Demokratietheorien

  1. I. Politikwissenschaftlich
  2. II. Philosophisch

I. Politikwissenschaftlich

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D. ist der Sammelbegriff für empirisch-analytische und normative Theorien über Formen, Herkunft, Entwicklung, Funktionsvoraussetzungen, Dauerhaftigkeit, Stabilität und politische Leistungsprofile der Demokratie. Das Theoriewerkzeug und die empirische Basis dieser Theorien stammen in der Politikwissenschaft aus der Ideengeschichte, der Analyse politischer Systeme und der Vergleichenden Regierungslehre, einschließlich der Staatstätigkeitsforschung. „Theorie“ meint dabei die anhand bewährter wissenschaftlicher Methoden und Kriterien erfolgende systematische, nachprüfbare „Art und Weise des Beobachtens, des Fragens und des Antwortens“ (Willke 1993: 9).

Dreierlei trägt die Politikwissenschaft zu den D. bei: Erstens untersucht sie die Rolle der Politik in der Demokratie, und zwar in institutioneller, prozessualer und entscheidungsinhaltlicher Hinsicht. Ihre institutionellen Beiträge erörtern insb. das Spielregelwerk und die Formen der Demokratie (Institution). Ihre prozessorientierten Ausführungen hingegen begreifen die Demokratie als Forum, Arena oder Markt. Auf den Entscheidungsinhalt gerichtete D. schließlich analysieren die Produkte und Ergebnisse der Regelung öffentlicher Probleme in demokratischen Regimen. Zweitens liefert die Politikwissenschaft den D. Befunde der vergleichenden Demokratieforschung, einschließlich des Demokratie-Autokratie-Vergleichs. Drittens ergänzt die Politikwissenschaft die D. durch eine Stärken- und Schwächenanalyse der Demokratie im Lichte von Kriterien „politischer Produktivität“ (Almond/Powell 1996: 144). Bei allen politikwissenschaftlichen Beiträgen zu den D. kommen sowohl empirisch-analytische Theoreme als auch normative, meist ideengeschichtlich fundierte Lehren zum Zuge. Die empirisch-analytischen Beiträge zielen methodisch auf eine am naturwissenschaftlichen Modell (Naturwissenschaften) ausgerichtete Beschreibung und Erklärung, während die normativen Theorien nach politiktheoretisch (Politische Theorie) oder philosophisch begründeter Bewertung von Ist- und Sollzuständen demokratischer Ordnungen und Ideengebäude streben.

1. Institutionelle, prozessuale und entscheidungsinhaltliche Perspektiven

1.1 Institutionelle Perspektiven

Die institutionellen Beiträge der Politikwissenschaft erörtern das Spielregelwerk und v. a. die verschiedenen Formen der Demokratie wie Repräsentativ- und Direktdemokratie, Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie, Präsidialdemokratie und (nichtpräsidentielles) parlamentarisches Regierungssystem und defekte v intakte verfassungsstaatliche Demokratien. Die Gestalt der Demokratieformen, ihre Funktionsweise, ihre ideengeschichtlichen Grundlagen, mitunter auch ihre historische Entwicklung und das zugrundeliegende Spielregelwerk sind Schwerpunkte der institutionellen Beiträge. Zu den demokratischen Spielregeln zählen in den liberalen Demokratien des Westens insb.

a) die Herrschaft der Vielen anstelle der Herrschaft der Wenigen oder der Einerherrschaft,

b) die Freiheit und politische Gleichheit aller Wahlberechtigten, nicht die Eingrenzung der Teilhabe bspw. nur auf Männer oder nur auf den waffenfähigen Teil der Bevölkerung,

c) die Volkssouveränität, die ihr Maximum in der Demokratie als „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ (so der US-amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863) erreicht,

d) das Streben nach durch Wahlen und durch das Mehrheitsprinzip begründeter legitimer Herrschaft,

e) ein offener Meinungs- und Willensbildungsprozess, der die Existenz und faire Mitwirkungschancen der Opposition sichert sowie

f) die durch Verfassung, Rechtsstaat und „checks and balances“ gegebene Begrenzung demokratischer Entscheidungsspielräume.

Den institutionellen D. zufolge wird in der Demokratie die „politische Unterstützung zum permanenten Problem gemacht“ (Luhmannn 1983: 151). Allein aus diesem Grund müssen ihre nach Machterwerb und Machterhalt strebenden Politiker um ihrer selbst willen – also nicht zwingend aus Nächstenliebe oder aufgrund von Gemeinwohlabsichten – auf die Wähler und ihre Präferenzen achten und bestrebt sein, sie durch Bereitstellung begehrter Güter zu umwerben um ihre Stimmen zu gewinnen.

In entwickelten Demokratien erfolgt der Kampf um Machterwerb und Machterhalt in einem konkurrenzoffenen politischen System mit einer funktionsfähigen Opposition. Regierungswechsel gehören zu den Spielregeln. Die institutionellen Theorien zeigen, dass die Regierungswechsel (jedenfalls in stabilen verfassungsstaatlichen Demokratien) ohne Blutvergießen stattfinden – im Unterschied zu Autokratien, in denen Machtwechsel nicht selten gewaltsam verlaufen.

Die institutionellen Beiträge haben Stärken und Schwächen der Demokratie aufgedeckt. Sie relativieren beispielsweise die Annahme, dass die für die Demokratie zentrale Mehrheitsregel ein jederzeit faires, effizientes und effektives Entscheidungsprinzip sei. Diese Sichtweise blieb in der Forschung nicht unwidersprochen. Verhandlungsdemokratien, wie die „Konsensusdemokratien“ von Arend Lijphart (2012), übertreffen die Mehrheitsdemokratien in wichtigen öffentlichen Angelegenheiten: beispielsweise bei der Reichweite der politischen Beteiligung, in Fragen der Regierbarkeit und bei sozialpolitischen Leistungen. Ferner können sogenannte wandernde, instabile Mehrheiten entstehen. Zudem können Mehrheiten, so ist seit Alexis de Tocqueville (1835/1840) bekannt, tyrannisch werden. Schließlich setzt das Mehrheitsprinzip voraus, dass „keine auf Dauer bestehende Mehrheits-Minderheitskonstellation“ besteht (Lehmbruch 1999: 405).

1.2 Prozessuale Perspektiven

Die Demokratie als Forum ist einer der zentralen prozessorientierten Beiträge der Politikwissenschaft zu den D. Der Kern dieser Lehre ist die politische Beteiligung der Staatsbürger an Aussprache und Willensbildung über öffentliche Angelegenheiten und an der Wahl ihrer Repräsentanten oder der Direktwahl ihrer politischen Führung. Die politische Beteiligung ermöglicht die Selbstverwirklichung und kann die Staatsbürger schulen und erforderlichenfalls umerziehen, bspw. vom egoistischen Bourgeois zum gemeinwohlorientierten Citoyen, so eine auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehende Idee. Weiterentwickelt wurde die Lehre der Demokratie als Forum in der „partizipatorischen D.“ (Pateman 1970), der „deliberativen“ und der „Radikalen D.“ (Comtesse u. a., Hg., 2020). Diese partizipative Variante sieht in anspruchsvoller politischer Beteiligung von möglichst vielen an möglichst vielen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens ein besonders hohes Gut. Mit politischer Beteiligung und beratender Rede argumentieren hingegen die Vertreter der deliberativen D. Sie erhoffen sich von – idealerweise herrschaftsfreier – verständigungsorientierter Kommunikation eine weitgehend authentische politische Willensbildung und im Ergebnis eine bessere Politik als ohne Deliberation (Habermas 1999). Radikale D. schließlich steigern den Partizipationsgedanken in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht bis zum Maximum einer fortwährend auf Dissens, Konflikt und Kampf gerichteten Erörterung öffentlicher Angelegenheiten.

Eine zweite prozessuale Theorie deutet die Demokratie als eine Arena für Machtkämpfe. Die Demokratieanalyse in Karl Marx’ Politischen Schriften (Marxismus) liefert ein Beispiel. K. Marx zufolge macht das allgemeine Wahlrecht eine bürgerliche Republik revolutionsreif (Klassenkampf). Die unteren Klassen – Proletariat, Bauern und Kleinbürger – setze die Republik durch das allgemeine Stimmrecht „in den Besitz der politischen Macht“ (Marx 1970: 157). Und der bislang herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, „deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, (…) entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen“ (Marx 1970: 157 f.). Damit stehen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Basis, die kapitalistische Produktionsweise (Kapitalismus), selbst zur Disposition. Das ist eine sensationelle Umkehrung des Basis-Überbau-Theorems: Denn nun bestimmt nicht länger die ökonomische Basis die weitere Entwicklung, sondern die Politik!

Eine dritte prozessorientierte Theorie begreift die Demokratie als einen politischen Markt. Der Urheber dieser Theorie ist Joseph Alois Schumpeter, dessen Capitalism, Socialism and Democracy (1942) die Grundlage für die Economic Theory of Democracy (Downs 1957) wurde. J. A. Schumpeter definierte die Demokratie als eine Methode, bei der die Kandidaten für politische Führungspositionen mittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen der Wähler werben, und zwar mit dem Ziel, die Macht für politische Entscheidungen zu erwerben. Nicht um Gemeinwohl geht es den politischen Führern, sondern um Machterwerb, -erhalt und -ausübung. Das ist die Münze, die nach J. A. Schumpeter – und später bei Anthony Downs – in der Demokratie zählt. Der eine handelt mit Öl, der andere mit Stimmen. So heißt es an einer anderen Stelle in J. A. Schumpeters einflussreichem Werk, das als Grundlage der „empirischen Demokratietheorie“ (Cnudde/Neubauer 1969), die sich als die bessere Alternative zur „normativen Demokratietheorie“ (Lembcke u. a. 2012) versteht, gewertet wird. A. Downs hat J. A. Schumpeters Gedankengang auf die Welt des Parteienwettbewerbs um Wählerstimmen übertragen und zugespitzt. Wie J. A. Schumpeter weist auch A. Downs die Vorstellung zurück, die Regierenden und die Regierten handelten aus gemeinwohlorientierten Motiven und plädiert für eine „zynischere Sicht der Dinge“ (Downs 1993: 197): Auf dem Markt der Demokratie konkurrierten eigennutzenmaximierende Parteien und Politiker als Anbieter um eigennutzenmaximierende Wähler als Kunden. Gesamtgesellschaftliche Belange kämen günstigstenfalls nur als Nebenprodukte von Handlungen zustande, die auf Macht- oder Vorteilserwerb gerichtet sind.

1.3 Entscheidungsinhaltliche Perspektiven

Vom Inhalt demokratischer Entscheidung handelt ein dritter Zweig der politikwissenschaftlichen D. Zu ihnen gehört die – auf dem internationalen Vergleich basierende – Parteiendifferenztheorie, die ursprünglich von Douglas Hibbs (1977) entwickelt wurde. D. Hibbs und den Weiterentwicklungen zufolge hinterlassen Regierungsparteien je nach ihrer politisch-ideologischen Färbung und ihren Wählerschaften meist spezifische Spuren in der Staatstätigkeit. Der Sozialpolitik bspw. besonders förderlich sind v. a. Staaten mit hohem, unter anderem demographisch bedingtem Bedarf an Sozialleistungen einerseits und einem Parteiensystem mit starken Sozialstaatsparteien christdemokratischer und sozialdemokratischer Art und schwachen marktfreundlichen Parteien andererseits. Unter solchen Bedingungen investiert der Gesetzgeber in großem Umfang in Systeme der sozialen Sicherung und in die sozialpolitische Regulierung der Arbeitswelt.

Die vergleichende Demokratieforschung weist ebenfalls überzufällige Politikwirkungen nach. Eine weit ausgebaute Direktdemokratie wie in der Schweiz bspw. bremst tendenziell sowohl den Aus- als auch den Rückbau der Staatstätigkeit. Und anhand eines internationalen Vergleichs hat A. Lijphart die These entwickelt, dass die „Konsensusdemokratien“ die „Mehrheitsdemokratien“, die lange als leistungsfähiger galten, in vielerlei Hinsicht übertreffen: Sie sind „besser beim Repräsentieren“ (Repräsentation) und „besser beim Regieren“ – gemessen etwa an der Effektivität des Regierens, der Korruptionskontrolle und der Inflationsbekämpfung. Zudem stünden sie für eine „freundlichere, sanftere Demokratie“ (Lijphart 2012: 274 f., 263): Konsensusdemokratien sind sozial- und umweltpolitisch stärker engagiert, sie sperren weniger Leute ins Gefängnis, verhängen keine Todesstrafe, und engagieren sich stärker als andere Staaten in der Entwicklungshilfe für ärmere Länder.

2. Demokratie-Autokratie-Vergleich

Ein besonderer Schwerpunkt der vergleichenden Demokratieforschung ist seit geraumer Zeit der Demokratie-Autokratie-Vergleich. Er knüpft an die nach dem ehemaligen britischen Premier Winston Churchill benannte These an, wonach die Demokratie eine ziemlich schlechte Staatsverfassung sei, aber besser als alle anderen Regierungsformen, die bislang ausprobiert wurden (Regierungssysteme). Für diese Sicht der Dinge spricht manches, aber nicht alles.

Für den „Vorsprung der Demokratie“ (Halperin/Siegele/Weinstein 2010) vor den Autokratien spricht, dass sie im Lichte von Prüfsteinen der „Politischen Produktivität“ (Almond/Powell 1996: 144) oft vorteilhaft abschneidet – gemessen an regimespezifischen Werten demokratischer Verfassungsstaaten und regimeunabhängigen Messlatten (Roller 1995). Die Demokratie sorgt für mehr Freiheit und für politische Gleichheit der Staatsbürger. Auch garantiert sie ein höheres Maß an Sicherheit der Lebensführung für ihre Bürger und zügelt die Staatsgewalten zuverlässiger. Zudem beteiligt sie die große Masse der erwachsenen Bevölkerung an der Willensbildung und Entscheidungsfindung über öffentliche Angelegenheiten und erhöht damit zugleich die Chance der Schulung der Staatsbürger. Die politische Beteiligung, eine unabhängige Wissenschaft, unabhängige Richter und eine vitale Öffentlichkeit bringen außerdem ein vergleichsweise offenes und lernfähiges politisches System mit erheblicher Befähigung zur Fehlerkorrektur zustande. Zu den Stärken der Demokratie gehört, dass sie nicht nur auf traditionale und mitunter auf charismatische (Charisma) Legitimität zählen kann; in ihr kommt zudem – mehr als in den meisten anderen Regimen – die legale Herrschaft zum Zuge: die Anerkennungswürdigkeit und faktische Anerkennung der Herrschaft kraft Glauben an die Rechtmäßigkeit der gesatzten Ordnung, bspw. der Verfassung (Legalität). Für die Demokratie spricht ferner, dass sie Wahl und Abwahl von Herrschern i. d. R. ohne Blutvergießen zustande bringt. Beachtung verdient zudem ihr außenpolitisches Profil (Außenpolitik): Zwar sind sie nicht prinzipiell friedfertiger als Nichtdemokratien, doch führen sie untereinander keine Kriege.

Dass die Demokratie die „politische Unterstützung zum permanenten Problem“ macht (Luhmann 1983: 151) und dadurch die politische Klasse in Zugzwang setzt, spiegelt die Selektoratstheorie in ihrem Demokratie-Autokratie-Vergleich wider. Zentral sind drei Akteursgruppen in dieser Theorie: das „Elektorat“ (die Wahlberechtigten), das „Selektorat“ (die Wähler, d. h. die an der Wahl ihrer politischen Führung teilnehmenden Mitglieder des Elektorats), und die „Gewinnerkoalition“, die Gruppe, deren Unterstützung für den Machterhalt der politischen Führung essentiell ist. Die meisten Autokratien haben ein relativ großes Elektorat, meist ein relativ kleines Selektorat und vor allem eine kleine Gewinnerkoalition, weil der Machterhalt der politischen Führung meist nur von relativ wenigen Akteuren abhängt. In den Demokratien hingegen ist das Elektorat sehr groß, das Selektorat je nach Wahlbeteiligung ebenfalls umfänglich und die Gewinnerkoalition von beachtlicher Größe. Je nach politischem System umfasst sie zwischen 1/4 und mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (Bueno de Mesquita/Smith 2011: 5–11). Weil die Gewinnerkoalition für den Machterhalt essentiell ist, wird sie von den Regierenden bevorzugt behandelt. Und weil in den Demokratien die Gewinnerkoalition und das Selektorat groß sind, müssen ihre Bürger von den Regierenden zwecks Machterhalts mit attraktiven Gütern versorgt werden. Das geschieht im Wesentlichen durch die umfangreiche Bereitstellung von öffentlichen Gütern – im Unterschied zu den Autokratien, deren kleine Gewinnerkoalition meist mit privilegierenden privaten Gütern ausgestattet wird, während die (für das einfache Volk bestimmten) öffentlichen Güter eine untergeordnete Rolle spielen. Hierin sieht die Selektoratstheorie eine Ursache der umfänglichen öffentlichen Daseinsvorsorge und der – im Vergleich zu den Autokratien weit ausgebauten – Sozialpolitik der meisten Demokratien.

Allerdings erstreckt sich der „Demokratievorsprung“ weder auf alle Politikfelder (Policy) noch auf alle Demokratien. Im Wesentlichen können sich nur die intakten, verfassungsstaatlichen Demokratien, bspw. die westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten, eines Leistungsvorsprungs vor Autokratien rühmen – v. a. im sozial-, umwelt-, bildungs- und forschungspolitischen Aktivitätsgrad, sodann beim Abbau von Gender-Ungleichheit sowie beim Schutz ihrer Bürger vor Gewalt. Erheblich schlechter schneiden die meisten defekten Demokratien ab. Besonders große Regimeunterschiede enthüllt somit erst die Gegenüberstellung von intakten Demokratien und den Autokratien, insb. den totalitären und den hochgradig repressiven autoritären Spielarten der Autokratie.

3. Stärken– und Schwächenanalyse

Zur Stärken- und Schwächenanalyse der Demokratie trägt nicht nur der Demokratie-Autokratie-Vergleich bei. Weitere Erkenntnisse liefern empirisch-analytische Erkundungen der Entstehungs- und Funktionsbedingungen, bspw. der Nachweis der Politischen Kultur-Forschung (Politische Kultur), dass Modernisierung und die Ausbreitung pro-demokratischer Selbstentfaltungswerte oft den Weg für weitere Demokratisierungen bahnen. In die Gegenrichtung zielen fundamentalistische Spielarten des Islam. Dort wirken religiöse Mächte sowohl als „Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“ (R. Koopmans 2020) wie auch als Gegenspieler der Demokratie. Zur Stärken- und Schwächenanalyse tragen auch normative D. bei, die einen steilen Aufschwung erlebt und sich beispiellos ausdifferenziert haben: „Neben den klassischen Ansätzen […] wie der liberalen, elitären, konservativen, sozialistischen und partizipativen Demokratietheorie“ sind neue Strömungen hinzugekommen, unter ihnen „die deliberative, feministische, neorepublikanische, neoliberale, kommunitaristische, kosmopolitane, assoziative, grün-ökologische, subsidiäre, ethnozentristische, multikulturalistische, postmoderne, reflexive und die aleatorische Demokratietheorie“ (Buchstein 2013: 117) sowie die „Neodemokratie“ (von Beyme 2013). Im Zentrum vieler neuerer normativer D. stehen drei Streitfragen:

a) der Geltungsbereich von Demokratie – hier wird erörtert, auf welche soziale Gegenstandsbereiche sich die Demokratie bezieht, beziehen darf und soll: nur auf die Politik oder auch auf die Gesellschaft und die Wirtschaft? –,

b) die Partizipationsintensität der Demokratie (Partizipation) – hier wird erkundet, wer über was und wie stark beteiligungsberechtigt ist und wie der ideale Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten beschaffen sein soll –, und

c) der Rationalitätsgehalt der Demokratie: Hier wird untersucht, ob, und wenn ja: wie und unter welchen Bedingungen der demokratische Prozess ein Höchstmaß an Vernunft oder zumindest ein Optimum an Legitimität und Effektivität zustande bringen kann.

Viele normative D. eint die Überzeugung, es gäbe „keine empirisch stichhaltigere und keine theoretisch respektwürdigere Alternative zur Begründung und Rechtfertigung des kollektivbindenden Entscheidens durch den empirischen Willen der Bürger“ (Offe 1992: 126). Die grundsätzliche Zustimmung zur Idee schließt allerdings die radikale Kritik an ihrer Praxis nicht aus. „Democracy´s Discontent“ (Sandel 2022), das Mißvergnügen an der Demokratie, ist im Schrifttum weit verbreitet. Die Begründungen variieren. Partizipatorischen, deliberativen und radikalen D. zufolge sind die Selbstverwirklichungs-, Mitwirkungs- und Diskurschancen in den modernen Demokratien viel zu knapp bemessen. Etliche normative D. kritisieren zudem Exklusionstendenzen: Organisations- und konfliktschwache Gruppierungen kämen in ihr ebenso zu kurz wie die Interessen der nichtstaatsangehörigen Wohnbevölkerung oder die Interessen zukünftiger Generationen. Dass sie zur Fassadendemokratie degeneriert seien, halten postmoderne Theorien den Demokratien der Gegenwart vor. Der Kritischen Theorie verwandte Demokratielehren betonen demgegenüber die Marktvermachtung auch in der Politik und kritisieren, in Weiterführung von Alexis de Tocquevilles Warnung vor der „Tyrannei der Mehrheit“, die Probleme der Mehrheitsregel – im Unterschied zur „Tyrannei der Minderheit“, die v. a. als ein Problem von Verhandlungsdemokratien gilt. Vertreter der Ökonomischen Theorie der Politik (Neue Politische Ökonomie) heben demgegenüber ein anderes Problem hervor: Schon geringfügige Variationen der Institutionen und der Abstimmungsprozeduren können höchst unterschiedliche Abstimmungsergebnisse zustande bringen. Zudem stehen alle Demokratien vor der schwierigen Aufgabe, die Akzeptanz der Verlierer einer Wahl oder Abstimmung zu erlangen (Loser’s consent-Problem).

Spätestens seit John Stuart Mills Considerations on Representative Government (1861) treibt ein weiteres Problem v. a. die liberalen und die elitären Spielarten der normativen D. um: In der Demokratie wirken viele politisch inkompetente Bürger mit – eine Diagnose, die sich auch in J. A. Schumpeters Theorie wiederfindet, dort aber nur achselzuckend registriert wird. Doch die Inkompetenz wirft die seit der Geburt der Demokratie diskutierte Frage auf, wie die politische Gleichheit der Bürger ohne vorgängige Klärung ihrer Qualifikation zu bewerten ist. Die Flut pejorativer Äußerungen in den „Sozialen Medien“ vergrößert das Problem. Zu den Problemen zählen v. a. seit den 2010er Jahren neuerliche Autokratisierungstendenzen (Varieties of Democracy-Institute 2023) bzw. die „Demokratische Regression“ (Schäfer/Zürn 2021) im Sinne der Rückbildung der Demokratie auf ihre früheren Entwicklungsstufen. Beide Entwicklungen haben etliche Länder erfasst. Sie verschonten allerdings bislang die große Mehrheit der „Liberalen Demokratien“, gleichviel, ob man diese mit dem „Liberal Democracy Index“ vom Varieties of Democracy-Institute (2023) misst oder mit anderen Indikatoren demokratischer Staaten.

Wer eine Gesamtbilanz anstrebt, wird die tatsächlichen und die potenziellen Schwächen der Demokratie mit ihren faktischen und potenziellen Stärken verrechnen müssen. Otfried Höffe, der diese Verrechnung gewagt hat, kam zum Ergebnis, dass die Demokratien sich vieler Vorteile vor Nichtdemokratien bei nahezu allen wichtigen Zukunftsgütern rühmen können, gleichviel ob es sich um Rechtsfrieden im Innern oder Frieden mit den Nachbarn handelt, um „Rechtskapital“, „Sozialkapital“, Humankapital oder „Kulturkapital“. Zudem profitierten die Demokratien von einem „Legitimitäts-“, „Wissens-“ und „Wirtschaftsvorsprung“ sowie von höherer Lernfähigkeit. Die Lobrede bedarf allerdings einer Eingrenzung. Sie passt nicht zu den zahlreichen defekten Demokratien, sondern nur für den Kreis der leidlich intakten, auch rechtsstaatlich gefestigten Demokratien, und auch dort nur für die außenpolitisch friedfertigen Demokratien. Und selbst diese Regime sind nicht in allen Belangen allen Nichtdemokratien überlegen. Unter Letzteren gibt es manche, deren Governancequalität (Governance) und Wirtschaftsdynamik auch mit den Demokratien mithalten können.

II. Philosophisch

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Philosophische D. untersuchen Demokratien v. a. in normativer Perspektive, z. T. auch indem sie deren historische Erscheinungsformen thematisieren. Daneben erklären und analysieren sie zentrale Elemente demokratischer Ordnung sowie Begriffe der D. und diskutieren notwendige und hinreichende Bedingungen für die Demokratie.

1. Geschichte

Bei Herodot ist um 430 v. Chr. der erste Gebrauch des Ausdrucks demokratia sowie eine Diskussion ihrer Vorzüge belegt. Er verbindet Demokratie eng mit der Gleichheit vor dem Gesetz und in der Besetzung politischer Ämter (Amt). Platon bietet eine erste ausführliche philosophische Untersuchung. Im „Politikos“ (303a) zeigt er Demokratie (wie auch Monarchie und Aristokratie) in einer idealen und in einer Verfallsform – wobei terminologisch nicht zwischen beiden Formen unterschieden wird. Unter den idealen Formen ist die Demokratie die schlechteste (weil sie aufgrund der unterschiedlichen Interessen [ Interesse ] der vielen Regierenden nur selten zu weitreichenden Entscheidungen [ Entscheidung ] führt), während sie als Verfallsform die am wenigsten problematische ist (wiederum wegen ihrer Entscheidungsschwäche). In der „Politeia“ (555b) führt Platon die Entstehung der Demokratie auf die Zügellosigkeit in der Oligarchie (der Verfallsform der Aristokratie) zurück, konstatiert allerdings zugleich, dass die demokratische Freisetzung von Freiheit selbst letztlich in Tyrannei umschlägt.

Aristoteles stellt in seiner Lehre von Regierungsformen in der „Politik“ (1278b) die Politie (als richtige Form der Volksherrschaft) der Demokratie (als Verfallsform) gegenüber. Beide unterscheiden sich dadurch, dass in der richtigen Form der Gesamtnutzen für das Gemeinwesen (Gemeinwohl) befördert wird, in der Verfallsform jedoch der Partikularnutzen (Nutzen) der (mehrheitlich) Armen im Volk. Allerdings präzisiert und relativiert Aristoteles diese Demokratiebestimmung im Verlauf seiner Ausführungen, so dass sie letztlich eine mittlere Regierungsform zwischen Politie und Ochlokratie (Pöbelherrschaft) ist. Er kritisiert somit das, was er als „Demokratie“ bezeichnet, aber nicht die Politie, also das, was gegenwärtig als Demokratie verstanden würde.

Im Spätmittelalter und der Renaissance bildet sich der Republikanismus als Ansatz heraus, der jegliche Herrschaft auf der Gesamtheit derjenigen gründet, die ihr unterworfen sind. Allerdings bedeutet diese Herrschaftsbegründung nicht, dass das Volk (allein) die Gesetze erlässt oder die Regierung ausübt; vielmehr steht im Anschluss an das antike Rom die Mischverfassung mit der Verbindung monarchischer, aristokratischer und demokratischer Elemente im Vordergrund. Jedoch werden wichtige Aspekte zukünftiger philosophischer D. entwickelt, wie etwa Status und Rolle von Bürgern (Bürger, Bürgertum) sowie Bindung der Regierungsausübung an Recht und Verfassung. Bis zu Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant wird „Demokratie“ problematisiert, wobei die Autoren darunter eine Regierungsform verstehen, in der das Volk alle Gewalten innehat und nicht nur Gesetze erlässt, sondern sie auch anwendet. Eine solche Vereinigung aller Gewalten macht diese Regierungsform zur Tyrannei, weil sie die Bindung der Herrschaft an das Recht aufhebt (Gewaltenteilung). J.-J. Rousseau schreibt jedoch dem Staatsvolk die Souveränität zu, was I. Kant aufgreift und zu einer Konzeption repräsentativer Demokratie weiterentwickelt.

Schon zur Zeit der Aufklärung setzt sich in der Philosophie eine Betrachtung der Demokratie durch, die sie nicht mehr mit einer direkten Regierung durch das Volk identifiziert. So wird z. B. von John Stuart Mill erörtert, wie die Gesamtheit einer Bevölkerung in ihrer Heterogenität in der Gesetzgebung repräsentiert und an der Auswahl der Regierenden (Wahlen) beteiligt werden kann. Karl Marx initiiert eine Kritik der Demokratie, die einerseits deren begrenzte Reichweite angesichts ökonomischer Abhängigkeiten unterstreicht, andererseits deren Radikalisierung fordert. Während im anglo-amerikanischen und im französischen Raum die Demokratie zunehmend zentral für die Philosophie insgesamt wird, ist in der deutschsprachigen Philosophie auch die Kritik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs stark vertreten.

2. Aktuelle Kontroversen

Gegenwärtig stehen insb. fünf Themen im Zentrum philosophischer D.:

2.1 Instrumentalität oder Eigenwert der Demokratie

Politische Ordnungen können dazu dienen, Zwecke (bestmöglich) zu erreichen, die außerhalb dieser Ordnung bestimmt wurden, sie können aber auch an sich geboten sein. Die Notwendigkeit von Demokratie wird demgemäß instrumentell oder nicht-instrumentell begründet: Instrumentelle Begründungen betonen die Funktion demokratischer Verfahren (z. B. von Abstimmungen oder Beratungen), Stabilität zu erzeugen oder die Qualität politischer Entscheidungen zu verbürgen. Wenn die Stabilität eines Gemeinwesens wesentlich davon abhängt, dass relevante Interessen (Interesse) all jener berücksichtigt werden, die in ihm leben, dann wird dies, argumentieren die einen, von demokratischen Verfahren besser geleistet als von alternativen Settings. Für andere müssen politische Entscheidungen gesellschaftliche Probleme lösen, und demokratische Verfahren führen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu richtigen oder adäquaten Lösungen als andere Entscheidungsmodi.

Zwischen instrumentellen und nicht-instrumentellen Rechtfertigungen stehen „politische“ oder „rein instrumentelle“ D. Ihre Autoren nehmen z. T. an, dass es normative Wahrheiten gibt, gehen aber von der Fallibilität vorgebrachter Positionen aus und folgern, dass niemand für sich reklamieren kann, sicher Wahrheiten gefunden zu haben. Unter solchen Bedingungen, so die Argumentation des „epistemischen Prozeduralismus“ (Estlund 2008), bietet die Demokratie entweder das fairste Verfahren, um Koexistenzregeln festzulegen, oder sie führt sogar mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu normativ richtigen Entscheidungen. Diese Ansätze teilen mit instrumentellen Theorien die Auffassung, dass der eigentliche Standard für legitime Handlungen, politische Ordnungen etc. nicht von der Demokratie abhängt. Im Unterschied dazu unterstreichen sie jedoch die genuine und kaum ersetzbare Leistung der Demokratie in der Annäherung an diesen Legitimitätsstandard bzw. dessen Ersatz unter andauernden normativen Differenzen.

Ansätze, die der Demokratie Eigenwert zuschreiben, vertreten oft normativ konstruktivistische Positionen (Konstruktivismus). Sie gehen davon aus, dass Standards für die Richtigkeit bzw. Legitimität politischer Entscheidungen nicht an sich erkannt werden können, sondern aus Verfahren resultieren, an denen alle beteiligt waren, die ihnen unterworfen sind. Demokratische Verfahren sind also geboten, um Prinzipien und Regeln zu erzeugen, die legitimerweise Befolgung erwarten können. Thomas Christiano unterstreicht die intrinsische Gerechtigkeit demokratischer gleicher Beteiligung und Gleichbehandlung (Gleichheit), ohne dabei davon auszugehen, dass Demokratien bes. qualifizierte Normen erzeugen. Neo-aristotelische oder radikaldemokratische Autoren verweisen auf die bes. enge Verbindung zwischen den Menschen kennzeichnenden Vermögen und demokratischer Teilhabe. Der Eigenwert der Demokratie ergibt sich für sie aus ihrer Erforderlichkeit, damit Menschen ihre Vermögen ausüben, die daran hängende Tugendhaftigkeit (Tugend) ausbilden oder gemeinsam mit anderen die Welt gestalten können.

2.2 Repräsentation oder Delegation

Moderne Demokratien werden oft als „repräsentativ“ bezeichnet, um festzuhalten, dass nicht alle direkt an der Gesetzgebung beteiligt sind, sondern Interessen und Präferenzen durch Repräsentanten eingebracht werden. Die jüngere philosophische D. problematisiert diese Idee einer „Abbildung“ von Interessen in drei Hinsichten: Erstens wird die Unterstellung kritisiert, dass Interessen vorpolitisch bereits vorliegen und sowohl intra-, als auch interpersonell so einheitlich und kompatibel sind, dass sie repräsentiert und in den demokratischen Prozess eingespeist werden können. Dagegen hält Christoph Möllers fest, dass die politische Artikulation von Anliegen expressiv zu verstehen ist. Politische Willens- und individuelle Interessensausbildung bedingen sich wechselseitig, und die Legitimität demokratischer Verfahren kann nicht ex ante an ihrer vermeintlichen Responsivität gegenüber Interessen bemessen werden. Zweitens zeigt eine genauere Betrachtung demokratischer Verfahren, dass selbst wenn Interessen in sie eingespeist werden, Entscheidungen (Entscheidung) nicht (direkt) auf sie zurückführbar sind. Die Öffentlichkeit vieler Verfahren sowie ihre Ausrichtung auf umsetzbare Maßnahmen haben wenigstens teilweise zur Konsequenz, dass Interessen auch keine Berücksichtigung finden, ohne dass dies für die Legitimität der Verfahren ein Problem darstellt. Drittens konstatiert Philip Pettit, wie schon früher Benjamin Constant, dass „Repräsentation“ weder den Wahlvorgang, noch das Selbstverständnis von Abgeordneten (Abgeordneter) adäquat erfasst. Vielmehr wird die Mitberatungs- und Mitentscheidungsberechtigung temporär abgetreten, also jemand zur Teilhabe an den Verfahren entsandt (Delegation), der sich in ihnen – auch mit Blick auf zukünftige Wahlen – i. S. d. Entsendenden einbringt.

2.3 Aggregation oder Deliberation

Die Relevanz von Interessen thematisiert ein weiterer Debattenstrang: Demokratie wird liberal-pluralistisch (Liberalismus, Pluralismus) oft so verstanden, dass sie unterschiedliche Interessen zu für alle akzeptablen Entscheidungen zusammenführt. Sie wäre somit ein Verfahren, das Interessen aggregiert, indem es Überschneidungen und Kompromisse (Kompromiss) findet. Gegen diese Vorstellung wenden sich im Anschluss an Jürgen Habermas Ansätze deliberativer Demokratie, die sie durch ein genuin diskursives Verfahren (Diskursethik) charakterisieren. In ihm werden Interessen und Anliegen mit Gründen vorgebracht, deren Qualität in gemeinsamen Beratungen überprüft und Entscheidungen auf ihrer Basis (und nicht der Interessen) gefällt. Demokratien sollten dabei deliberativ verfasst sein (s. o.): Dies ist erforderlich für die intendierte Art technischer und normativer Entscheidungen. Zugleich garantiert eine solche Verfasstheit die einzig adäquate, gerechte oder richtige Einbeziehung aller in den demokratischen Prozess. Die Teilhabe aller an der Gesetzgebung ist dann realisiert, wenn jeder die Möglichkeit hat, relevante Gründe vorzubringen, die für jeweilige Fragen auf der demokratischen Agenda und für bzw. gegen Lösungen dieser Fragen sprechen, und überprüfen kann, ob Regierungshandeln bzw. Gerichtsurteile den deliberativ getroffenen Entscheidungen entsprechen. Die Forderung deliberativer Demokratie richtet sich somit nicht nur auf das Gesetzgebungsverfahren im engeren Sinn, sondern auf die Gesamtgestalt des politischen Systems.

2.4 Bürgerschaft

Klassisches Thema philosophischer D. ist die Rolle von Bürgern (Bürger, Bürgertum). Demokratien werden von ihren Bürgern getragen, aber sie ermöglichen es ihnen auch, an Entscheidungen teilzuhaben, und verleihen ihnen Rechte oder Privilegien. Diskussionen kreisen daher einerseits um Tugenden, die Bürger mitbringen müssen oder die eine Demokratie durch Erziehung bilden und erhalten sollte, oder auch um Rechte, die mit Bürgerschaft einhergehen und wer sie erhalten sollte. Andererseits steht aber auch das Spannungsverhältnis zwischen Erwartungen und Rechten im Fokus: Axel Honneth zeigt, dass „demokratische Sittlichkeit“ von Bürgern fordert, Rechte nicht individualistisch (Individualismus) misszuverstehen oder gar zu missbrauchen, während die Rechtelogik sowie ein liberales Verständnis demokratischer Ordnung es geradezu notwendig machen, den Bürgerschaftsstatus unabhängig von moralischen Einstellungen anderer Bürger oder Institutionen (Institution) zu garantieren. Bes. offensichtlich werden die unterschiedlichen Perspektiven bei der Frage, welche Ansprüche auf Bürgerschaft Migranten (Migration) erheben können: Für diejenigen, für die Bürger die Demokratie tragen, sprechen die Bedingungen, unter denen sich geteilte „Sittlichkeit“ reproduziert, dafür, Demokratien das Recht zuzusprechen, selbst zu entscheiden, wer zuwandern darf, während diejenigen, die den Bürgerstatus als Privileg erachten, fordern, dass er in einer gerechten Ordnung nicht an die Zufälligkeit des Geburtsorts gebunden sein kann. Weniger umstritten ist, dass zumindest bereits Zugewanderte Anspruch auf Bürgerschaft haben, wenn dies erforderlich ist, um ihre grundlegenden Rechte (Grundrechte) zu garantieren.

2.5 Verfassung und Politik

An die Frage nach dem Verhältnis von politischer Teilhabe und Gewährleistung von Rechten schließt auch eine letzte Kontroverse an, deren Ursprünge bis in die Französische Revolution und die Kritik an Menschenrechten zurückreichen, wie sie z. B. Jeremy Bentham geäußert hat, und bei der es um das Verhältnis der Verfassung und in ihr niedergelegter Grundrechte zur Kontingenz legislativer Verfahren geht. Auf der einen Seite finden sich Ansätze, demokratische Legitimität an einen allgemein zustimmungsfähigen Verfassungsrahmen zu binden, der grundlegende Rechte und Minderheitenschutz (Minderheiten) verbürgt und „normaler Politik“ Entscheidungsgrenzen setzt. Auf der anderen Seite wird die Offenheit oder sogar Souveränität der Gesetzgebung betont und das umfassende Vermögen der legislativen Instanz, den öffentlichen Raum zu gestalten, so verstanden, dass es die Inklusivität der Demokratie bzw. die Möglichkeit sichert, Machtausübung abzuwehren und zu kontrollieren. Vermittelnde Positionen weisen ebenfalls den strikten Vorrang von Verfassungsnormen zurück, betonen aber die Bedeutung der Rechtsförmigkeit demokratischer Prozesse und darin liegende Grenzen für politische Institutionen, ihre Bürger zu beherrschen.

3. Post-Demokratie jenseits des Staates

Zu einem zentralen philosophischen Gegenstand ist die Demokratie erst seit der 2. Hälfte des 20. Jh. geworden, parallel zu ihrem politischen Siegeszug, der sie zur kaum bestrittenen einzig legitimen Form der Herrschaftsausübung (Herrschaft) gemacht hat. Diese Alternativlosigkeit hat angesichts der Globalisierung zu zwei kritischen Perspektiven geführt, die neue Dimensionen philosophischer Forschung eröffnen:

Erstens verweist Colin Crouch unter dem Titel „Postdemokratie“ auf den Abstand zwischen demokratischen Teilhabeansprüchen bzw. Gestaltungsversprechen und faktischen staatlichen Wettbewerbspolitiken. Dieser Diagnose zufolge treten medial vermittelte Inszenierung demokratischer Verfahren (Medialisierung) und politische Entscheidungen auseinander, die ökonomische Ziele weitgehend unabhängig von ernsthafter gemeinsamer Willensbildung verfolgen. Dies wirft die Frage auf, ob neue Formen demokratischer Teilhabe ökonomische Entscheidungen (wieder) der Kontrolle durch diejenigen unterstellen können, die ihnen letztlich unterworfen sind.

Zweitens wird die Bindung demokratischer Verfahren und Institutionen an den Nationalstaat (Staat) problematisiert – einerseits aufgrund der Existenz trans- und supranationaler politischer Zusammenhänge (Supranationalität, Transnationale Beziehungen), an die ebenfalls Demokratisierungserwartungen (Demokratisierung) gerichtet werden, andererseits aber auch aufgrund internationaler Spannungen, die sich durch die Außenpolitiken (Außenpolitik) demokratischer Einzelstaaten ergeben. In Reaktion hierauf werden Modelle kosmopolitaner (Kosmopolitismus) oder transnationaler Demokratie entwickelt, die demokratische Verfahren und Institutionen zwischen und jenseits von Nationalstaaten anstreben.