Daseinsvorsorge

1. Begriff und Konzept

D. umfasst alle Infrastrukturleistungen, die die Bürgerinnen und Bürger zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit benötigen und die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft durch die Produktion öffentlicher Güter gewährleisten. Welche Infrastrukturen zur D. zählen, hängt vom Stand der sozialen und technischen Entwicklung ab. Die Infrastrukturen (Infrastruktur) in den Bereichen Abfall, Bildung, Energie, Gesundheit, Kommunikation, Verkehr und Wasser bilden den Kern der D. Umstritten ist, ob auch Finanzdienstleistungen, Kultur und Sozialversicherung zur D. gehören.

2. Rechtliche Dimension

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist die D. Ausdruck des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG; Sozialstaat). Aber auch aufgrund seiner grundrechtlichen Schutzpflichten muss der Staat die Effektivität von Infrastrukturen (Infrastruktur) gewährleisten, auf welche die Bürgerinnen und Bürger bspw. hinsichtlich ihrer Mobilität (Art. 2 Abs. 1 GG), Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), Kommunikation (Art. 5 Abs. 1 GG), Bildung (Art. 7 Abs. 1 GG) oder wirtschaftlichen Tätigkeit (Art. 12 Abs. 1 GG) angewiesen sind. Einzelne Bereiche der D. werden vom GG gesondert geregelt: Die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse (Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG; Verkehr) und die flächendeckende Versorgung mit angemessenen und ausreichenden Telekommunikationsdienstleistungen (Art. 87f Abs. 1 GG) sind ausdrücklich als Verfassungsgüter ausgewiesen. Die flächendeckende Gewährleistung der D. wird durch die Gleichwertigkeit (Art. 72 Abs. 2 GG) bzw. die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG) vorgegeben. Allerdings hat die Rechtsprechung des BVerfG hinsichtlich der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu einem Verfassungswandel geführt. Das Gericht nimmt eine Bedrohung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nun erst dann an, wenn sich diese „in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“ (BVerfGE 106, 62 [144 ff.]). Als verfassungsrechtlicher Maßstab für die Gewährleistung der D. verkennt dieses minimalistische Verständnis jedoch die Bedeutung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse für den sozialen und räumlichen Zusammenhalt der BRD. Insofern ist auf das Sozialstaatsgebot und insb. auch auf den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) zurückzugreifen, der den Bürgerinnen und Bürgern einen gleichen und diskriminierungsfreien Zugang zu den Infrastrukturen der D. garantiert.

Auf europäischer Ebene wird die D. in Gestalt der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als gemeinsamer Wert der EU anerkannt, der eine besondere Bedeutung für soziale und territoriale Kohäsion der Union entfaltet (Art. 36 EuGRC, Art. 14 AEUV). Das Verhältnis zwischen der Gewährleistung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse einerseits und dem Beihilfe- und Wettbewerbsrecht andererseits (Art. 93, 106 f. AEUV) ist nach wie vor im Fluss, da das „soziale Gewissen“ Europas (J. A. Kämmerer) maßgeblich von der Entwicklung der EU als Wirtschafts- und Sozialordnung abhängt.

3. Entwicklungen

Die D. hat sich zunächst im Zuge der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und Urbanisierung im 19. Jh. entwickelt und sich bis heute in einer globalen Infrastrukturentwicklung ausdifferenziert (Infrastruktur). In Deutschland wurde der Begriff der D. durch Ernst Forsthoff („Die Verwaltung als Leistungsträger“, 1938) geprägt. Hierbei griff E. Forsthoff auf theoretische Versatzstücke Adolph Wagners, Max Webers, Martin Heideggers, Karl Jaspers’ und Carl Schmitts zurück. Die Vorsorge für das menschliche Dasein als Verwaltungsaufgabe entsteht nach E. Forsthoff aus einem Wandel des sozialen Raumverständnisses (Raum) infolge der industriellen Revolution. In praktisch allen Lebensbereichen sind die Menschen auf die Teilhabe an den Strukturen der D. angewiesen, die von der Leistungsverwaltung geschaffen werden. E. Forsthoff begreift diese verwaltungs- und staatsfixierte D. – schon begrifflich – als eine politisch existenzielle Sozialphilosophie: Der Staat legitimiert sich nicht durch die Garantie individueller Freiheitsrechte, sondern durch die institutionelle Vermittlung kollektiver Teilhabe an der D. Während E. Forsthoffs Konzept der D. von 1938 durch die NS-Ideologie geprägt war (Nationalsozialismus), konturierte er die D. nach 1945 im sozialpolitischen Kontext der Industriegesellschaft und des Wohlfahrtsstaats. Die D. wandelte sich zu einem Sammelbegriff für praktisch alle staatlichen Leistungen, die in der Verwaltungspraxis schwerpunktmäßig, aber keineswegs ausschließlich von den Kommunen erbracht werden. So diente die D. in der klassischen BRD als reflexartiges Schlagwort, um Staats- und Verwaltungskompetenzen zu begründen – von öffentlichen Parkplätzen über die Tierkörperbeseitigung bis zum Wetterdienst. Aufgrund seiner zunehmenden Konturlosigkeit sprach die Rechtwissenschaft der D. teilweise jede konzeptionelle Bedeutung ab oder attestierte dem Begriff allenfalls ein „heuristisches“ Potenzial. Zu einer rechtlichen Renaissance der D. kam es mit der Privatisierung von Infrastrukturen ab den 1980er Jahren (Infrastruktur). Entsprechend dem Leitbild des Gewährleistungsstaats sollte die D. nicht mehr allein von der Leistungsverwaltung, sondern in Verantwortungsteilung von Staat, Unternehmen und Zivilgesellschaft erbracht werden. Das Privatisierungsfolgen- und Regulierungsrecht wertete die D. zum Rechtsbegriff auf, um öffentliche Aufgaben im Infrastruktursektor zu kennzeichnen (z. B. § 1 Abs. 1 RegG). Darüber hinaus führte auch das Raumordnungsrecht die D. als Rechtsbegriff ein, der über Infrastrukturen den sozialen und territorialen Zusammenhalt einer demografisch unter Druck geratenen BRD gewährleisten soll (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 ROG).

4. Demografie, Finanzkrise, Streik und Klimawandel

Die flächendeckende D. sieht sich in der BRD aktuell durch den demografischen Wandel herausgefordert. Die Leistungsverwaltung baut ihr Angebot an D. ab, indem sie sich aus der Fläche zurückzieht. Das Regulierungsrecht ist derzeit nicht in der Lage, eine angemessene Infrastrukturversorgung in Schrumpfungsgebieten zu gewährleisten. Das Verfassungsgebot der gleichwertigen Lebensverhältnisse entwickelt – vom BVerfG auf ein föderales Minimum heruntergefahren – keine rechtliche Steuerungsfunktion mehr. In schrumpfenden Regionen findet eine „kalte“ Sanierung der D. in Form der De-Infrastrukturalisierung statt. Mit der Privatisierung der D. und dem aktuellen Streit um die Anerkennung eines Streikrechts für Beamtinnen und Beamte (Beamte) stellt sich des Weiteren die Frage, welche Schranken dem Arbeitskampf in der D. gezogen sind: Das Sozialstaatsgebot, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sowie Gemeingüter (Art. 87e Abs. 4 Satz 1, Art. 87f Abs. 1 GG) setzen in Abwägung mit der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) dem Streikrecht in der D. verfassungsrechtliche Grenzen, die der demokratisch legitimierte Gesetzgeber konkretisieren muss. Darüber hinaus kulminieren die Folgen der Banken-, Finanz-, Haushalts- und Schuldenkrise in der Forderung nach weiteren Privatisierungen der D. und einem weiteren Abbau von staatlichen Infrastrukturen (Infrastruktur). Doch dies verschärft die soziale Ungleichheit, löst den sozialen Zusammenhalt von Gesellschaften (Gesellschaft) auf und beschleunigt die Delegitimation des demokratischen Wohlfahrtsstaats. Daneben rückt auch die ökologische und zugleich globale Dimension der D. immer stärker ins Bewusstsein: Die gerade entstehende „globale Mittelklasse“ fordert ihre infrastrukturelle D. ein, deren fossiler Energieverbrauch den Klimawandel, das Artensterben und die Umweltzerstörung weiter beschleunigt.