Koalitionsfreiheit

1. Begriff, historische Entwicklung und Einordnung der Koalitionsfreiheit

Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet als bes. Ausprägung der Vereinigungsfreiheit jedermann und allen Berufen das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Sie werden als Koalitionen bezeichnet; konkret handelt es sich um Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, einschließlich ihrer Dachverbände.

Die K. ist erst unter den Bedingungen moderner Industriearbeit entstanden, die sich im 19. Jh. entwickelt haben. Die damaligen sozialen Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit brachten autonome Arbeitnehmerzusammenschlüsse hervor, welche vom staatlichen Recht zögerlich und in mehreren Schritten als Mitgestalter der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen anerkannt worden sind. Die wichtigsten rechtsgeschichtlichen Stationen auf diesem Weg waren: die Aufhebung des bis dahin bestehenden Koalitionsverbots durch §§ 152, 153 GewO im Jahre 1869 und des Sozialistengesetzes im Jahre 1890. Nachdem 1918 die TVVO erlassen worden war, erkannte die WRV in den Art. 159 und 165 der K. erstmals Verfassungsrang zu. Heute ist die K. nicht nur in Art. 9 Abs. 3 GG als Grundrecht gewährleistet. Auch einige Landesverfassungen kennen entsprechende, teils sogar ausführlichere Garantien. Hinzu kommen zahlreiche Rechtsakte auf europäischer und internationaler Ebene, u. a. Art. 11 EMRK von 1950 sowie Art. 5 und 6 der ESC von 1961, Art. 28 EuGRC; auf der Ebene der Vereinten Nationen Art. 23 Abs. 4 UN-Deklaration von 1948, Art. 22 Abs. 1 IPbpR von 1966 und Art. 8 IPwskR von 1966. Im Vordergrund der Rechtsprechung des BVerfG und des BAG steht indes Art. 9 Abs. 3 GG, der als „Magna Charta des kollektiven Arbeitsrechts“ (Zöllner 1973: 71 f.) bezeichnet wird.

Die Verfassungsbestimmung konstituiert ein subjektives Freiheitsrecht, das sich in erster Linie gegen Eingriffe des Staates richtet, allerdings auch vor Eingriffen Dritter schützt (vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG) und insoweit unmittelbare Drittwirkung entfaltet. Allerdings erschöpft sich darin nicht die Bedeutung der K. In ihr kommt auch eine objektive Ordnungsvorstellung zum Ausdruck: Das Arbeitsleben soll von frei gebildeten Gruppen der sozialen Gegenspieler (Sozialpartnerschaft) geordnet und befriedet werden. Die Arbeitsverfassung soll mithin vom Prinzip sozialer Selbstverantwortung geprägt sein. Das bedeutet nicht, dass der Staat aus seiner Verantwortung entlassen wird; auch das Sozialstaatsprinzip (Sozialstaat) nimmt ihn in die Pflicht. Der Gesetzgeber bleibt zur Ausgestaltung der K. berufen, um zu einem möglichst effektiven und freiheitsgerechten Funktionieren der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beizutragen (z. B. im TVG). In weiten Bereichen des kollektiven Arbeitsrechts überlässt er diese Aufgabe allerdings der Rechtsprechung.

2. Schutzumfang und Grenzen der Koalitionsfreiheit

Die K. ist nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG ein Individualgrundrecht, auf das sich nicht nur Arbeitnehmer (unter Einschluss der Beamten), sondern auch Arbeitgeber berufen können. Da jedoch die auf dieser Grundlage gebildete Vereinigung das zentrale Medium zur Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Zwecks darstellt, muss auch die Koalition selbst vom Schutzbereich des Grundrechts erfasst sein. Aus dem heute anerkannten doppelten Gewährleistungsgehalt resultieren Spannungen zwischen der individuellen und der kollektiven K., deren Auflösung nicht selten umstritten ist, wie z. B. die Diskussion um die sogenannte Differenzierungsklauseln anschaulich zeigt.

Der sachliche Schutzbereich der K. beschränkt sich nicht auf Tätigkeiten, die für die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Koalition unerlässlich sind, sondern umfasst alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen durch die Koalition und ihre Mitglieder (grundlegend BVerfG 14.11.1995 – 1 BvR 601/92 – NJW 1996, 1201; BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06 – NZA 2007, 1055 und BAG 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, NJW 2010, 631 Rn. 33). Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die K. unerlässlich ist, kann erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen.

Die K. ist in Art. 9 Abs. 3 GG zwar vorbehaltlos gewährleistet, unterliegt aber nach st. Rspr. verfassungsimmanenten Schranken, wenn sie mit verfassungsrechtlichen Rechtsgütern, v. a. Grundrechten Dritter, kollidiert. Die Gerichte stehen vor der Aufgabe, die kollidierenden Verfassungsrechte in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Die Grenzen zulässiger Beeinträchtigungen sind überschritten, soweit Einschränkungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind (BVerfG 6.2.2007 – 1 BvR 978/05 NZA 2007, 394). Kein Eingriff in die K. liegt vor, wenn der Gesetzgeber das Grundrecht in zulässiger Weise ausgestaltet und die Voraussetzung seiner Wahrnehmung schafft; dabei darf er das Grundrecht indes nicht aushöhlen.

3. Individuelle Koalitionsfreiheit

Die individuelle K. gewährleistet das Recht des Einzelnen, sich mit anderen zu einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband zusammenzuschließen, einer solchen Vereinigung beizutreten, in ihr zu verbleiben und an der koalitionsspezifischen Betätigung der Koalition teilzunehmen (positive K.). Ein Beitrittsrecht oder umgekehrt ein Recht, nicht ausgeschlossen zu werden, kann allerdings unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht abgeleitet werden. Denn grundsätzlich kann die Koalition den Beitritt und den Ausschluss nach ihren eigenen Vorstellungen regeln (Satzungsautonomie als Ausfluss der kollektiven K.).

Dem liberalen Prinzip, jeglichen Koalitionszwang auszuschließen, entspr. die negative K., verstanden als Recht des Einzelnen, einer Koalition fernzubleiben bzw. wieder aus ihr auszutreten. Sie wird nach ganz herrschender Meinung (BVerfG 11.7.2006 – 1 BvL 4/00 – NZA 2007, 42 Rn. 66) ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, da es sich dabei um die notwendige Kehrseite der positiven K. handelt. Unzulässig wären bspw. closed-shop-Klauseln, die es dem Arbeitgeber verbieten, Nicht- oder Anders-Organisierte zu beschäftigen. Aber auch die Erstreckung von Tarifverträgen auf nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer steht in einem Spannungsverhältnis zur negativen K. Auch unangemessene Bedingungen für das Ausscheiden aus der Vereinigung können in Konflikt zur negativen K. stehen und an ihr scheitern. Demgegenüber sieht die neuere Rechtsprechung des BAG in einfachen Differenzierungsklauseln, die bestimmte tarifvertragliche Vorteile den Mitgliedern der tarifschließenden Gewerkschaft vorbehalten sollen, dem Arbeitgeber jedoch nicht hindern, die Leistung auch Außenseitern zu gewähren, keinen Verstoß gegen die negative K. der nicht anspruchsberechtigten Arbeitnehmer (BAG 18.3.2009 – 4 AZR 64/08 – NZA 2009, 1028).

4. Kollektive Koalitionsfreiheit

Die kollektive K. schützt die Koalitionen in verschiedener Hinsicht. Integraler Bestandteil des kollektiven Koalitionsrechts ist die Bestandsgarantie der Koalitionen. Als institutionelle Garantie schützt sie die Koalitionen vor Eingriffen des Staates oder Privater, die sich gegen die Entstehung oder den Fortbestand der Koalition richten. Ein staatliches Gewerkschaftsverbot wäre verfassungwidrig. Wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Bestandsgarantie kann sich eine Gewerkschaft auch dagegen wehren, dass ein Arbeitgeber die Einstellung eines ihrer Mitglieder vom Austritt aus der Gewerkschaft abhängig macht (BAG 2.6.1987 – 1 AZR 651/85 – NZA 1988, 64). Nicht gehindert ist aber die Existenzgefährdung durch verbandsinterne Vorgänge wie Mitgliederschwund oder mangelnde Durchsetzungskraft gegenüber dem tariflichen Gegenspieler.

Einen weiteren Eckpfeiler der kollektiven K. bildet die Verbands- oder Organisationsautonomie, die auch die Satzungsautonomie umfasst. Der Schutz der Koalitionsfreiheit unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen Ausgestaltung erstreckt sich insb. auf die Festlegung des Koalitionszwecks, die Wahl des Organisationsprinzips (z. B. nach dem Industrie- oder Berufsverbandsprinzip), die Abgrenzung der eigenen Zuständigkeit sowie die Bestimmung über die Organisationsstruktur, das Verfahren der Willensbildung und die Führung der Geschäfte. Die Satzungsautonomie ermöglicht es einem Arbeitgeberverband, den Mitgliedern eine Option einzuräumen, dem Verband ohne Tarifbindung beizutreten (BAG 18.7.2006 – 1 ABR 36/05 – NZA 2006, 1225, 1230). Ferner folgt aus der Satzungsautonomie das Recht der Koalitionen, die Modalitäten des Beitritts und des Ausschlusses zu regeln und dabei Vorkehrungen gegen Gefahren und Störungen zu treffen, die der Zielsetzung und der inneren Ordnung des Verbandes (BGH 15.10.1990 – II ZR 255/89 – NJW 1991, 485 und 27.9.1993 – II ZR 25/93 – NJW 1994, 43) sowie der verbandsinternen Solidarität (BVerfG 24.2.1999 – 1 BvR 123/93 – NZA 1999, 713) aus den eigenen Reihen drohen.

Die Betätigungsgarantie als funktionelle Garantie schützt alle spezifisch koalitionsmäßigen, auf die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausgerichteten Verhaltensweisen.

Um diese Aktivitäten zu entfalten, müssen sich die Koalitionen der erforderlichen Mittel bedienen können. Diese werden ihnen von Verfassungs wegen garantiert (sogenannte Koalitionsmittelgarantie). In der Wahl ihrer Mittel sind die Koalitionen prinzipiell frei.

Die Tarifautonomie ist als Unterfall der Koalitionsmittel-, jedenfalls der Betätigungsgarantie anzusehen, denn das Aushandeln und der Abschluss von Tarifverträgen ist das zentrale Mittel, den Koalitionszweck zu verwirklichen. Der Staat enthält sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflussnahme und überlässt die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die sie autonom durch Vereinbarungen treffen. Dem Staat obliegt es lediglich, Kernelemente eines Tarifvertragssystems zur Verfügung zu stellen. Die konkrete Ausgestaltung des gegenwärtigen Tarifvertragssystems genießt hingegen keinen verfassungsrechtlichen Schutz. V. a. kann der Gesetzgeber auch in konfligierende Grundrechtspositionen eingreifen, um die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu gewährleisten. So gesehen verleiht Art. 9 Abs. 3 GG den Tarifvertragsparteien in dem für tarifvertragliche Regelungen zugänglichen Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Mit dem Grundsatz der Tarifautonomie nicht vereinbar wäre es, wenn die Gerichte kontrollieren würden, ob die Tarifvertragsparteien die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen haben (Verbot der Tarifzensur). Tarifverträge sind von den Gerichten nur darauf zu prüfen, ob sie gegen zwingende staatliche Rechtssätze verstoßen. Eine Billigkeits- oder Angemessenheitskontrolle ist ausgeschlossen.

Zu den geschützten Mitteln zählen auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie werden jedenfalls insoweit von der K. erfasst, als sie für eine funktionierende Tarifautonomie erforderlich sind. Im Rahmen der Koalitionsmittelgarantie besteht prinzipiell Freiheit des Kampfeintritts, der Kampfführung, der Wahl des Kampfmittels und der Kampfbeendigung. Verfassungsrechtlich gewährleistet sind nicht nur Streik und Aussperrung, sondern auch ungewöhnliche Kampfmittel (zum Flashmob als Arbeitskampfmittel BAG 22.9.2009 – 1 AZR 972/08 – NZA 2009, 1347 und BVerfG 26.3.2014 – 1 BvR 3185/09 – NZA 2014, 493).

Das Arbeitskampfrecht beruht v. a. auf Richterrecht, für das Art. 9 Abs. 3 GG den wichtigsten normativen Anknüpfungspunkt darstellt. Verfassungsrechtliche Schranken des Arbeitskampfes ergeben sich u. a. aus Art. 33 Abs. 5 GG (Verbot des Beamtenstreiks, vgl. zuletzt BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13 – NZA 2014, 616) und aus dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (zuletzt BAG 20.11.2012 – 1 AZR 179/11 – NZA 2013, 449).

Zu den geschützten Tätigkeiten gehört auch die Mitgliederwerbung durch die Koalitionen selbst (BVerfG 14.11.1995 – 1 BvR 601/92 – NZA 1996, 381, 382). Diese schaffen damit das Fundament für die Erfüllung ihrer in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Aufgaben. Durch die Werbung neuer Mitglieder sichern sie ihren Fortbestand. Außerdem hängt von der Mitgliederzahl ihre Verhandlungsstärke ab. So muss der Arbeitgeber etwa den unaufgeforderten Versand von Gewerkschaftswerbung an die betrieblichen E-Mail-Adressen der Arbeitnehmer dulden (BAG 20.01.2009 – 1 AZR 515/08 – NZA 2009, 615) und betriebsfremden Beauftragten der Gewerkschaft jedenfalls zweimal im Jahr Zutritt zum Betrieb zwecks Mitgliederwerbung gewähren (BAG 22.06.2010 – 1 AZR 179/09 – NZA 2010, 1365).