Österreich

  1. I. Geschichtlich
  2. II. Politisch
  3. III. Wirtschaftlich

I. Geschichtlich

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Die Republik Ö. (knapp 84 000 km2 – 9,1 Mio. Einwohner) mit ihren neun Bundesländern geht in ihrer heutigen Form auf den Friedensvertrag von St. Germain 1919 zurück.

Nach der Niederlage der Doppelmonarchie Ö.-Ungarn im Ersten Weltkrieg, den Unabhängigkeitserklärungen seitens der vormals in der Monarchie versammelten nicht-deutschen Nationen sowie dem Verzicht des letzten österreichischen Kaisers Karl I. auf die Regierungsgeschäfte, rief die Provisorische Nationalversammlung am 12.11.1918 die Republik „Deutschösterreich“ als Bestandteil der „Deutschen Republik“ aus. Der Name wurde infolge des Anschlussverbots ein Jahr später in „Republik Österreich“ umgeändert.

Deren neun Bundesländer gründen sich auf jene „Kern-Länder“, die bereits in der Monarchie zu deren mehrheitlich deutschsprachigen „Erbländern“ gezählt hatten – mit Ausnahme des Burgenlandes, das als vormaliger Teil Westungarns erst infolge des Vertrags von Trianon (4.6.1920) zu Ö. kam und als Entschädigung für die an Italien abgetretenen südlichen Gebiete Tirols (Südtirol und Trentino) diente, sowie der südlichen (gemischtsprachigen) Teile von Kärnten, die nach einer Volksabstimmung (10.10.1920) an Kärnten fielen. Abgesehen von den Jahren 1938–1945, blieb die Republik Ö. in ihren Grenzen von 1919 auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen.

Die Ausbildung eines spezifisch „österreichischen“ Staats- und Nationsbewusstseins setzte erst nach 1945 ein. Unmittelbar nach 1918/19 hatte niemand an die Überlebensfähigkeit des „Reststaates“ geglaubt. Um die Loyalität der sich als „deutsch“ verstehenden Bevölkerung zu fördern, wurde im Jahr 1946 eine mittelalterliche Urkunde (die sogenannte Ostarrîchi-Urkunde) aus dem Jahre 996 mit politisch-historischer Bedeutung aufgeladen, um das damit dokumentierte 950-jährige Bestehen Ö.s zu feiern. 50 Jahre später – 1996 – mündete dieser mittlerweile etablierte historische Erinnerungsort in wirkmächtige Tausendjahrfeiern.

Diese Schenkungsurkunde von Kaiser Otto III. an die Kirche von Freising vermerkt die damals übliche Bezeichnung „Ostarrîchi“ für das räumliche Umfeld jenes Ortes, auf den sich die Schenkung bezog: Neuhofen an der Ybbs, im heutigen Niederösterreich gelegen.

Die Existenz einer östlichen Grenzmark des bayerischen Herzogtums ist allerdings bereits 20 Jahre vor der Ostarrîchi-Urkunde belegt: Im Jahr 976 übertrug Kaiser Otto II. ein Gebiet von etwa 100 km Länge südlich der Donau (heute etwa von Neuhofen bis Tulln reichend) an Graf Luitpold, den Stammvater des Geschlechts der Babenberger. Diese konnten dank ihrer geschickten Politik, meist als Gefolgsleute der Kaiser, ihren Einflussbereich in alle Richtungen erweitern (bis an die Grenzflüsse Leitha, March und Thaya), avancierten bald zu mächtigen Markgrafen und erlangten im Jahr 1156 infolge des soge.en Privilegium minus (einer nur in Abschriften erhaltenen Urkunde aus der Kanzlei Kaiser Friedrichs I.) durch die Erhebung der Markgrafschaft Ö. zum Herzogtum die Unabhängigkeit von Bayern. Bereits unter den babenbergischen Herzögen wurde die Residenz von Klosterneuburg nach Wien verlegt.

Als sich drei Jahrzehnte später im Herzogtum Steiermark, im Süden an das babenbergische Herzogtum grenzend, das Aussterben des Geschlechts der Traungauer abzeichnete, kam es im Jahr 1186 zu einer Vereinbarung zwischen dem letzten steirischen Herzog, Otakar IV. und dem Babenberger Leopold V., der sogenannten Georgenberger Handfeste, der zu Folge die Steiermark an das Haus Babenberg fallen und mit dem Herzogtum Ö. für immer verbunden bleiben sollte. Der Erbfall trat im Jahr 1192 ein. Die Steiermark reichte damals weit über das heutige Bundesland hinaus und umfasste weite Teile des heutigen Oberösterreichs. Die beiden Herzogtümer Ö. und Steiermark, beide in der Hand der Babenberger, bildeten auf diese Weise die Grundlage für die weitere Entwicklung jenes Raumes, der später Ö. (Austria) genannt wurde.

Eine weitere wichtige Etappe auf diesem Weg brachte das Aussterben der babenbergischen Herzöge im Jahr 1246 mit sich. Nachdem der letzte Babenberger, Friedrich II., im Kampf gegen die Ungarn gefallen war, ohne seine Nachfolge geregelt zu haben, da außerdem das Privilegium minus auch die weibliche Erbfolge vorsah, bildeten sich zwei Parteien rund um dessen weibliche Verwandte, Gertrud und Margarethe (und ihre jeweiligen Ehemänner), aus denen Ottokar II., König von Böhmen und Ehemann Margarethes, siegreich hervorging. Unterstützt von den österreichischen und steiermärkischen Ständen erlangte Ottokar 1252 die Würde eines Herzogs von Ö., 1261 die eines Herzogs von Steiermark und Krain, auch wenn er sich in der Zwischenzeit von Margarethe getrennt hatte. Die Entstehung eines „böhmischen“ Ö. wurde jedoch durch den berühmten Machtkampf zwischen Ottokar und dem deutschen König Rudolf von Habsburg verhindert: Bei Dürnkrut am Marchfeld kam es im Sommer 1278 zur Entscheidungsschlacht zwischen Ottokar und Rudolf, bei welcher der Habsburger siegte, während Ottokar sein Leben verlor.

Damit war der bleibende Übergang der babenbergischen Herzogtümer, einschließlich des Herzogtums Krain, an das Haus Habsburg verbunden – das Machtzentrum dieses ursprünglich aus dem Aargau stammenden Herrschergeschlechts verlagerte sich nach Osten.

Weitere Territorien kamen im Laufe des späteren Mittelalters zu den Herzogtümern Ö. und Steiermark (samt Krain) hinzu: 1335 übertrug Kaiser Ludwig („der Bayer“) das Herzogtum Kärnten an den Habsburger Friedrich III., später „der Schöne“ genannt; 1363 fiel die Grafschaft Tirol dank der Nachfolgeregelungen durch Margarethe Maultasch, Gräfin von Tirol und Görz, an Rudolf IV., den „Stifter“; im gleichen Jahr gelang es Rudolf IV., im heutigen Vorarlberg Fuß zu fassen, im Jahr 1382 unterstellte sich die Stadt Triest der habsburgischen Schutzherrschaft.

Für den Länderkomplex unter der Herrschaft der Habsburger, die vermehrt auch im Heiligen Römischen Reich eine Rolle spielten, bildete sich nun allmählich der Name „Ö.“ heraus, nachdem „Austria“ in der lateinischen Urkundenüberlieferung bereits seit Mitte des 12. Jh. gebräuchlich geworden war.

Auf Rudolf IV. geht die Fälschung des sogenannten Privilegium maius (1358/59) zurück, welches die habsburgischen Herrschaften mit „Sonderrechten“ ausstattete, darunter die Unteilbarkeit der Länder, die Erhebung Ö.s zum Erzherzogtum, das Recht der Primogenitur (einschließlich der weiblichen Erbfolge) sowie weitreichende „Souveränitäts“-Rechte in Unabhängigkeit vom Reich. Da diese Fälschung durch eine Reihe von späteren habsburgischen Kaisern bestätigt wurde, war sie bis ins 19. Jh. hinein geltendes Recht.

Trotz der in der Hausordnung festgelegten Unteilbarkeit vereinbarten die Brüder Rudolfs Albrecht III. und Leopold III. im Vertrag zu Neuberg an der Mürz (1379) eine Teilung der Herrschaften und der dynastischen Linien: Die albertinische Linie regierte im Erzherzogtum Ö., d. h. in den Ländern „ob und unter der Enns“; die leopoldinische Linie, die bald ihrerseits in eine steiermärkische und tirolische Linie geteilt wurde, in den „innerösterreichischen“ Ländern (Steiermark, Kärnten, Krain etc.) bzw. in Tirol und in den habsburgischen Besitzungen in Vorarlberg, in der Schweiz und in Süddeutschland. Die Zersplitterung führte vorübergehend zur Schwächung der habsburgischen Position auch innerhalb des Heiligen Römischen Reiches; andere mächtige Geschlechter (Luxemburger, Wittelsbacher) setzten ihren Führungsanspruch durch. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Ständen in Tirol bzw. mit den nach Unabhängigkeit strebenden Eidgenossen in der Schweiz führten schließlich in der ersten Hälfte des 15. Jh. zum Verlust der schweizerischen Stammlande.

Dennoch gelangte die albertinische („österreichische“) Linie mit Albrecht V. (als späterer Kaiser Albrecht II.) wieder verstärkt zu Macht und Einfluss. Albrecht V. erwarb als Schwiegersohn des luxemburgischen Kaisers und Königs Sigismund für das Haus Habsburg erstmals auch den Anspruch auf luxemburgische Gebiete sowie auf die ungarische, kroatische und böhmische Königskrone und wurde 1438 zum römisch-deutschen König gewählt. Sein früher Tod (1439) verhinderte allerdings zu diesem Zeitpunkt die Konsolidierung der habsburgischen Herrschaftsansprüche.

Erst mit der Wahl Friedrichs V. aus der leopoldinisch-tirolischen Linie (als späterer Kaiser Friedrich III.) zum römisch-deutschen König im Jahr 1440 und seiner Kaiserkrönung zwei Jahre später stabilisierte sich die habsburgische Herrschaft im Reich und damit auch in den „österreichischen“ Territorien. Dank einer Reihe von politisch-strategisch klug vorbereiteten Heiratsprojekten erweiterte sich dieser Kernbereich auch in den kommenden Generationen und nahm europäische Dimensionen an.

Friedrich III. selbst ehelichte 1452 Eleonore von Portugal und dehnte damit seinen Machtbereich auf die iberische Halbinsel aus; sein Sohn Maximilian, als römisch-deutscher Kaiser Maximilian I., erwarb durch die Eheschließung mit Maria von Burgund (1477) und Bianca Maria Sforza (1493) die Ansprüche auf das Herzogtum Burgund sowie das Herzogtum Mailand. Maximilian war ein Meister der habsburgischen Heiratspolitik. Er vermählte 1496 seinen Sohn Philipp mit Johanna von Kastilien, ein halbes Jahr später seine Tochter Margarethe mit Johann von Aragon und Kastilien, womit sich das Haus Habsburg auch in Spanien festsetzte. Nicht minder geschickt plante Maximilian auch die Wiedererlangung der Kronen Ungarns, Kroatiens und Böhmens. Um diese Ansprüche geltend zu machen, vereinbarte Maximilian mit König Wladislaw von Ungarn und Böhmen im Jahr 1515 eine weitere Doppelhochzeit für seine noch unmündigen Enkel; dabei kam der Ehe zwischen Erzherzogin Maria und Ludwig II. von Ungarn und Böhmen die größere Bedeutung zu, da Ludwig im Kampf gegen das Osmanische Reich in der Schlacht von Mohács elf Jahre später (1526) zu Tode kam und die ungarisch-kroatische und böhmische Krone daher tatsächlich an Maximilians Enkel Ferdinand fiel.

Das Haus „Ö.“ (Casa de Austria) machte sich nun endgültig den Namen des ursprünglichen Kerngebietes, des Erzherzogtums Ö. zu eigen: „Ö.“ reichte unter Maximilians Nachfolger und Enkel Karl V. (von 1519 bis 1558 römisch-deutscher Kaiser) von den heutigen Niederlanden und Belgien bis Spanien (einschließlich der Kolonien jenseits des Atlantiks), von Süddeutschland bis zu den böhmischen Ländern, und es umfasste die westlichen Gebiete des heutigen Ungarn und Kroatien. Überdies blieb im Haus Habsburg (mit einer einzigen Unterbrechung) von nun an bis 1806 auch die Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches verankert, obwohl das Reich ja niemals – im Gegensatz zu den habsburgischen „Erbländern“ – eine Erbmonarchie wurde. Durch Verzicht bzw. Aussterben der jeweiligen Linien waren auch Tirol einschließlich der vorländischen Besitzungen und die „innerösterreichischen“ Länder wieder an das Stammhaus zurückgefallen.

Das „Universalreich“ Karls V. konnte freilich nicht durch eine einzige Herrscherpersönlichkeit zusammengehalten werden. In den Verträgen von Worms und Brüssel (1521/22) überließ Karl seinem Bruder Ferdinand, als späterer Kaiser Ferdinand I., zunächst die fünf „niederösterreichischen Länder“, d. h. die Länder unter und ob der Enns, Steiermark, Kärnten und Krain, wenig später auch die südlichen Gebiete in Friaul, Görz und Triest. Auch die im Westen liegenden Länder Tirol, die österreichischen Vorlande und die Besitzungen im heutigen Württemberg fielen an Ferdinand.

Damit blieben die Linien und Herrschaftskomplexe der österreichischen und spanischen Habsburger auch für die Zukunft getrennt. Erst mit dem Aussterben der spanischen Linie im Jahr 1700 und dem Spanischen Erbfolgekrieg kam es insofern zu neuen Regelungen, als nun zwar die Trennung der spanischen und österreichischen Länderkomplexe erneut bestätigt wurde, jedoch die italienischen, vormals spanischen Gebiete (Neapel, Sizilien, Lombardei) ebenso wie die südlichen Niederlande an die österreichische Linie fielen. Neapel-Sizilien kam allerdings bald darauf an die spanischen Bourbonen (1735).

Auch im Osten und Südosten konnte sich „Ö.“ durch eine Reihe von siegreichen „Türkenkriegen“ territorial erweitern. Am Höhepunkt dieses Prozesses reichte die österreichische Herrschaft in der ersten Hälfte des 18. Jh. von Brüssel bis Mailand und von Breslau bis Belgrad.

Noch während des Spanischen Erbfolgekriegs hatte Karl VI. durch die „Pragmatische Sanktion“ (1713) nicht nur eine genaue Erbschaftsregelung erlassen, einschließlich der weiblichen Nachfolge, sondern auch die „Untrennbarkeit und Unteilbarkeit“ der habsburgischen Erbländer verfügt. Infolge der militärischen Auseinandersetzungen, zu welchen sich die Tochter Karls VI., Maria Theresia, zur Anerkennung ihrer Herrschaft nach dem Tode Karls VI. gezwungen sah, gingen reiche Gebiete im Norden Böhmens, verkürzt als „Schlesien“ bezeichnet, verloren.

Dennoch wurde die innere Staatsbildung unter Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. erfolgreich vorangetrieben, einschließlich weiterer Gebietsgewinne im Osten (Galizien, Bukowina).

Mitten in den Wirren der napoleonischen Kriege erklärte sich der letzte „erwählte“ römisch-deutsche Kaiser, Franz II., im Jahr 1804 zum „Kaiser von Ö.“ und legte zwei Jahre später, 1806, die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder. „Ö.“ war nun tatsächlich zu einem „Totum“ geworden, wie es bereits Maria Theresia angestrebt hatte. Beim Wiener Kongress (1814/15) wurde einerseits die Abtretung der südlichen Niederlande sowie aller vorländischen Besitzungen, mit Ausnahme der Herrschaften im künftigen Land Vorarlberg, verfügt; andererseits erhielt Ö. als Entschädigung das Gebiet der aufgelösten Republik Venedig zugesprochen. Gemeinsam mit der Lombardei kam es daraufhin zur Gründung des „Lombardo-venetianischen Königreichs“, das allerdings nicht von langer Dauer sein sollte.

Von Oberitalien aus begann der Zerfall der Monarchie. 1859 ging die Lombardei, 1866 Venetien verloren. Die entscheidende Niederlage im deutsch-deutschen Krieg (Königgrätz 1866), bei welchem Ö. auch seinen Vorsitz im Deutschen Bund verlor, führte 1867 zum sogenannten Ausgleich, mit dem die staatsrechtliche Trennung von Ungarn (einschließlich Kroatiens) beschlossen wurde: Ungarn war von nun an ein unabhängiger Staat, die beiden Einheiten waren nur durch die Person des Kaisers, die gemeinsame Außenpolitik und ein gemeinsames Heer verbunden. Die österreichisch-erbländischen Gebiete wurden jedoch, um die verschiedenen Nationalitäten nicht zu irritieren, nicht „Ö.“ genannt, sondern man sprach offiziell von den „im Reichsrat vertretenden Königreichen und Ländern“ bzw. „Cisleithanien“ (diesseits der Leitha gelegen). Der österreichische Teilstaat, der weit in die heutigen Staaten Polen, Ukraine, Rumänien hineinreichte, konnte sich im Jahr 1908 noch ein weiteres Mal infolge der Annexion von Bosnien und Herzegowina in den Südosten hinein erweitern.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs umfasste die Doppelmonarchie Ö.-Ungarn (nach der Statistik von 1910) 676 614 km2 und etwa 52 Mio. Einwohner. Sie zählte damit zu den größten Staaten Europas.

Im heutigen Kleinstaat, der nun wieder auf den Grundlagen seiner ältesten Kernländer beruht, sind die vielen Jahrhunderte seiner europäischen Vergangenheit längst aus dem Gedächtnis verschwunden. Die Ostarrîchi-Feiern zur Legitimierung seiner „tausendjährigen“ Geschichte gewinnen dadurch eine gewisse historische Ironie.

II. Politisch

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1. Von Hyperstabilität zu neuer Unberechenbarkeit

Ö. ist nicht Ö. Was einmal ein Sammelbegriff für die vom Haus Habsburg beherrschten Länder war, wurde 1918 zu einem kleinen Reststaat, der als einer der Nachfolgestaaten des alten Ö.s seine Rolle in der Mitte Europas erst finden musste. Dieses neue Ö. gab sich 1920 eine demokratische, republikanische Verfassung. Nach den Irrungen und Verirrungen von 1933 und 1934, die zwei Bürgerkriege und das Ende der Republik kennzeichneten, wurde Ö. 1938 an das nationalsozialistische Deutschland „angeschlossen“. 1945 entstand Ö. als Kleinstaat wieder – Folge der militärischen Niederlage Deutschlands, des politischen Willens der Alliierten und einer (anders als 1918) Bereitschaft der österreichischen Gesellschaft, die Unabhängigkeit des Landes nicht als aufgezwungene Notwendigkeit, sondern als selbst gewählte Lösung zu akzeptieren.

Die Wahlen im November 1945 begründeten die Hegemonie von zwei politischen Strömungen, die im alten, kaiserlichen Ö. verwurzelt und für das Scheitern der Republik 1933/34 verantwortlich waren: Ein katholisch-konservatives „Lager“, vertreten durch die konservative, christlich-demokratische ÖVP, stand einem sozialistischen Lager gegenüber, repräsentiert durch die SPÖ. Durch eine Politik der Machtteilung, des „Proporzes“, in Verbindung mit einer alle wesentlichen wirtschaftlichen Interessenverbände einschließenden „Sozialpartnerschaft“ (Tálos 2008) entwickelte Ö. eine demokratische Stabilität, die dem Land in der Vergangenheit weitgehend gefehlt hatte. 1955 unterzeichnete Ö. einen Staatsvertrag mit den Alliierten (USA, UdSSR, Vereinigtes Königreich, Frankreich), die sich ein Jahrzehnt lang in ihrer Doppelrolle als Befreier und Besatzer die politische Macht mit den österreichischen Verfassungsorganen geteilt hatten, und wurde in die volle Souveränität entlassen – unter der politischen Rahmenbedingung einer freiwillig erklärten „immerwährenden“ Neutralität.

Die politische Interpretation dieser Neutralität hinderte Ö. zunächst, sich aktiv an der europäischen Integration (Europäischer Integrationsprozess) zu beteiligen – trotz eines politischen Systems, das den Kriterien einer „westlichen“, liberalen Demokratie entsprach; und trotz wirtschaftlicher Verflechtungen mit dem Westen Europas. Das Hindernis fiel mit dem Ende des von der UdSSR politisch, wirtschaftlich und militärisch dominierten Blockes weg: Ö. wurde 1995 Mitglied der EU – ohne seine verfassungsrechtlich verankerte Neutralität aufzugeben.

Die Republik Ö. ist seit 1945 kein Staat mehr, der – wie noch 1918 – einer Gesellschaft aufgenötigt werden müsste. Dominierte nach dem Ende des großen multinationalen Kaiserreiches in der Republik noch die Vorstellung, das klein gewordene Ö. sei „nicht lebensfähig“ und müsste daher, seinem 1918 unbestrittenen „deutschen“ Charakter folgend, sich Deutschland „anschließen“, sorgten die Erfahrungen mit dem realen „Anschluss“ der Jahre 1938–45 dafür, dass die Existenz Ö.s als unabhängiger Staat und zunehmend auch als eigenständige Nation selbstverständlich wurde. In Verbindung mit der Stabilisierung demokratischer Strukturen wurde Ö. zu einem europäischen Normalstaat, dessen Normalität sich in seiner politischen Ordnung ebenso manifestierte wie in einem gesellschaftlichen Verhalten, das sich in das in Europa insgesamt herrschende Bewusstsein einordnete.

2. Das politische System

Das politische System Ö.s beruht auf dem B-VG von 1920, inzwischen eine der ältesten, geschriebenen, noch gültigen Verfassungen der Welt. Die Merkmale der durch die Verfassung gegebenen politischen Ordnung sind: a) republikanische Staatsform (Republik), definiert durch die Abwesenheit einer Monarchie; b) demokratische Regierungsform als repräsentative Demokratie, in der die Mehrheitsverhältnisse in einem frei gewählten Parlament darüber entscheiden, wer und wie regiert wird; c) Bundesstaatlichkeit (Bundesstaat), charakterisiert durch eine vertikale Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und neun Ländern – ergänzt durch eine seit 1995 bestehende zusätzliche Kompetenzverteilung zwischen Ö. und der EU; d) Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat), gekennzeichnet durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit, einschließlich eines mit der Normenkontrolle beauftragten Verfassungsgerichtshofes; e) Grund- und Freiheitsrechte, die zum Schutz von Minderheiten und einzelnen Personen der politischen Willensbildung Grenzen setzen und die in einem auf das Jahr 1867 zurückgehenden StGG verankert sind.

Dass die Republik Ö. seit ihrer Gründung 1918 nicht zu einer spezifischen Neuformulierung des im StGG formulierten Grundrechtekatalogs gefunden hat, ist die einzige signifikante, politisch-rechtliche Bindung Ö.s an jenes Ö., wie es als konstitutionelle Monarchie bis 1918 Bestand hatte. Diese Kontinuität spricht auch für den qualitativen Charakter der 1867 beschlossenen Regelung. Freilich kommt darin auch zum Ausdruck, dass in Ö. bestehende verfassungsrechtliche Ordnungen im Zweifel nicht angetastet werden. Dies gilt auch für das B-VG von 1920, das zwar mehrfach novelliert wurde, aber mit weitgehender Selbstverständlichkeit auch der Republik nach ihrer Wiedergründung 1945 als verfassungsrechtliche Grundlage dient.

Diese so verfassungsrechtlich determinierte Ordnung wird durch ein in der Verfassung nicht ausdrücklich vorgesehenes, aber faktisch vorhandenes Prinzip ergänzt: Parteienstaatlichkeit. Die politische Ordnung Ö.s ist historisch und aktuell von politischen Parteien bestimmt. Diese haben 1918 die Republik gegründet und ihr 1920 eine Verfassung gegeben. Und die Parteien haben 1945 die durch den militärischen Sieg der Alliierten offerierte Chance ergriffen, die Republik neu zu gründen, auf der Basis der Verfassung von 1920. Es waren die Parteien (im wesentlichen SPÖ und ÖVP), die auch für die entscheidenden politischen Weichenstellungen nach 1945 verantwortlich waren: 1955 Staatsvertrag und Neutralitätserklärung, 1995 Beitritt zur EU. Es waren und sind die Parteien, die das verfassungsrechtlich bestimmte Gerüst des politischen Systems mit Leben erfüllen. Und es sind die seit den 1980er Jahren sich abzeichnenden Änderungen im Parteiensystem – der Rückgang der Hegemonie von SPÖ und ÖVP – die einen Wandel innerhalb des politischen Systems auslösen.

Ö.s politisches System entspricht grundsätzlich den Merkmalen eines parlamentarischen Systems: „Das Volk“ – definiert als die Summe aller Staatsbürger – wählt direkt ein Parlament, den Nationalrat. Die vom Staatsoberhaupt (dem ebenfalls vom Volk gewählten Bundespräsidenten) bestellte Bundesregierung, an deren Spitze der Bundeskanzler steht, ist dem Nationalrat politisch verantwortlich und kann von diesem mit einfachem Mehrheitsbeschluss entlassen werden („Misstrauensvotum“). Dass Ö.s politisches System der Normalität europäischer parlamentarischer Systeme entspricht, äußert sich auch im Gesetzgebungsverfahren: Im Regelfall beschließt das Parlament Gesetze auf der Grundlage von Initiativen der Bundesregierung („Regierungsvorlagen“). Im Nationalrat sorgt eine ausgeprägte Fraktionsdisziplin dafür, dass die in der Zusammensetzung der Regierung spiegelnden parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse die Gesetzgebung bestimmen.

Elementen der direkten Demokratie (Plebiszit) kommt ein sekundärer, korrigierender Stellenwert zu: Eine qualifizierte Minderheit der Wahlberechtigten kann durch ein „Volksbegehren“ das Parlament zu einer legislativen Entscheidung zwingen, ohne freilich den Inhalt dieser Entscheidung vorgeben zu können. Und in Form einer „obligatorischen“ (von der Verfassung zwingend vorgesehenen) oder einer „fakultativen“ Volksabstimmung kann „das Volk“ direkt entscheiden. In der Geschichte Ö.s hat es zwei Volksabstimmungen gegeben: 1977, als der Nationalrat durch einen Mehrheitsbeschluss die Entscheidung über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf einer (fakultativen) Volksabstimmung übertragen hatte; und 1994, als – weil Prinzipien („Baugesetze“) der Verfassung betroffen waren – in einer obligatorischen Volksabstimmung über den Beitritt zur EU entschieden wurde.

Eine Besonderheit ist die Stellung des Bundespräsidenten. Dieser ist mit einer in parlamentarischen Systemen eher unüblichen Machtfülle ausgestattet: Er bestellt, bzw. muss einen Bundeskanzler bestellen – und auf dessen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung (Bundesminister und Staatssekretäre). Formell ist der Bundespräsident dabei nicht von irgendwelchen politischen Bestimmungen eingegrenzt. Aber de facto muss er berücksichtigen, dass eine von ihm im Gegensatz zum Mehrheitswillen des Nationalrates bestellte Regierung rasch durch ein Misstrauensvotum wieder gestürzt werden könnte. Formell kann der Bundespräsident zwar die Bundesregierung von sich aus entlassen, aber er müsste sofort eine neue Regierung bestellen, ohne die das Staatsoberhaupt selbst nicht handlungsfähig wäre. Dadurch ist der Bundespräsident an die Mehrheitsverhältnisse des Nationalrates gebunden.

Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern begründet, rechtlich gesehen, einen Überhang der Kompetenzen des Bundes. Die Verfassung gibt alle wesentlichen Kompetenzen dem Bund – die österreichischen Länder haben z. B. keine Steuer- und auch keine Polizeikompetenz. Die verfassungsrechtliche Asymmetrie zwischen Bund und Ländern äußert sich auch durch die Nachrangigkeit der zweiten Kammer des Parlaments, des Bundesrates: Dieser wird von den Länderparlamenten (Landtagen) entspr. der Stärke der Fraktionen nominiert. Der Bundesrat hat im Gesetzgebungsverfahren gegenüber dem Nationalrat nur ein aufschiebendes Vetorecht und die Bundesregierung ist von den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat unabhängig.

Durch die Realität der Parteienstaatlichkeit erhalten die Länder freilich eine größere politische Bedeutung, als aus dem Wortlaut der Verfassung abzulesen wäre: Da die Mehrzahl über Jahrzehnte immer von einer Partei politisch dominiert wird (v. a. Niederösterreich, Oberösterreich, Tirol, Vorarlberg von der ÖVP – Wien von der SPÖ), genießen die Repräsentanten der dominanten Länderparteien eine bes. starke Stellung in ihrer jeweiligen Bundespartei und so in der Bundespolitik.

Das Spannungsfeld zwischen einem in der Verfassung ausgedrückten Übergewicht des Bundes und einer in der politischen Wirklichkeit deutlichen Vetomacht der Länder führt zu einem permanenten Diskurs über die Reform der Bundesstaatlichkeit. Sie bleibt aber zumeist Rhetorik, weil im Vieleck zwischen den Parteien auf der Bundesebene und den Parteien in den Ländern der für eine Neudefinition der Bundesstaatlichkeit notwendige Minimalkonsens sich nicht herstellen lässt.

Als Folge der EU-Mitgliedschaft bekommt Ö.s Bundesstaatlichkeit eine zusätzliche Dimension. Es ist der Bund, der Kompetenzen an die Union abgetreten hat – etwa durch Ö.s Mitgliedschaft in der EWWU und durch Ö.s Verpflichtungen im Rahmen des Europäischen Binnenmarktes; aber es ist auch der Bund, der direkt (im Rat der Europäischen Union) und indirekt (durch die Nominierung eines Mitglieds der Europäischen Kommission und eines Mitglieds des EuGH) auf europäischer Ebene agiert. Auf diese Weise sind die Kompetenzen des Bundes sowohl geschwächt wie auch gestärkt.

3. Politische Kultur

Die politische Kultur der Republik Ö. war in den ersten Jahrzehnten nach 1945 das Musterbeispiel einer Konkordanzdemokratie. Die dominanten politischen Kräfte – organisiert in zwei Parteien (ÖVP, SPÖ) und in der Sozialpartnerschaft, in der zentralisierte Verbände der Arbeitnehmer (ÖGB, Arbeiterkammern), der Arbeitgeber (WKÖ) und der Landwirtschaft (Landwirtschaftskammern) zusammenarbeiteten – folgten dem Muster politischer Machtteilung („power sharing“). Ö. war eine auch im internationalen Vergleich auffallend stabile „consociational democracy“ – in deutlichem Gegensatz zu der Periode nach 1918, als Ö.s politische Kultur als „centrifugal democracy“ einzustufen war (Lijphart 1977: 106).

Die nach 1945 entwickelte politische Kultur war auch ein Beispiel für die Lernfähigkeit der österreichischen Gesellschaft und der österreichischen Politik. Das Ende der österreichischen Demokratie in der „Ersten Republik“, 1933 und 1934, war das Ergebnis der Unfähigkeit der politischen Eliten, einen tragfähigen Konsens zu entwickeln. Die Fähigkeit dieser Eliten (v. a. in ÖVP und SPÖ), nach 1945 zu einer neuen Form der politischen Kultur zu finden, die den demokratischen Wettbewerb mit einer hohen Stabilität verbindet – durch wechselseitige Garantien der Machtbeteiligung – bildete die Grundlage der „Zweiten“ Republik.

Die Konkordanzdemokratie sorgte für politische Stabilität, die sich in einer geringen Veränderung des Wahlverhaltens ausdrückte: Die Schwankungsbreite zwischen den beiden Großparteien SPÖ und ÖVP war gering, die dritte Traditionspartei – die FPÖ, die aus der Tradition des deutschnationalen Lagers kommt – war bis in die 1980er Jahre hinein kaum ein Störfaktor, und vierte Parteien blieben bedeutungslos. Ö. war Jahrzehnte hindurch ein „Zweieinhalb-Parteiensystem“.

In den 1980er Jahren zeigte sich, dass die Bindungsfähigkeit von SPÖ und ÖVP deutlich zurückging. Die FPÖ entwickelte sich von einer Kleinpartei zu einer Mittelpartei, und eine neue Partei – die Grünen – etablierte sich im österreichischen Parlamentarismus. Die primäre Ursache für diesen Wandel war v. a. der Generationenwechsel: Die für die politische Kultur der Jahrzehnte nach 1945 entscheidenden Generationen vermochten immer weniger, ihre Bindungen an die traditionellen Großparteien an die nächsten Generationen weiterzugeben. Die Faktoren Region, Geschlecht und Alter bestimmten immer stärker das Wahlverhalten.

In Verbindung mit dem Faktor Bildung verlor die traditionelle Links-Rechtsachse des Parteiensystems an Erklärungswert: Die FPÖ, die bis dahin v. a. als bürgerliche Honoratiorenpartei mit einem deutschnationalen Hintergrund politisch „rechts“ wahrgenommen wurde, gewann immer mehr die Stimmen aus dem Arbeitermilieu – auf Kosten der SPÖ. Die Grünen, die als eher „linke“ Partei gesehen werden, sprachen v. a. besser gebildete Schichten der Bevölkerung an – auf Kosten der ÖVP. Überdies konnten FPÖ und Grüne v. a. jüngere Wähler gewinnen, SPÖ und ÖVP wurden immer mehr die Parteien der „Alten“.

SPÖ/ÖVP kombiniert in Prozent Zahl der Parteien im Nationalrat
1979 92,9 3
1983 90,8 3
1986 84,4 4
1990 74,9 4
1994 62,6 5
1999 60,1 4
2002 78,8 4
2006 69,7 5
2008 55,2 5
2013 50,8 5
2017 58,4 5
2019 58,7 5

Tab. 1: Stimmenanteil SPÖ/ÖVP kombiniert, Zahl der im Nationalrat vertretenen Parteien (Quelle: amtliche Wahlergebnisse)

Die Konzentration des Parteiensystems, gemessen an der Zahl der im Parlament vertretenen Parteien und der Dominanz der Großparteien, ging innerhalb eines Vierteljahrhunderts deutlich zurück. Konkurrenz im Parteiensystem wurde vielfältiger, Wahlergebnisse waren weniger prognostizierbar, und Mehrheitsbildungen im Nationalrat (und damit auch Regierungsbildungen) immer schwieriger. Dieser Prozess der tendenziellen Auflösung einer bestimmten politischen Kultur ist keineswegs am Ende: Im österreichischen Parteiensystem ist offenbar noch Spielraum für weitere Entwicklungen – etwa durch die Etablierung einer liberalen Partei wie das „Liberale Forum“, das zwischen 1993 und 1999 im Nationalrat vertreten war, oder die liberale Partei der NEOS, die seit 2013 im Nationalrat ist.

Bei der Zersplitterung des Parteiensystems kommt dem in der Verfassung verankerten Grundsatz der Verhältniswahl (in Verbindung mit einer Vier-Prozent-Klausel) insofern Bedeutung zu, weil das österreichische Wahlrecht neuen Parteien den Weg ins Parlament verhältnismäßig leicht macht. Das im europäischen Vergleich auffallende Phänomen ist freilich weniger die seit den 1980er Jahren festzustellende Dekonzentration des Parteiensystems, sondern dass dieses trotz Verhältniswahl Jahrzehnte hindurch einen ungewöhnlich hohen Konzentrationsgrad aufgewiesen hat.

Der Wandel der politischen Kultur ist im Zusammenhang mit einer Veränderung der Gesellschaft zu sehen. Die Bindungsfähigkeit der Kirchen (insb. der in Ö. traditionell dominierenden römisch-katholischen Kirche) geht zurück. Auch der ÖGB – der sich nach 1945 zu einem der dichtest organisierten gewerkschaftlichen Dachverbände Europas entwickelt hat – kämpft mit einem Rückgang der Mitgliederzahlen. Die österreichische Gesellschaft ist einem Prozess signifikanter Veränderung unterworfen – im Zusammenhang mit den Faktoren Globalisierung (insb. einer in vielen Facetten erfolgenden Zuwanderung [ Migration ]) und Europäisierung (v. a. durch die Folgen der Freiheiten des Europäischen Binnenmarktes). Es sind Globalisierung und Europäisierung, die einen Teil der Gesellschaft verunsichern – während ein anderer Teil darin Entwicklungsmöglichkeiten für Ö. und auch für sich persönlich sieht. Entlang dieses Widerspruchs vertieft sich eine Konfliktlinie, die zu überbrücken die traditionellen politischen Kräfte immer weniger in der Lage sind. Eben deshalb ist der Faktor „Bildung“ eine entscheidende Determinante politischen Verhaltens, weil er einem Teil der Gesellschaft eine zukunftsoptimistische Sicht vermittelt, die einem anderen Teil verschlossen bleibt.

Diese Veränderungen höhlen die lange Zeit von Generation zu Generation weitergegebenen politischen Loyalitäten aus. An die Stelle von weltanschaulich geprägten Bindungen von Lagerparteien tritt eine neue Unübersichtlichkeit des politischen Verhaltens. Die „populistisch“ gekennzeichneten Signale von Parteien (Populismus), die sich an oft rasch wechselnden Gefühlslagen bestimmter Segmente der Wählerschaft orientieren, setzen sich immer stärker durch. Der Typus des „Stammwählers“ verliert gegenüber dem Typus des „Wechselwählers“ an Bedeutung.

In einen europäischen Kontext gestellt weist diese Verbindung von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen auf einen Prozess der „De-Austrifizierung“, der ebenso als „Europäisierung“ zu kennzeichnen ist. Das in seiner rechtlich-formalen Dimension (der Verfassungsordnung) unveränderte politische System hat sich in Wirklichkeit deutlich verändert – in Form des Wandels einer für die Jahrzehnte nach 1945 typischen, spezifisch österreichischen politischen Kultur in eine Richtung, die auf einen Abbau der Merkmale einer Konkordanzdemokratie und der Sozialpartnerschaft, eines Rückgangs sowohl der hohen Berechenbarkeit des Wahlverhaltens wie auch der auffallenden Konzentration des Parteiensystems hinausläuft. Diese Entwicklungslinien machen die österreichische Demokratie anderen – v. a. westeuropäischen – Demokratien immer ähnlicher.

III. Wirtschaftlich

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1. Wirtschaftsentwicklung

Die Wirtschaftsentwicklung Ö.s nach 1945 ist durch einen langfristigen, allerdings nicht friktionslosen Aufholprozess charakterisiert, der einen nur schwach entwickelten Industriestaat zu einem der reichsten Länder Europas gewandelt hat. Das BIP je Einwohner liegt in den 1960er Jahren im EU-15-Durchschnitt. 2012 erreicht Ö. ein Pro-Kopf-BIP von 122 % des EU-15-Durchschnitts (2016: 116 %). 1960 erreichte Ö. ein Pro-Kopf-BIP, das 81 % des deutschen umfasste. Diesen Abstand konnte es auf 93 % (1990) verkleinern. Seit der deutschen Wiedervereinigung übersteigen die österreichischen die deutschen Pro-Kopf-Einkommen.

Der Zweite Weltkrieg hat in Ö. erhebliche Zerstörungen der Infrastruktur hinterlassen. Abwanderung, Kriegsgefangenschaft und Reparationsforderungen der sowjetischen Besatzungsmacht erschwerten den Wiederaufbau der Produktionskapazitäten. Unter NS-Diktatur und Kriegswirtschaft war das Wirtschaftssystem stark zentralplanwirtschaftlich (Zentralverwaltungswirtschaft) geprägt. Bereits Ende 1945 setzt sich die provisorische Staatsregierung für eine Transformation zu einem westlich orientierten, marktwirtschaftlichen System ein. Finanzielle Hilfe der USA im ERP („Marshall-Plan“) trug dazu bei, die materiellen Kriegsfolgen relativ rasch zu mildern. In den frühen 1950er Jahren kann die Nahrungsversorgung der Bevölkerung normalisiert werden.

Ö. vollzieht in dieser Zeit einen Aufhol- und Restrukturierungsprozess, der – wie in Deutschland – als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wird. Angeschoben wurde diese Entwicklung durch die aktive Förderung von Unternehmensinvestitionen und Investitionen der 1946/47 verstaatlichten Schlüsselindustrien (Eisen- und Stahlindustrie, Versorgungs- und Elektrizitätswirtschaft, drei Banken), die insgesamt rund ein Fünftel der österreichischen Wertschöpfung ausmachten.

reales
BIP-Wachstum (% p.a.)
Offenheitsgrad
(% BIP)**
Arbeitslosenrate
(%)***
1951–1960 5,8 41,1*
1961–1970 4,5 46,4 1,5
1971–1980 3,6 59,0 1,3
1981–1990 2,2 66,8 3,3
1991–2000 2,6 72,2 4,2
2001–2010 1,5 93,9 4,9
2011–2016 1,1 103,2 5,4

Tab. 1: Makroökonomische Kennzahlen
* 1954-1960, ** (Importe+Exporte) in % BIP, *** Definition nach Eurostat

Das reale Wirtschaftswachstum erreicht in den 1950er und 1960er Jahren („Goldenes Zeitalter“) im Jahresdurchschnitt 5,8 % bzw. 4,5 % (Tab. 1). Nach den Ölkrisen von 1973/74 und 1979/80 flachen die Wachstumsraten ab. Durch die als „Austro-Keynesianismus“ (Seidel 1982) bezeichnete Nachfragesteuerung durch Subventionen, öffentliche Aufträge und Beschäftigung in Verwaltung und staatsnahen Betrieben, verbunden mit einer gemäßigten Lohnpolitik der Sozialpartner und einer Hartwährungspolitik der Nationalbank, konnte der Anstieg der Arbeitslosigkeit moderat gehalten werden.

In den 1990er Jahren eröffnet die politische und wirtschaftliche Transformation der Nachbarländer im Osten österreichischen Unternehmen neue Exportmärkte und Wachstumschancen. 1995 erfolgte der Beitritt zur EU. Bereits 1972 wurde durch den Assoziationsvertrag mit der EWG freier Warenverkehr vereinbart. Die volle Teilnahme Ö.s am Europäischen Binnenmarkt erwirkt nun Produktivitätssteigerungen durch Liberalisierung (Telekommunikation, Energie, Landwirtschaft), weitere Integrationseffekte im Handel, die Ausschöpfung wirtschaftlicher Größenvorteile, sinkende Transaktionskosten, zunehmende innereuropäische Mobilität der Arbeitskräfte und verschärften Preiswettbewerb. In den 1990er Jahren erzielt Ö. mit 2,6 % p. a. ein höheres Wachstum als die meisten EU-Mitglieder.

Die Teilnahme an der EWWU ab 1999 ist der nächste große wirtschaftspolitische Integrationsschritt. 2002 wird der Österreichische Schilling als Zahlungsmittel durch den Euro abgelöst. Schätzungen zufolge profitiert Ö. durch Ostöffnung, EU-Beitritt, Teilnahme an der EWWU und Beitritt der neuen Mitgliedsländer durch höheres Wachstum und Beschäftigung ganz beträchtlich. Finanzmarktverwerfungen und die große Rezession nach 2007/08 führen in Ö. zu einer längeren Phase unterdurchschnittlicher wirtschaftlicher Dynamik. Die realen Wachstumsraten sinken in den 2000er Jahren auf unter 2 %, die Arbeitslosenraten nehmen beträchtlich zu, sind aber im europäischen Vergleich gering.

2. Sektorale Wirtschaftsstruktur und internationale Verflechtung

Wie in allen entwickelten Ländern vollzieht sich im Ö. der Nachkriegszeit ein beschleunigter struktureller Wandel (Tab. 2). In den 1950er Jahren war Ö. noch agrarisch geprägt; der Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung im Jahr 1960 belief sich auf 12 %. Bis 2016 fällt der Anteil des Primärsektors auf 1,3 %. Der Wertschöpfungsanteil des Dienstleistungssektors wächst von 45 % (1960) auf knapp 71 % (2016). Mit einem Anteil von 17,5 % an der Bruttowertschöpfung aller Sektoren (2016) stellen öffentliche Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitswesen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in Ö. dar. Bes. Bedeutung hat in Ö. die Tourismuswirtschaft (Tourismus); die direkte Wertschöpfung der Branche beläuft sich 2016 auf etwa 6 % des österreichischen BIP. Der Anteil des Sekundärsektors (Industrie, Bau) geht von 1960 bis 2016 von 42 % auf 28 % zurück.

Als kleine Volkswirtschaft weist Ö. eine hohe außenwirtschaftliche Verflechtung auf, die durch die Europäische Integration an Dynamik gewinnt. Der Offenheitsgrad (Exporte plus Importe in Prozent des BIP) nimmt von unter 50 % in den 1950er und 1960er Jahren auf über 90 % in den 2000er Jahren zu (Tab. 1). Der Ausfuhranteil der EU beläuft sich auf 71,4 %, der Einfuhranteil auf 69,5 % (Stand 2016, Quelle: Statistik Austria). Mit einem Anteil von 30,5 % am Gesamtexport (2016) ist Deutschland das mit Abstand wichtigste Exportziel, gefolgt von den USA (6,7 %). 37,2 % der Einfuhren kommen aus Deutschland.

Sektor 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2016
Primär 12,1 7,5 4,9 3,5 1,8 1,4 1,3
Sekundär 42,2 40,8 37,2 33,4 31,6 28,7 28,0
Tertiär 44,9 51,2 58,0 63,2 66,5 69,9 70,7

Tab. 2: Bedeutung der volkswirtschaftlichen Sektoren (in % der Bruttowertschöpfung)
Quelle: AMECO Database

3. Öffentlicher Sektor

Der Staatssektor gliedert sich in die Gebietskörperschaften Bund, Länder, Gemeinden und die Institutionen der Sozialversicherung. Trotz des föderativen Aufbaus (Föderalismus) ist Ö. ein fiskalisch stark zentralisierter Staat, v. a. mit Blick auf die Verteilung der Besteuerungsrechte und Abgabenerträge. Die finanziellen Beziehungen zwischen den Gebietskörperschaften sind in der Finanzverfassung und in einem komplexen Finanzausgleichsgesetz geregelt, das in Grundzügen seit den 1950er Jahren Bestand hat. Rund 95 % der Abgaben (2015) werden vom Bund gesetzlich geregelt und erhoben. Nach Aufteilung der Abgabenerträge, Transfers und Kostenersätze verbleiben ca. 57 % dem Bund, den Ländern ca. 22 % und den Gemeinden (einschließlich Wien) 18,5 % der Erträge; etwa 2,5 % werden an die EU transferiert.

Staatsausgaben
(% BIP)
Staatsschulden
(% BIP)*
1951–1960 38,0 13,0
1961–1970 41,3 11,6
1971–1980 47,6 22,9
1981–1990 54,3 47,1
1991–2000 54,2 62,2
2001–2010 51,7 68,0
2011–2016 51,6 83,1

Tab. 3: Kennzahlen des Staatssektors
Quelle: Eurostat, Statistik Austria; 1976-1995 ESVG1995; danach ESVG2010; *vor 1970: Finanzschulden des Bundes.
Quelle: Flora u.a. 1983

Seit den 1960er Jahren ist die Staatsausgabenquote deutlich angestiegen. Von 1980 an liegt sie – mit Ausnahme des Jahres 2007 (49,5 %) – über 50 % des BIP und somit im oberen Drittel der EU-Mitglieder. Hohe Wachstumsraten weisen v. a. die Sozial- und Gesundheitsausgaben auf, die 2015 zusammen 57,5 % der Gesamtausgaben (175,4 Mrd. Euro) ausmachen. Trotz hoher und wachsender Einnahmen weist das gesamtstaatliche Budget seit Mitte der 1970er Jahre immer Defizite aus. Seither ist auch ein deutlicher Anstieg der Staatsverschuldung zu verzeichnen, der aufgrund von Bankenrettungsmaßnahmen in den Folgejahren der Finanzkrise 2008 (Finanzmarktkrise) an Dynamik gewinnt. 2016 erreicht der öffentliche Schuldenstand 295,7 Mrd. Euro (84,6 % des BIP).

4. Verteilungssituation

Ö. weist eine sehr gleichmäßige Einkommensverteilung auf. Der Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen, der auf einer Skala zwischen 0 und 100 die Ungleichheit misst, hat 2015 einen Wert von 27,2; d. i. der siebtniedrigste in der EU-28. Allerdings ist seit Beginn der 2000er Jahre die Ungleichheit leicht angestiegen. Der Quotient aus dem obersten und untersten Quintil der Einkommensanteile (S80/S20), erreicht 2015 den Wert 4,0. In der EU-28 beträgt der Wert 5,2 (Deutschland: 4,8). Der Anteil der Menschen mit erhöhtem Risiko von Armut und sozialer Exklusion (Inklusion, Exklusion) beträgt im Jahr 2015 18,3 % (EU-28: 23,8 %; Deutschland: 20,0 %).

Die vergleichsweise egalitäre Einkommensverteilung wird auch durch eine umfassende Politik der sozialen Sicherung erreicht. Die österreichische Sozialpolitik steht in der Tradition des konservativ-kontinentaleuropäischen Modells des Wohlfahrtsstaats, mit stark korporatistischen und etatistischen Elementen. In den Nachkriegsjahrzehnten erfolgt, wie in anderen Ländern Europas, eine kräftige Expansion des Sozialstaats. Die Sozialquote, die den Anteil der Sozialausgaben am BIP misst, steigt von 25,9 % (1980) auf 30,2 % (2015); etwa die Hälfte entfällt auf die Versorgung im Alter und für Hinterbliebene. Innerhalb der EU-28 liegt Ö. in der Gruppe der Länder mit dem höchsten Sozialausgabenanteil.

Bis in die späten 1970er Jahre hinein liegen die Arbeitslosenraten (Definition nach Eurostat) unter 2 %. Die Folgejahre sind von einer langsamen Zunahme der Arbeitslosenzahlen gekennzeichnet. Im Krisenjahr 2009 steigt die Arbeitslosenquote auf 5,3 % (223 000 Personen) an, und 2016 erreicht Ö. mit einer Quote von 6,0 % (270 000 Personen) den höchsten Stand seit den 1950er Jahren. Gleichzeitig wächst die Zahl der Beschäftigten durch starke Zuwanderung (Migration) aus europäischen Nachbarländern und den Anstieg von Teilzeitarbeit.

5. Wirtschaftspolitische Entscheidungsstrukturen

Das österreichische Modell der Sozialen Marktwirtschaft ist von korporatistischen Strukturen (Korporatismus) und staatsnahen Unternehmen geprägt. Typisch ist eine aktive und interventionistische Rolle des Staates und der Sozialpartner. Zunehmend höhere Verluste der verstaatlichten Industrien machen in den 1980er Jahren zwar eine (teilweise) Privatisierung verstaatlichter Unternehmen notwendig. Bis heute hält die Republik wesentliche Beteiligungen an börsennotierten Unternehmen, die von der Österreichischen Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH verwaltet werden.

Die Regulierung von Arbeitsbeziehungen und das tarifliche Lohnverhandlungssystem zeichnen sich durch koordinierte Verhandlungen auf Industrieebene aus. Das österreichische System der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft umfasst aber traditionell auch eine enge Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern bei Zielformulierung und Implementierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Kern der Sozialpartnerschaft ist das abgestimmte Handeln der wirtschaftlichen Interessenverbände ÖGB, WKÖ, Bundesarbeiterkammer und Landwirtschaftskammer. Für alle Kammern besteht eine nicht unumstrittene Pflichtmitgliedschaft. Die Mitwirkung der Verbände erfolgt sowohl über die paritätische Besetzung von Kontroll- und Entscheidungsgremien als auch über eine enge personelle und parteipolitische Verbindung zu Regierung und Legislative.

Die starke Rolle der Sozialpartnerschaft wird oft als zentraler Faktor für die wirtschaftliche Stabilität Ö.s angesehen. So stärkt die institutionelle Einbindung der Sozialpartner die Konsens- und Konfliktlösungskultur, und begünstigt ab den 1960er Jahren eine beschäftigungsfreundliche produktivitätsorientierte Tarifpolitik mit einer geringen Streikintensität. In jüngerer Zeit verschärft sich jedoch die Kritik an vorparlamentarischen und intransparenten Entscheidungsprozessen, die auch in politisch motivierten Postenbesetzungen und in Reformblockaden ihren Ausdruck finden.

Die Geldpolitik liegt nach 1945 zunächst in den Händen der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB). Ursprünglich erfolgt die Steuerung der Inflation durch „Preis-Lohn-Abkommen“ der Sozialpartner. Ab den 1970er Jahren richtet die OeNB ihre Währungspolitik an der DM aus, um Preisstabilität des Schillings zu gewährleisten. Im Zuge des Beitritts zur EU gehört Ö. dem Wechselkursmechanismus des EWS an. Mit Jahresbeginn 1999 wird der Euro als Buchgeld eingeführt, und die geldpolitischen Kompetenzen gehen in der Eurozone auf die EZB über. Die Budgetpolitik verbleibt grundsätzlich in der Hand der Mitgliedsländer, allerdings ist der fiskalpolitische Spielraum durch Vorgaben des Europäischen Fiskalpakts limitiert. Zur Koordination der Gebietskörperschaften wird die Schuldenbremse durch den Österreichischen Stabilitätspakt 2012 verankert, der ab 2017 für den Gesamtstaat ein strukturelles Defizit von höchstens 0,45 % des BIP erlaubt.