Industrie

1. Industrie als Wirtschaftsform

Als I. oder industriell gelten Formen der Wirtschaft bzw. des Wirtschaftens, die durch ausgeprägte Mechanisierung und Automatisierung, den massiven Einsatz zunächst vorwiegend nicht erneuerbarer Energieträger (Kohle, später Rohöl und Kernenergie) sowie durch Arbeitsteilung, Kapitalakkumulation und räumliche Konzentration der Fertigung gekennzeichnet sind.

Klassische I.-Produkte sind Sachgüter. Jedoch wurden wesentliche Merkmale industrieller Produktionsweisen, insb. die arbeitsteilige, mechanische bzw. automatisierte, kapitalintensive Fertigung von standardisierten Gütern in hohen Stückzahlen auch auf immaterielle Güter und Dienstleistungen übertragen. Beispiele finden sich im Bereich der Banken und Versicherungen, der Medienwirtschaft (Film- und Musik-I.), der Informations- und Kommunikationsdienstleistungen (Software, Call Center) sowie in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Eine Bezeichnung wie Unterhaltungs-I. betont daher nicht den individuellen Schöpfungsprozess eines Angebotes, sondern dessen massenhafte, vorhersehbare Wiederholung, wie es auch zur lateinischen Wurzel (industria: Fleiß, Betriebsamkeit) passt.

2. Industrialisierung

Einzelne I.-Merkmale entwickelten sich über längere Zeiträume: Mechanische Verfahren wie z. B. der Buchdruck, Uhrenbau und Mühlen sind aus dem Spätmittelalter und der Renaissance bekannt. Zünfte und das Verlagswesen entwickelten frühe Formen der Arbeitsteilung, Manufakturen solche der räumlichen Konzentration der Fertigung. Zur Finanzierung des Fernhandels oder der Kriege des 16. bis 18. Jh. entstanden Vorstufen moderner Finanzierungsinstrumente. Als Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) gelten jedoch erst das enge Zusammenspiel und die gegenseitige Verstärkung dieser Merkmale, die seit dem 18. Jh. ausgehend von England die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lebensbedingungen tiefgreifend und dauerhaft umgestalteten. Sie breitete sich im 19. Jh. über weite Teile Westeuropas und der USA aus, bevor sie zum Ende des 20. Jh. auf allen Kontinenten auftrat.

Betroffen von den durch die Industrialisierung ausgelösten Umwälzungen waren auch die nicht-industriellen, peripheren Regionen, Länder und Kontinente, deren weniger automatisierte, weniger arbeitsteilige und weniger kapitalisierte Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme unter erheblichen Wettbewerbs- und Anpassungsdruck gerieten. Industrialisierung trat in industriebasierten Modernisierungstheorien, in der Dichotomie von I.- und Entwicklungsländern ebenso wie in den lange Zeit gültigen Leitbildern der Entwicklungspolitik als Ursache wirtschaftlicher Entwicklung und Ausdruck der Moderne hervor. Dies beinhaltete sowohl Wachstum im Sinne der Erschließung zuvor nicht industriell genutzter Ressourcen als auch Standortverlagerungen, die aus unterschiedlichen Gründen (Lohnkosteneinsparungen, Rohstoffverfügbarkeit) auch zur De-Industrialisierung traditioneller I.-Regionen führten (z. B. im Rust Belt in den USA).

3. Formen der Industrie und Industrialisierung

Aufgrund der Komplexität der ineinandergreifenden Prozesse, der zeitlichen Verschiebungen sowie unterschiedlicher Ziele gibt es verschiedene Systematisierungen von I. und Industrialisierung.

Typische Phaseneinteilungen unterscheiden die Mechanisierung durch Wasser- und Dampfkraft als erste industrielle Revolution, die Massen- und Fließbandfertigung insb. von Autos und Elektroartikeln mit elektrischer Energie als zweite industrielle Revolution, die Automatisierung industrieller Prozesse durch Elektronik, IT und erneuerbare Energien als dritte industrielle Revolution oder mit besonderer Betonung der Vernetzung auch als eigene I. 4.0.

Nach Produkten und Produktionsanlagen unterteilt man Wirtschaftszweige in Schwer-I. (Eisen- und Stahl-I.) und Leicht-I. (Textil-I.). Wegen der hohen Symbolkraft großindustrieller Anlagen und der einfachen Messbarkeit des Outputs („Tonnenideologie“) war die Schwer-I. Leitbild der staatlichen Planwirtschaft in vielen Ländern, etwa in der UdSSR ab den 1920er Jahren, in Brasilien ab den 1940er Jahren oder in China ab den 1950er Jahren. Doch zeigen Begriffe wie der des „militärisch-industriellen Komplexes“ (Eisenhower 1961: 1038), wie wichtig für staatliche Interessen die Schwer-I. auch in Marktwirtschaften wahrgenommen wurde, zumal staatliche Einrichtungen Hauptabnehmer für I.-Produkte wie Eisenbahnen und Rüstungsgüter sind. Andere erfolgreiche Modelle wirtschaftlicher Entwicklung, etwa in Taiwan oder Südkorea, waren eher offen ausgelegt und spezialisierten sich auf „leichte“ I.n, d. h. auf Textilien sowie Kunststoff- oder Elektronikartikel.

Die Einteilung in Schwer- und Leicht-I. ist auch für das Management bedeutsam. Schwer-I. zeichnet sich durch eine hohe Anlagenintensität und Fixkosten, eine langfristige Kapitalbindung sowie eine hohe Immobilität der Produktionsanlagen aus. Daher sind für die Liquiditäts- und Erfolgssteuerung eine fristenkongruente Finanzierung durch Eigen- oder langfristiges Fremdkapital und eine stabile Nachfrage von Bedeutung. Entspr. attraktiv sind langfristige Formen der wirtschaftlichen Kooperation, sei es durch Trusts, Kartelle oder die Syndikate des Kohlenbergbaus und der Kali-I. in den 1920er Jahren in Deutschland. Dagegen sind bei Leicht-I.n die variableren Personalkosten von größerer Bedeutung, während die Anlagen eher mobil sind und damit durch Produktionsverlagerung den günstigsten Arbeitskosten in Niedriglohnländer (verlängerte Werkbänke) folgen können.

Ebenfalls für Managementzwecke werden die I.- und Konsumgüter-I. unterschieden, da zum Nachfrage- und Kaufverhalten von I.-Kunden und Endverbrauchern spezifische Marketing- und Entwicklungskonzepte passen. So spielen bei I.-Gütern nachgelagerte Produktionsstufen bis hin zu den Endkonsumenten eine große Rolle. Die Kaufentscheidungen obliegen vielfach Einkaufsgremien (Buying Centers) und der vertraglichen oder faktischen Kundenbindung wird wegen der Stabilität und Verlässlichkeit der Ersatzteilversorgung und Wartung für die vielfach stark vernetzten Leistungsprozesse mehr Bedeutung eingeräumt als in der Konsumgüter-I.

4. Folgen der Industrialisierung

4.1 Wirtschaftliche Folgen

Ausdruck der Industrialisierung war ein massives Wirtschaftswachstum. Es zeigte sich im absoluten Anstieg der Produktionsmengen von I.-Gütern wie Eisen und Stahl, von Konsumgütern wie z. B. Textilien, des Rohstoffverbrauchs, insb. von Kohle, Erzen und Baumwolle sowie der Beschäftigtenzahlen ebenso wie im Anstieg ihrer Pro-Kopf-Werte. So stieg die industrielle Produktion in Deutschland bis 1913 absolut auf ca. das Zwölffache und pro Kopf auf das Sechsfache des Wertes von 1860. Der Baumwollverbrauch in Deutschland betrug 1913 das 17fache des Verbrauchs von 1850, die Anzahl der Baumwollspindeln hatte sich in diesem Zeitraum verzwölffacht, die Kohleproduktion verdreißigfacht.

Mit dem industriellen Wachstum wuchs die Bedeutung des gewerblichen Sektors gebenüber den übrigen volkswirtschaftlichen Sektoren Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft), Bergbau und Dienstleistungen. Doch gibt es regionale Unterschiede: In Spanien und Frankreich wuchs die I.-Produktion im Zeitraum zwischen 1860 und 1913 nur um das Vierfache. Binnenwirtschaftlich kristallisierten sich aufgrund von Clustereffekten (Economies of Scale and Scope durch gemeinsam genutzte Rohstoffe, Zulieferer, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur etc.) industrielle Schwerpunktregionen heraus wie bspw. die Montan-I. im Ruhrgebiet oder der Werkzeug- und Textilmaschinenbau in Sachsen und später in Württemberg, denen industriearme Regionen gegenüberstanden.

4.2 Soziale Folgen der Industrialisierung

Die industrielle Massenproduktion von zuvor handwerklich, regional und dezentral gefertigten Konsumgütern in Verbindung mit verbesserter Verkehrsinfrastruktur (Eisenbahn, Schifffahrt, später Straßen) setzte traditionelle städtische und ländliche Wirtschaften (Handwerk, Heimgewerbe und Landwirtschaft) unter erheblichen Wettbewerbsdruck. Starkes Bevölkerungswachstum, die Flächenzersplitterung durch Realteilung oder Produktivitätsgewinne durch die Mechanisierung der Landwirtschaft führten zu Existenzkrisen weiter Bevölkerungsteile und Hungersnöten (Pauperismus). Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Mittel- und Osteuropa im Laufe des 19. Jh. oder später der Fall des „eisernen Vorhangs“ ermöglichten eine beträchtliche Aus- und Binnenwanderung. Teilweise wurde diese durch aktive I.-Ansiedlungspolitik, durch Subventionen oder Zoll- und Steuererleichterungen gefördert, etwa in den Sonderwirtschaftszonen in Südchina oder Irland.

Dies führte zur Auflösung bisheriger, durch Großfamilien, Zünfte, Clans oder Feudalismus geprägter sozialer und politischer Strukturen, ohne dass dies in den Wanderungszielen durch vergleichbare Strukturen aufgefangen worden wäre. Zwar umfassen typische Formen industrieller Organisation wie die industriellen Pioniere im 19. Jh., die Massenheere des Ersten Weltkriegs oder aktuelle Kapitalgesellschaften mehrere tausend und auch hunderttausende Angehörige. Da jedoch deren Überleben auch davon abhängt, dass einzelne Angehörige bis auf wenige Ausnahmen austauschbar sind, bspw. in Konjunkturkrisen, können sie die den traditionellen Strukturen zugeschriebene soziale Sicherheit nur begrenzt bieten. Daher traten soziale Entwurzelungsprozesse zu den mit der Arbeitsteilung einhergehenden produktionsbezogenen Entfremdungsprozessen hinzu.

4.3 Ökologische Folgen der Industrialisierung

Bergbau, Schwer-I., Chemie- und Kunststoff-I. und die Bevölkerungskonzentration in den industriellen Zentren führen vielfach zu erheblichen Luft-, Boden- und Gewässerimmissionen mit gravierenden akuten oder chronischen Belastungen von Mensch und Umwelt. Dies galt bes. in frühen Phasen der Industrialisierung oder in neu industrialisierten Regionen. Doch ist die Industrialisierung inzwischen soweit fortgeschritten, dass auch Peripherien und selbst unbewohnte Gegenden wie der Pazifik oder der Weltraum belastet sind. Aufgrund der Mengen, der Verbreitung und der Haltbarkeit dieser Produkte und Emissionen ist ein generelles Ende dieser Belastung nicht absehbar.

5. Industrie als Innovationstreiber

5.1 Technische Innovationen

I. und I.-Unternehmen sind in vieler Hinsicht Innovationstreiber. Am markantesten sind die Produkt-Innovationen seit Beginn der Industrialisierung (Dampfmaschine, Spinn- und Strickmaschinen, Eisenbahnen, Dünger, Kraftfahrzeuge, Flugzeuge, Elektro- und Elektronikprodukte, Roboter, künstliche Organe etc.) und die Prozess-Innovationen (Bessemer-Verfahren, Haber-Bosch-Verfahren, Fließband, Bio- und Gentechnik etc.) zu ihrer industriellen Herstellung, mit denen I.-Unternehmen sich im wettbewerblichen Spannungsfeld von kundenorientierter Differenzierung und kostengünstiger Standardisierung gegen ihre Konkurrenten zu behaupten versuchen.

5.2 Ökologische Innovationen

Die unerwünschten Nebenwirkungen der Industrialisierung waren Auslöser vielfältiger Formen des technischen Fortschritts: Höhere Schornsteine, Luftfilter, Katalysatoren oder Smart Grids sollten die Immissionen durch die Kohle- und Öl-basierte I. verteilen oder reduzieren. Die Elektrotechnik erlaubte eine räumliche Trennung der luftverschmutzenden Stromerzeugung vom Energieverbrauch in den Städten und zugleich den Rückgriff auf zuvor standortgebundene Energiequellen wie Wind- und Wasserkraft. Zudem war sie als saubere Technik für einen ganz anderen, bürgerlichen Personenkreis als Forschungs- und Arbeitsgebiet in ähnlicher Weise attraktiv wie es heute nachhaltige I.n (Windparks, Solar-I.n) sind. Inwieweit reine Verlagerungen ökologischen Fortschritt darstellen, wird an den bisherigen und den neuen Standorten offensichtlich unterschiedlich bewertet. Auch schwankt die Bewertung bestimmter Technologien im Zeitablauf und abhängig von der Betroffenheit. Zu den Innovationen gehören daher auch die Entwicklung von Instrumentarien und Institutionen zur Technikfolgenabschätzung.

5.3 Management-Innovationen

Die typischen Merkmale industrieller Produktion (Kapitalintensität, Arbeitsteilung, Massenfertigung) führten zu zahlreichen Management-Innovationen: Zur Erleichterung der Kapitalbeschaffung entstanden Kapitalgesellschaften (insb. AGs) und mit ihnen die Trennung von Eigentum und Management. Zur Lösung der daraus resultierenden externen Prinzipal-Agenten-Konflikte zwischen den Eigentümern (Prinzipale) und den von ihnen angestellten Managern (Agenten) wurden Rechtsformen, die Buchhaltung und der Jahresabschluss fortentwickelt. Organisations-, Produktions- und Kostentheorien sowie Arbeitsplanung und -vorbereitung führten zu internen Verbesserungen. Zur Standardisierung der Produkte und Prozesse dienten innerbetrieblich bspw. Fließbänder (Taylorismus und Fordismus) und überbetrieblich Normen (DIN) oder I.-Standards (z. B. REFA). Neuere Beispiele solcher Management-Innovationen sind Kaizen, Lean Management, Qualitätsmanagement oder I. 4.0.

5.4 Politische Innovationen

Industrielle Umwälzungen prägten zahlreiche politische Entwicklungen. Ein zentrales Thema waren und sind die Internationalisierung und Globalisierung der I. Zahlreiche Betriebe wurden sehr früh international aktiv und hatten ein entspr. großes Interesse an Freihandel und offenen Märkten, um die Vorteile der Massenproduktion besser ausnutzen zu können. Auch die technischen und Management-Innovationen lebten sehr stark vom internationalen Austausch und Wettbewerb. Dies spiegelte sich in der liberalen Nationalökonomie oder der Handelsliberalisierung seit dem Zweiten Weltkrieg wider. Dagegen liebäugeln Länder mit nachholender Industrialisierung oder bereits de-industrialisierte Volkswirtschaften eher mit einer Schutzzoll- oder Erziehungspolitik.

Innenpolitische und gesellschaftliche Innovationen zeigen sich im Entstehen von Arbeiter-, Kultur- und Sportvereinen rund um I.-Betriebe, von Gewerkschaften, arbeiter- und industrienahen politischen Parteien bis hin zu Sozialversicherungen, die unterschiedliche Aspekte der durch I. und Industrialisierung verursachten Entfremdung und Entwurzelung addressieren.

I.n, industrielle Innovationen und ihre Produktivitätsgewinne leisten einen zentralen Beitrag zur vielfältigen Versorgung einer wachsenden Weltbevölkerung. Dennoch ist ihre Einschätzung zwiespältig: Einerseits werden die postulierten Verteilungsspielräume durch Automatisierung als Chance zur Befreiung von monotoner Tätigkeit und zur individuellen Entwicklung gesehen. Andererseits wird die mit industrieller Arbeit verbundene Strukturierung der Gesellschaft dort, wo sie noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist, durchaus als wirtschaftliche und auch sinnstiftende Grundlage des Lebens vermisst. Für das Spannungsfeld zwischen industriellen Innovationen und ihrem Nutzen für die Menschen sind daher ständig neue Lösungen zu entwickeln.