründbare Notwendigkeit hierfür gibt es nicht. Die Trennung wird vielmehr „als natürliche Folge des Unterschieds zwischen den Geschlechtsklassen hingestellt, obwohl sie tatsächlich mehr ein Mittel zur Anerkennung, wenn nicht gar zur Erschaffung des Unterschieds ist“ (Goffman 1994: 134).

Neben einer interaktionstheoretischen ist v. a. die von Judith Butler entworfene diskurstheoretische Perspektive für das Verständnis von G. bedeutsam geworden. J. Butler plädiert dafür, „den kulturell bedingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom anatomischen Geschlecht [zu] denken“ (Butler 1991: 23). In einer an Michel Foucault orientierten Perspektive wird der „Geschlechtskörper als Resultat hegemonialer Diskurse“ (Villa 2000: 12) analysiert. Die „Materie des Körpers“ sei „nicht zu trennen […] von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen.“ (Butler 1997: 22) Eine Wahrnehmung des Körpers außerhalb seiner kulturellen Signifizierungen sei nicht möglich. Nur durch diese könnten die Genitalien zu Geschlechtszeichen werden. J. Butler zufolge wird auch das, was als die „natürlichen Sachverhalte des Geschlechts“ erscheint, „diskursiv produziert“ (Butler 1991: 23). Vor diesem Hintergrund bezweifelt J. Butler, dass es nur zwei Geschlechtsidentitäten geben muss. Vielmehr sorge die Ordnung der „Zwangsheterosexualität“ bzw. der „Heteronormativität“ dafür, den Glauben daran aufrechtzuerhalten. Wie die Ethnomethodologie begreift J. Butler Geschlecht als eine Herstellungsleistung, die sie aber nicht als in sozialen, interaktiven Praktiken fundiert analysiert, sondern in der Dimension kultureller Diskurse verortet. J. Butlers Arbeiten haben einen großen Einfluss auf die Queer Studies. Der Begriff „Queer“ bezieht sich auf Lebenszusammenhänge und Prozesse, in denen „Norm(alität)en brüchig werden“ (Gildemeister/Hericks 2012: 217). Die Queer Studies verfolgen die Absicht einer Dekonstruktion von Heteronormativität. Sie verstehen Heterosexualität als „Machtregime […], dessen Aufgabe die Produktion und Regulierung einer Matrix von hegemonialen und minoritären sozio-sexuellen Subjektpositionen ist“ (Hark 2010: 110). Heterosexualität und die Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit werden als sich wechselseitig bedingend begriffen.

3. Natur und Kultur

Mit der Kategorie G. ist die Herausforderung verbunden, „die Frage nach der Relationierung von Natur und Kultur in Bezug auf die Kategorie Geschlecht neu aufzuwerfen“ (Gildemeister/Hericks 2012: 196; Herv. i. O.). Die soziologische Erklärung der Geschlechterdifferenz kann die biologische bzw. anatomische Dimension von Geschlecht nicht vernachlässigen. Diese stellt die Soziologie vor andere theoretische Herausforderungen als bei sonstigen sozialen Differenzierungen, z. B. nach sozialen Milieus oder nach ethnischer Zugehörigkeit. Dies hat seinen Grund darin, dass, wie J. Butler an anderer Stelle konzidiert, die Geschlechterdifferenz weder völlig gegeben noch völlig konstruiert, sondern beides ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Biologischem und Kulturellem müsse immer wieder gestellt werden, eine endgültige Antwort sei aber nicht zu erwarten.

Wie der Verweisungszusammenhang von Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit zu entschlüsseln ist, ist Gegenstand grundlegender Kontroversen in der Geschlechterforschung. „Ist der Körper beliebig geschlechtlich konstruierbar […] oder gibt es Grenzen der Konstruktion, die der Körper selbst vorgibt?“ (Villa 2000: 181 f.) Der geschlechtertheoretische Diskurs bewegt sich zwischen einer Position, welche die korporale Materialität als eine vorsoziale Gegebenheit begreift, an die sich soziale Unterscheidungen anschließen, die allerdings als kontingente „Entscheidungen“ beschrieben werden, einerseits und einer radikal-konstruktivistischen In-Frage-Stellung der sexgender-Unterscheidung andererseits. Während der ersten Position daran gelegen ist, zu zeigen, dass sich an die biologischen Differenzen keineswegs zwangsläufig die sozialen Differenzierungen und Ungleichheiten anschließen müssen, welche die gegebene Geschlechterordnung prägen, begreift die zweite Position den Körper als einen in Diskursen und Interaktionen hergestellten Sinnkörper, der kein materiales Eigenleben außerhalb seiner kulturellen und sozialen Konstruktion hat. Als Gemeinsamkeit beider Positionen ist festzuhalten, dass eine von kulturellen Symbolisierungen unabhängige Erfahrung des geschlechtlichen Körpers nicht möglich ist. Der Körper ist eine symbolische und materielle Realität. Natur und Kultur sind „gleichursprünglich“, sie „konstituieren einander wechselseitig“ (Wetterer 2010: 126). Die gesellschaftlichen Geschlechterarrangements „bestimmen die Bedingungen, unter denen Körper sich entwickeln und leben“ (Connell 2013: 82). Körpererfahrungen werden im Rahmen „somatischer Kulturen“ (Boltanski 1976: 154) gemacht. Diese sind „Kodes der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper, der tief verinnerlicht und allen Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe gemeinsam ist“ (Boltanski 1976: 154 f.). In diesem Sinne unterliegen die Körper einer kulturellen Vergeschlechtlichung. Den Körpern sind die Strukturen der Geschlechterverhältnisse auf einer präreflexiven Ebene eingeschrieben.

Bei keiner anderen sozialen Unterscheidung ist es allerdings so einfach wie bei der von Mann und Frau möglich, soziale Unterschiede auf biologische zu beziehen und soziale Ungleichheiten durch naturalisierende Erklärungen zu legitimieren. Die biologischen Unterschiede, „ganz besonders der anatomische Unterschied zwischen den Sexualorganen, [erscheinen] als unanfechtbare Rechtfertigung des gesellschaftlich konstruierten Unterschieds zwischen den Geschlechtern“ (Bourdieu 1997: 169). Indem sich das geschlechtliche Klassifikationssystem „in letzter Instanz am Körper und seinen Funktionen festmacht“ (Krais 2003: 165), wird das Gesellschaftliche der Geschlechterordnung unsichtbar gemacht.

4. Ordnungskategorie Geschlecht

Die Geschlechterunterscheidung durchzieht sämtliche Bereiche der sozialen Welt. „Das Geschlecht dient […] als Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind“ (Goffman 1994: 105). Geschlecht fungiert als eine Ordnungskategorie in Face-to-Face-Interaktionen und in Organisationen, in privaten Beziehungen und im öffentlichen Raum. Zu Beginn einer sozialen Interaktion erfolgt, gewöhnlich präreflexiv, ein „Geschlechts-Check“ des bzw. der anderen Anwesenden, der für das weitere Handeln von fundamentaler Bedeutung ist. Dies erkennt man ex negativo an den Irritationen, die sich einstellen, wenn es nicht gelingt, eine Person geschlechtlich zu identifizieren. In privaten heterosexuellen Beziehungen erfolgt die Arbeitsteilung zwischen den Partnern trotz des Strukturwandels der Familie weiterhin in hohem Maße entlang der Geschlechterdifferenz. Stefan Hirschauer vermutet, „dass die hartnäckige ungleiche Arbeitsteilung im Haushalt einer der letzten paarinternen Darstellungschancen einer bedeutsamen Geschlechterdifferenz ist“ (Hirschauer 2013: 50). In allen uns bekannten Gesellschaften knüpft sich an die Unterscheidung von Frauen und Männern eine Zuweisung zu unterschiedlichen Aufgaben, Handlungsfeldern, Positionen. Männer und Frauen verrichten unterschiedliche Tätigkeiten, studieren unterschiedliche Fächer, üben unterschiedliche Berufe aus, besetzen in diesen Berufen unterschiedliche Positionen. Welche dies sind, variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft und auch im historischen Prozess. Diese Zuweisungen sind in den meisten Fällen nicht neutral. An die Geschlechtszugehörigkeit knüpfen sich Teilhabechancen, die bislang in den meisten sozialen Feldern für die Männer günstiger ausfallen als für die Frauen. Insofern ist Geschlecht eine Dimension sozialer Ungleichheit.

Geschlechtliche Ungleichheit lässt sich in unterschiedlichen Ausprägungen auf allen Ebenen soziologischer Analyse finden. Auf makrosoziologischer Ebene manifestiert sich geschlechtliche Ungleichheit z. B. in einer Segregation großer Teile des Arbeitsmarktes in Frauen- und Männerberufe. Von Männern dominierte Berufe haben i. d. R. nicht nur ein höheres Lohnniveau als typische Frauenberufe, sie genießen auch ein höheres Prestige. Für die Mesoebene ist mit dem Begriff der „gendered organization“ (Acker 1990) das Phänomen bezeichnet, dass in der Mehrzahl der Organisationen entgegen deren Selbstverständnis Geschlecht ein Kriterium bei der Zuweisung zu Aufgaben, Tätigkeiten und Positionen ist. Strittig ist, ob dies ein strukturelles Merkmal von Organisationen darstellt oder ob das „Gendering als situatives Geltendmachen des Geschlechts in einem strukturell geschlechtsneutralen Organisationssystem“ (Pasero 2010: 254) zu verstehen ist. Für die Mikroebene von Kommunikation und Interaktion haben zahlreiche konversationsanalytische und körpersoziologische Studien auf die ungleichheitsrelevante Bedeutung von Redeverteilungen, Aufmerksamkeitszuwendungen und Körperpositionierungen hingewiesen.

5. Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht?

Geschlecht ist eine zentrale Kategorie zum Verständnis moderner Gesellschaften, aber keine ahistorische Kategorie. Die Bedeutung als ein fundamentales Ordnungsprinzip hat sie in der sogenannten Sattelzeit, d. h. in der Zeit zwischen 1750 und 1850, erhalten, in der sich die bürgerliche Gesellschaft herausgebildet hat. Ob Geschlecht zu Beginn des 21. Jh. weiterhin dieser Stellenwert zukommt, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Ursula Pasero sieht eine „wachsende Unzuverlässigkeit geschlechtstypischer Zuschreibungen“ (Pasero 2010: 255). Die Kategorie Geschlecht ist „flüssiger“ (Riegraf 2010: 73) geworden. Im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung verändert sich die Bedeutung nicht nur der Klassen-, sondern auch der Geschlechtszugehörigkeit für die soziale Positionierung eines Menschen. Die Codierungen von weiblich und männlich verlieren ihre polar entgegengesetzten Eindeutigkeiten. Vormals mehr oder minder starre Grenzen zwischen den Geschlechtern werden flexibel. Dies betrifft die kulturellen Symbolisierungen von Geschlecht genauso wie die geschlechtliche Prägung sozialer Felder. Weiblich konnotierte körperästhetische Praktiken werden von Männern adaptiert, Männerberufe wie die Polizei oder das Militär verlieren ihre geschlechtliche Exklusivität. Entgrenzungen dieser Art heben die Geschlechterdifferenz nicht auf, führen aber zu einer „De-Institutionalisierung“ (Heintz/Nadai 1998) dergestalt, dass die Differenz immer häufiger nicht mehr über eine institutionelle Ordnung verbürgt ist, sondern von den Handelnden kontextbezogen aktiv in sozialen Praktiken der Unterscheidung hergestellt wird. Die wachsende Beteiligung von Vätern an der Kinderbetreuung z. B. hat zur Folge, dass sich neue Formen der geschlechtlichen Distinktion in Gestalt eines „männlichen“ Stils der Betreuung herausbilden, der sich von einem „weiblichen“ Stil abgrenzt. Die Intention einer radikalen Verflüssigung der Kategorie Geschlecht kennzeichnet queere und Transgender-Lebensweisen, die sich nicht in das binäre Schema der Zweigeschlechtlichkeit einordnen (lassen) wollen. 2017 hat das BVerfG entschieden, intersexuellen Menschen müsse ein positiver Eintrag im Personenstandsregister ermöglicht werden, indem neben männlich und weiblich eine dritte Geschlechtskategorie eingeführt wird. Alternativ könne generell auf eine Geschlechtsangabe verzichtet werden. Die Geschlechterverhältnisse sind von einer starken Veränderungsdynamik erfasst, die allerdings keiner linearen Fortschrittslogik folgt, sondern hochgradig ambivalent, von einer Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Wandel geprägt sowie politisch umkämpft ist.

Mit dem Begriff der „Intersektionalität“ (Lutz/Vivar/Supik 2013) wird des Weiteren darauf verwiesen, dass der Stellenwert der Ordnungskategorie Geschlecht in ihrer Verschränkung mit anderen Kategorien sozialer Differenzierung wie Klasse, soziales Milieu, Ethnizität, sexuelle Orientierung analysiert werden muss. Geschlecht ist eine von mehreren „Kategorien der Humandifferenzierung“ (Hirschauer 2014: 188). Je nach sozialem Feld und Handlungskontext stellt sich die relative Bedeutsamkeit dieser Kategorien unterschiedlich dar, wiegt z. B. die Gemeinsamkeit der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht weniger als die zu einer ethnischen Gemeinschaft und umgekehrt. So lässt sich feststellen, dass für Migrantinnen vielfach, v. a. wenn Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung gemacht werden, die Zugehörigkeit zur eigenen ethnischen Gemeinschaft ein höheres Gewicht hat als die über Geschlecht begründete Gemeinsamkeit mit den Frauen der Aufnahmegesellschaft. Derartige Beobachtungen zeigen, dass eine der Komplexität von Geschlechterverhältnissen angemessene Analyse mehr als nur die Kategorie Geschlecht im Blick haben muss. Die Geschlechterforschung ist gleichsam gefordert, die Leitdifferenz, mit der sie Gesellschaft und soziales Handeln beobachtet, nicht a priori als relevant zu setzen, sondern empirisch zu rekonstruieren, wann, in welchen Kontexten und in welchem Maße die Unterscheidung nach Geschlecht von den Handelnden relevant gemacht wird.

II. Sozialethisch

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Geschlecht (genus, gender) strukturiert die Grammatik sprachlicher, religiöser und politischer Systeme. Im Unterschied zu sex zur Bezeichnung der geschlechtlichen biopsychischen Disposition zielt gender auf die sozial-kulturelle Interpretation geschlechtlich bestimmter Existenz. Als Ordnungskategorie des Sozialen bildet G. eine wichtige Referenzgröße für eine Sozialethik. Gesellschaftliche Ordnungen legen den Ort von Menschen im sozialen Gefüge anhand bestimmter Eigenschaften – klassisch: Geschlecht (gender), sexuelle Orientierung, ethnische (race; ethnicity) und soziale (class) Zugehörigkeit – fest und beeinflussen damit Maßstäbe, Regeln und Verwirklichungschancen von Zugehörigkeit (Inklusion/Exklusion), Anerkennung, Beteiligung (Partizipation) sowie autonomer Lebensführung. Der Analyse solcher Zusammenhänge kommt eine hohe sozialethische Relevanz zu.

1. Ethische Kritik von Geschlechterordnungen

Die Kategorie G. macht die Wirkung von Geschlecht als gesellschaftlicher Ordnungskategorie nicht nur sichtbar, sondern ermöglicht es, mit G. einhergehende Hierarchisierungen, diskriminierende und exkludierende Wirkungen als Gerechtigkeitsprobleme zu analysieren und zu kritisieren. Verschiedene Faktoren (klassisch: Geschlecht, Klasse, Ethnie) können sich gegenseitig verstärken (Intersektionalität) oder auch aufheben. So wirken etwa Geschlecht, soziale Herkunft und die Zuschreibung einer Religionszugehörigkeit vielfach als benachteiligende Faktoren zusammen, z. B. in der öffentlichen Debatte um religiös konnotierte Kleidersymbolik als Diskussion über soziale Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit bestimmter (Gruppen von) Menschen: In westlichen Gesellschaften treffen diskriminierende bzw. exkludierende Wirkungen v. a. muslimische Frauen mit Migrationshintergrund; der Kleidung (Kopftuch, Burka etc.) von außen eine allgemeine (politische oder religiöse) Bedeutung zu unterlegen, bedeutet, der Trägerin eine Identität zuzuschreiben, die u. U. zum Ausschluss von (schulischen und/oder) beruflichen Partizipationsmöglichkeiten und zur Einschränkung von Freiheitsrechten führt. Nicht die biologische Geschlechtszugehörigkeit entscheidet über die gesellschaftliche Positionierung, sondern ein Set gesellschaftlicher Erwartungen/Zuschreibungen. Die gerechtigkeitsbedeutsamen Wirkungen von Geschlecht (in Wechselwirkung mit anderen Ordnungskategorien des Sozialen) kommen erst durch eine geschlechterdifferenzierende Analyse in das gesellschaftliche Bewusstsein, werden sozialethisch kritisierbar und können politisch wie wissenschaftlich bearbeitet werden. Nicht allein Lebenswirklichkeiten von Frauen bedürfen solcher genderethischer Durchleuchtung. Sozialethische G.-Forschung muss, um soziale Geschlechterverhältnisse insgesamt einer ethischen Kritik unterziehen zu können, ihre Aufmerksamkeit verstärkt auch auf männliche Lebenswirklichkeiten sowie auf die Heterogenität von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnissen richten.

Eine gesellschaftliche Geschlechterordnung ist (wie jede soziale Ordnung) ethisch danach zu beurteilen, ob sie gleiche Freiheit und Sicherheit für alle sowie Schutz für die Schwachen gewährleistet und Bedingungen schafft, unter denen alle Ordnungsunterworfenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Zudem setzen Ordnungen Grenzen; ethisch ist daher Skepsis gegenüber Erwartungen angebracht, Ordnung schaffe per se gerechte(re) Verhältnisse; Prämissen und Grenzen der jeweils leitenden Einsicht in das zu Ordnende sind zu analysieren und die durch bestimmte Ordnungsmuster produzierten (ungerechten) Ausschlüsse zu identifizieren.

Geschlechterordnungen zielen auf Regulierung sozialer Geschlechterverhältnisse, etwa der Prokreation sowie der Zuständigkeits- und Machtverteilung entlang der Kategorie Geschlecht im privaten und öffentlichen Raum. Sie schließen bestimmte Verhaltensmuster aus, etwa Normen, die geschlechtlichen Verkehr zwischen nahen Verwandten oder sexuellen Verkehr mit Minderjährigen verbieten und Akte sexueller bzw. sexualisierter Gewalt sanktionieren. Auch solche Normen unterliegen historisch-kulturellem Wandel; das zeigt sich z. B. an der Bewertung der Vergewaltigung von Frauen, die keineswegs immer und überall als sexuelle Gewalt geahndet wird. „Vergewaltigung in der Ehe“ etwa ist im deutschen Strafrecht erst seit 1997 als Straftatbestand verankert, in Österreich seit 1989 (bis 2004 nur als Antragsdelikt), in der Schweiz seit 1992 (ebenfalls bis 2004 nur als Antragsdelikt). Geschlechterordnungen schließen aber auch Gruppen von Menschen aus, die den geltenden Geschlechternormen nicht entsprechen. So exkludiert eine durch das Modell normativer Zweigeschlechtlichkeit bestimmte Ordnung Personen, die sich in dem Dual männlich/weiblich nicht identifizieren können: inter- und transgeschlechtliche Menschen. Eine Ordnung, die normative Zweigeschlechtlichkeit mit normativer Heterosexualität verknüpft, drängt Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung an den Rand der Gesellschaft, ggf. bis hin zur physischen Bedrohung ihres Lebens. Bis in die Gegenwart wird (v. a. männliche) Homosexualität in vielen Gesellschaften tabuisiert, pathologisiert oder kriminalisiert – z. T. unter Berufung auf religiöse Traditionen und Normen.

2. Kontroversen

„Der Geschlechterdiskurs übt Kritik an einer Lebenswelt, die, ausgehend von der Grunddifferenz von ‚Mann‘ und ‚Frau‘, als gespalten vorgestellt wird. Es ist eine Lebenswelt, in der Geist und Körper, Kultur und Natur, Verstand und Gefühl einander entgegengestellt werden – wie Ordnung und Chaos, Rationales und Irrationales usw. Die Spaltungen sind zugleich hierarchisiert (Geist, Kultur, Verstand, Ordnung etc. sind tendenziell ‚besser‘) und sexualisiert (Geist, Kultur, Verstand, Ordnung etc. sind tendenziell ‚männlich‘)“ (Ammicht Quinn 2017: 32). Die angenommene dichotome Struktur der Wirklichkeit, aus der traditionelle christlich-religiöse Ordnungsvorstellungen normative Schlüsse zogen, und die dafür beanspruchte legitimierende Grundlage (Natur, Naturordnung, göttliche Ordnung) sind philosophisch wie theologisch umstritten. Ethische Maßstäbe einer menschengerechten Ordnung unterliegen der Dynamik menschlicher Einsicht in Auseinandersetzung mit geschichtlicher Erfahrung und gesellschaftlichem Ringen um Standards der Humanität (z. B. der Wandel der Bewertung der Sklaverei von der Antike bis zur Gegenwart). Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, die Geschlechterordnung sei solchem ethischen Ringen enthoben, normativ durch „natürliche“ Gegebenheiten schlechthin festgelegt und menschlicher Gestaltungsverantwortung entzogen.

Ethische Kritik wird daher Argumentations- und Legitimationsmuster befragen, die zur Aufrechterhaltung und Begründung oder zur Delegitimation herrschender Ordnungen beansprucht werden. Strukturelle Ausschließung z. B. nicht-heterosexueller Menschen und ihrer Lebensmuster wird in einer auf normative Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität gegründeten Ordnung typischerweise entweder durch die natürliche Ordnung der Fortpflanzung legitimiert, der gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nicht entsprechen können, oder durch die Befürchtung, eindeutige weibliche bzw. männliche Geschlechtsidentitäten würden unterlaufen. Auseinandersetzungen um den rechtlichen Status nicht heterosexueller Menschen und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in modernen Gesellschaften spiegeln, dass sich der Zuwachs wissenschaftlichen Wissens über die Komplexität genetischer und biopsychischer Dispositionen auch auf der Ebene rechtlich, sozial und religiös formatierter (Geschlechter-)Ordnungen auswirkt. Die ethische Dimension gesellschaftlicher Kontroversen um gleichgeschlechtliche Lebensmodelle an den Intersektionen von Geschlecht, Religion und Politik betrifft nicht zuletzt die Achtung elementarer Menschenrechte und die Anerkennung personaler Identität, die von der individuellen Geschlechtsidentität nicht gelöst werden kann.

Ethische Analysen, die mit Hilfe der G.-Kategorie Funktionen und Dysfunktionen von Geschlechterordnungen aufdecken, exkludierende Normen und Praktiken der Kritik unterziehen und Ansätze zu deren Überwindung identifizieren, sind umstritten. Sowohl im rechten politischen Spektrum als auch in konservativen religiösen Kreisen wird G.-Forschung vielfach pauschal unter Ideologieverdacht (Ideologie) gestellt. Solche Vorwürfe verfehlen Anspruch und Gehalt von G.-Theorien und Geschlechterforschung in zentralen Punkten, indizieren aber eine notwendige ethische Debatte: Kritik der gesellschaftlichen Geschlechterordnung durch G.-Forschung wird als Angriff auf die „Natur-Ordnung“ (im religiösen Kontext: Schöpfungsordnung) abgewehrt; der Anspruch, diese Ordnung zu verteidigen, fungiert zugleich als Immunisierung gegen eine politische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung mit G.-Theorien. Die der sogenannten G.-Ideologie unterstellte Wirkung, Un-Ordnung zu stiften, ist jedoch keine Tatsache, sondern eine Behauptung. Solche Abwehrsignale finden sich auch in Äußerungen des Lehramts der katholischen Kirche, so bei Papst Benedikt (Weihnachtsansprache 2012), in den Dokumenten der Römischen Familiensynoden 2014/2015 und in dem Nachsynodalen Schreiben „Amoris laetitia“ 2016 von Papst Franziskus. Die grundlegende Differenzierung von sex und gender findet ein konstruktives Echo in „Amoris laetitia“ (Nr. 286). Die Beschreibung „der Formen einer Ideologie, die gemeinhin Gender genannt wird“ (Nr. 56), derzufolge der Unterschied zwischen den Geschlechtern geleugnet werde bzw. die Geschlechtsidentität frei wählbar sein solle, trifft auf wissenschaftliche (auch sozialethische und theologische) G.-Forschung so wenig zu, dass diese von den Bedenken nicht tangiert wird.

Anti-G.-Polemiken laden den Begriff G. mit Vorstellungen und Wertungen auf, die mit qualifizierter G.-Forschung nichts zu tun haben. An die Stelle inhaltlicher Auseinandersetzung treten eine Rhetorik der Diffamierung (mit Vokabeln wie „Genderismus“ als Bezeichnung für die gefährliche „Weltanschauung“ der „Genderisten“ und der „G.-Ideologie“) sowie die Behauptung eines globalen „Kulturkampfes“. Eine gründliche Auseinandersetzung mit identifizierbaren wissenschaftlichen Positionen, insb. mit der radikal-konstruktivistischen G.-Theorie der (stereotyp angegriffenen) Philosophin Judith Butler, findet in diesem Kontext kaum statt.

3. Forschungsperspektiven

Die interdisziplinär geführte wissenschaftliche G.-Diskussion bietet für die Sozialethik und die christliche Theologie insgesamt konstruktive Ansatzpunkte und Forschungsaufgaben. Die Würde jeder Person umfasst auch deren geschlechtliche Bestimmtheit. Der daraus resultierende Achtungsanspruch bildet, allen Restriktionen einer Geschlechterordnung ethisch voraus, den Maßstab für eine diskriminierungsfreie und gerechte Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder. Diesem sozialethischen Anspruch unter kontingenten Bedingungen zu entsprechen verlangt, über den Status quo der geltenden Geschlechterordnung, die im Recht, aber auch in sozial-kulturellen sowie religiösen Regeln, Praktiken und Erwartungen Ausdruck findet, hinauszufragen. Eine selbstreflexive, methodisch transparente Auseinandersetzung mit gendertheoretischen Ansätzen in Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Theologie ist eine sozialethische Forschungsaufgabe. Angesichts der oben genannten Kontroversen bildet sie ein dringendes sozialethisches Desiderat – samt der Analyse von Gründen und Strategien der Ideologisierung des Themas.

Dazu braucht es Sensibilität für die (Definitions-)Macht der Sprache und die Verfügungsmacht über Deutungsressourcen. Geschlechterasymmetrische Machtverhältnisse in Institutionen sind als Faktoren von In- bzw. Exklusion, Anerkennung bzw. Missachtung zu analysieren und auf ihre genderspezifischen Gründe zu befragen. Mit der G.-Kategorie können die Möglichkeitsbedingungen theologischer und ethischer Erkenntnis sowie der unhintergehbaren Perspektivität der Wahrnehmung reflektiert werden: „Gender Studies im allgemeinen und feministische Philosophie im besonderen […] bezweifeln die Möglichkeit kategorialer Trennung zwischen Wissen und Macht bzw. die Vorstellung ‚reinen‘ Wissens, indem sie das implizite Interesse an der Begründung und Aufrechterhaltung einer hierarchischen Geschlechterordnung in den Strukturen vorgeblich objektiver Wissensdiskurse zum Gegenstand ihrer kritischen Untersuchung machen. Tatsächlich wird am Beispiel der Geschlechterthematik sichtbar, dass die etablierte Wissensordnung ihrem eigenen Anspruch auf ‚Reinheit‘, auf Objektivität und Neutralität möglicherweise nicht gerecht werden kann und jedenfalls nicht gerecht geworden ist.“ (Klinger 2005: 329 f.) Entsprechendes gilt für die Analyse christlicher Traditionen und lehramtlicher Positionen.

Die G.-Kategorie hilft, kontingente soziale Gegebenheiten als solche bewusst sowie Legitimationsmuster geschlechtsbezogener Machtverhältnisse und problematische Argumentationsstrategien der Kritik zugänglich zu machen. U. a. prüft theologische Ethik die Argumentation mit der Kategorie „Natur“ und dem Theorem des Naturrechts, dessen Kern in der Suche danach liegt, was jenseits des historischen und gesellschaftlichen Wandels für die Richtigkeit des Rechts und der Moral „bürgt“. „Natur“ tritt als immer schon gedeutete, kulturell überformte zu Tage; als Argument dient sie v. a. dazu, Unterschiede zu legitimieren und Machtpositionen zu festigen. Eine behauptete Normativität der „Natur“ kann nur auf beschränktes und überholbares Wissen rekurrieren; daraus abgeleitete Geltungsansprüche provozieren fast unvermeidlich ungerechte Ausschließungen konkreter Menschen. Die unbedingt zu achtende Würde jedes Menschen (Menschenwürde), die gerade nicht Differenzen, sondern die grundlegende humane Gleichheit betont, bietet eher einen geeigneten „Anker“ des Ethischen als eine „Natur“, der kein unmittelbar normativer Charakter zugesprochen werden kann. Um argumentativ tragfähige Orientierungsangebote begründen zu können, muss die Vielfalt menschlicher Erfahrungswirklichkeiten im Dialog mit den Ergebnissen human-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung für die ethische Reflexion erschlossen und hermeneutisch als Quelle und kritisches Gegenüber fruchtbar gemacht werden. Insb. in Wechselwirkung mit weiteren Strukturkategorien des Sozialen hilft die G.-Kategorie, Herausforderungen der Gerechtigkeit auf der Ebene sozialer Praxen und gesellschaftlicher Institutionen zu identifizieren, zu analysieren und normative Fehlschlüsse zu vermeiden. Geschlecht und Geschlechterverhältnis sozialethisch (und theologisch) zu reflektieren, erfordert die Auseinandersetzung mit dem Wandel sozial-kultureller Verhältnisse, der Wissensentwicklung und der Erweiterung der Bezugshorizonte. Entspr. müssen je neue Denk- und Sprachmuster ge- bzw. erfunden, Traditionen reinterpretiert und innovativ überholt werden:

Einer genderbewusste theologische Anthropologie wird, insofern sie den Menschen als freies und je einmaliges Geschöpf begreift, Verformungen und Vermachtungen von Geschlechtsidentitäten und -verhältnissen freilegen, die Menschen in ihrer Subjektwerdung behindern. Philosophische Kritik idealistischer Subjektkonzeptionen, wie sie gendertheoretisch z. B. durch J. Butler in ihrem frühen Werk „Gender Trouble“ vorgelegt wurde, bietet dazu wichtige Ansatzpunkte. Theologische Anthropologie wird u. a. „ausgehend von Theorien der Verkörperung und der Bedeutung performativer, also wirklichkeitssetzender Akte auch für Symbolisierungen des Körpers über den Zusammenhang von Performanz und Geschlechtsidentität nachdenken“ (Wendel 2016: 40). Sie wird dabei nicht sex in G. auflösen; sex kann vielmehr „jenseits der Engführung seiner Bedeutung auf die Bezeichnung sexueller Differenz das Vermögen des Begehrens bezeichnen, welches jeder verkörperten Existenz eigen ist“ (Wendel 2016: 40).

Ein theologisch-ethischer Gerechtigkeitsdiskurs wird auf der Basis der gleichen geschöpflichen Würde u. a. die wirkmächtigen sozialen Differenzierungen (gender, race, class, religion) als Phänomene sozialer (Un-)Gleichheit analysieren, faktische Machtasymmetrien freilegen und deren Legitimität befragen sowie im Ausgang von realen Unrechts- und Ungerechtigkeitserfahrungen Kriterien der Ermöglichung humaner Selbstentfaltung entspr. den Bedingungen der Subjektwerdung entwerfen. Mittels der G.-Kategorie werden symbolische Ordnungen sowie problematische Universalisierungen und Machtansprüche (u. a. die Verallgemeinerung des Männlichen als Menschliches) der Kritik zugänglich gemacht. Entsprechende Anfragen an die Institutionalisierung religiöser Wahrheitsansprüche fordern das Denken von Offenbarung und Geschichte heraus. Hierin dürften die tiefsten Rezeptionsschwierigkeiten von G.-Theorien in religiösen Kontexten begründet sein; die Provokation reicht über kontrovers verhandelte Fragen der Beziehungsethik hinaus in den Kernbereich des Offenbarungsverständnisses und der Voraussetzungen von Wirklichkeits- und Wahrheitserkenntnis. Offenbarungstheologisch wie ethisch gehen Wahrheit und Freiheit Hand in Hand. Nur in geschichtlich konkreter Suche im Zeichen der Freiheit kann menschliche Einsicht sich der Wahrheit annähern. Dieser Prozess ist durch die das Handeln von Subjekten bestimmenden Bedingungen einschließlich der Geschlechtlichkeit geprägt. Die Skepsis gegenüber G.-Theorien in religiösen Kontexten kann – jenseits polemischer Ausdrucksformen – als Ausdruck der Sorge um die (Zugänglichkeit von) Wahrheit und um eine der Offenbarungswahrheit gemäße, (religiös) verantwortete Lebensweise entschlüsselt werden. Für eine theologische Sozialethik resultiert aus der Auseinandersetzung mit G.-Theorien die bisher nicht zureichend geklärte Frage, ob und wie es möglich sei, das allgemein menschliche und religiöse Streben nach Orientierung und existentieller Gewissheit, das sich traditionell in Modellen essentialistischen Denkens (u. a. im Naturrecht) spiegelt, mit der Einsicht in den unhintergehbar kontingenten Charakter jeder bestimmten Ordnung des Zusammenlebens zu vermitteln.