Misstrauensvotum

1. Begriff und Bedeutung

M. bezeichnet ein in parlamentarischen Regierungssystemen verfassungsrechtlich geregeltes Verfahren mit dem Ziel, der Regierung, dem Regierungschef oder einzelnen Ministern durch Mehrheitsbeschluss des Parlaments das Vertrauen zu entziehen und damit zum Rücktritt zu zwingen. Die Initiative zum M. geht – im Gegensatz zur Vertrauensfrage des Regierungschefs – vom Parlament aus. Der Abstimmung geht ein Misstrauensantrag voraus, der nach den meisten Verfassungen von einem Mindestquorum an Parlamentsmitgliedern unterstützt bzw. eingebracht werden muss. Zwischen dem Antrag und der Abstimmung sind i. d. R. Fristen festgesetzt. Besteht verfassungsrechtlich ein Junktim zwischen der Berechtigung zur Abwahl eines Regierungschefs und der Notwendigkeit der Benennung eines Nachfolgers, so handelt es sich um ein konstruktives M. Ist diese Voraussetzung nicht gefordert, kommt es also infolge eines Misstrauensantrags lediglich zur Auflösung der Regierung ohne das konstruktive Element der gleichzeitigen Regierungsneubildung, so wird dies als einfaches oder destruktives M. bezeichnet. Das Parlament bzw. die Parlamentsmehrheit wird durch das konstruktive M. gezwungen, sich nach dem Entzug des Vertrauens gegenüber der abgewählten Regierung der Kreationsverantwortung zu stellen, demnach die Anschlussregierung mit dem Vertrauen auszustatten, das im parlamentarischen Regierungssystem funktionslogisch nötig ist. Destabilisierende Regierungskrisen, nicht selten eine Folgeerscheinung des destruktiven M.s, werden mit der konstruktiven Variante (präventive Wirkung) wenn auch nicht immer verhindert, so doch in ihrer Entfaltungsmöglichkeit erheblich eingeschränkt.

In die Verfassungen der Länder mit einem parlamentarischen Regierungssystem hat sowohl das destruktive M. (z. B. Österreich, Frankreich, Großbritannien) wie auch die konstruktive Modifikation (z. B. Deutschland, Spanien, Belgien) Eingang gefunden. Auch die Verfassungen der deutschen Bundesländer beinhalten nicht nur am GG angelehnte Ausgestaltungsvarianten des konstruktiven M.s (darunter Mecklenburg-Vorpommern, NRW, Sachsen, Schleswig-Holstein), sondern auch des destruktiven M.s gegen den Regierungschef oder einzelne Minister (z. B. Baden-Württemberg mit Zweidrittelmehrheit). Einzig die Verfassung des Freistaats Bayern kennt ein (formalisiertes) M. nicht.

2. Das konstruktive Misstrauensvotum des GG

Die Tatsache, dass es während der Weimarer Republik zu lediglich zwei (destruktiven) M. nach Art. 54 WRV (1926 gegen die Minderheitskabinette Hans Luther und Wilhelm Marx) kam, mag angesichts der destruktiven Rolle, die diesem parlamentarischen Instrument insb. während der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates zugesprochen wurde, erstaunen. Dabei ist aber zu bedenken, „daß der Art. 54 WRV nicht nur durch seine tatsächliche Anwendung, sondern auch schon durch seine bloße Möglichkeit eine Rolle spielte“ (Berthold 1997: 82). So sind manche Regierungs- wie auch Ministerrücktritte, die aus zerfallenden Koalitionen innerhalb eines instabilen, inhomogenen und politisch stark divergierenden Parteiensystems resultierten, unter dem Damoklesschwert eines drohenden M.s zu interpretieren.

Vor diesem Hintergrund schien es 1948 ein Gebot der Stunde, dieses schärfste Instrument der parlamentarischen Kontrolle mit einer „den Regierungssturz erschwerenden Konstruktivitätsklausel“ (Berthold 1997: 82) zu versehen. Dementsprechend legt Art. 67 GG fest: „(1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen.“ Mit dem Vertrauensentzug (destruktives Element) der Parlamentsmehrheit (der im Erfolgsfalle zum Kanzlersturz führt) ist somit nicht nur das Recht, sondern untrennbar die Pflicht verbunden, einen neuen Kanzler zu wählen (konstruktives Element). Das M. ist die verfassungsmäßig einzige Form des Kanzlersturzes, der Bundestag somit das einzige hierzu befugte Verfassungsorgan.

Die Verfahrensschritte sind neben dem GG in § 97 GOBT geregelt: Der Antrag muss demnach von einem Viertel der Bundestagsabgeordneten oder einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Abgeordneten umfasst, unterzeichnet werden. Weiterhin muss der Antrag einen namentlich benannten Nachfolgekandidaten enthalten sowie das Ersuchen an den Bundespräsidenten, den bisherigen Bundeskanzler zu entlassen. Die Abgabe mehrerer Anträge mit jeweils alternativen Kandidatenvorschlägen ist statthaft. Das GG setzt zwischen den Antrag und die Abstimmung eine Frist von 48 Stunden. Diese Zeitspanne räumt den Akteuren die Möglichkeit ein, den Antrag nochmals auf seine Ernsthaftigkeit und Durchsetzbarkeit hin zu überprüfen. Vor der Abstimmung über den Misstrauensantrag kann – im Gegensatz zur Kanzlerwahl – eine Aussprache stattfinden. Der Antrag ist erfolgreich, wenn sich in geheimer Wahl die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags für einen Nachfolger entscheidet. In diesem Falle ist der Bundespräsident zur unverzüglichen Entlassung des bisherigen Kanzlers (und damit aller Bundesminister) und zur Ernennung des gewählten Nachfolgers verpflichtet. Wird die absolute Mehrheit nicht erreicht, bedeutet dies das endgültige Scheitern des Antrags. Eine Wiederholung der Wahl ist nicht vorgesehen; allerdings ist es jederzeit möglich, einen Antrag neu zu stellen.

Auf Bundesebene wurde das konstruktive M. bislang zweimal eingesetzt: 1972 scheiterte Rainer Barzel bei dem Versuch, Bundeskanzler Willy Brandt zu ersetzen; 1982 hingegen gelang Helmut Kohl die Ablösung der Regierung von Helmut Schmidt.