Rat der Europäischen Union

1. Begriff

Der Rat der Europäischen Union (R.) als Organ der EU (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) wird wegen seiner Zusammensetzung auch „(EU-)Ministerrat“ genannt. Durch diese (nicht amtliche) Bezeichnung wird auch eine Verwechslung mit dem Europäischen Rat vermieden.

2. Zusammensetzung

Der R. besteht aus je einem Vertreter eines jeden Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des von ihm vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben. Nach EU-Gewohnheitsrecht dürfen Staatssekretäre die Minister vertreten. Die gegenüber der früheren Fassung (Art. 146 EWGV: „Der Rat besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten. Jede Regierung entsendet eines ihrer Mitglieder.“) durch den Vertrag von Maastricht erfolgte Erweiterung dient dazu, föderalen Mitgliedstaaten die Entsendung von Vertretern der regionalen Gebietskörperschaften zu ermöglichen. In Deutschland wurde davon in Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG Gebrauch gemacht. Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der BRD als Mitgliedstaat der EU zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. Gegenüber der ursprünglichen Fassung wurden durch die Föderalismusreform (2006) die relevanten Gebiete enumerativ präzisiert, dafür die Übertragung obligatorisch („wird“ statt „kann“) gemacht. Zur Sicherstellung der Kohärenz der deutschen Position erfolgt die Wahrnehmung der Rechte unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung und es ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren (Art. 23 Abs. 6 S. 2 GG). Die Einzelheiten dieser Übertragung sowie Ausnahmen davon sind in § 6 Abs. 2–4 EUZBLG geregelt. Der R. tagt in verschiedenen Zusammensetzungen (Art. 16 Abs. 6 UAbs. 1 EUV), weshalb er in den verschiedenen Formationen (gemäß Art. 236 AEUV festgelegt: Wirtschaft und Finanzen; Justiz und Inneres; Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz; Wettbewerbsfähigkeit; Umwelt; Bildung, Jugend, Kultur und Sport; Verkehr, Telekommunikation und Energie; Landwirtschaft und Fischerei) gleichzeitig tagen kann. Als R. Allgemeine Angelegenheiten sorgt er für die Kohärenz der Arbeiten des R.es in diesen verschiedenen Zusammensetzungen (Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 EUV). Abgesehen vom R. Auswärtige Angelegenheiten, in dem der Vorsitz (ohne Stimmrecht) gemäß Art. 18 Abs. 3 EUV durchweg vom Hohen Vertreter (bzw. der Hohen Vertreterin, da bislang von den Frauen Catherine Ashton [Vereinigtes Königreich] und Federica Mogherini [Italien]) der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik geführt wird (zur Doppelfunktion – sogenannter Doppelhut – als Vizepräsidentin der EU-Kommission und zur Mitwirkung im Europäischen Rat s. dort), wird der Vorsitz in allen Zusammensetzungen von den Vertretern der Mitgliedstaaten in gleichberechtigter Rotation wahrgenommen (Art. 16 Abs. 9 EUV), und zwar für ein halbes Jahr (2018: Bulgarien, Österreich; 2019: Rumänien, Finnland; 2020: Kroatien, Deutschland; 2021: Portugal, Slowenien). Das Vereinigte Königreich hat wegen des anstehenden „Brexits“ verzichtet. Der Vorsitz wird jeweils von seinem Vorgänger und Nachfolger unterstützt (sogenanntes Trio). Der R. wird vom Ausschuss der Ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten unterstützt, der seine Tagungen vorbereit (Art. 16 Abs. 7 EUV).

3. Aufgaben

Art. 16 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV hebt die Aufgabe des R.es als Gesetzgeber und Haushaltsgesetzgeber (vgl. Art. 314 AEUV) hervor, die seit dem Vertrag von Maastricht (Verfahren der Mitentscheidung) und verstärkt seit dem Vertrag von Lissabon im Wesentlichen gleichberechtigt (soweit auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, Art. 294 AEUV, Bezug genommen wird, z. B. Art. 114 AEUV: Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes) gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ausgeübt wird. Insoweit bedürfen Gesetzgebungsakte (EU-Verordnungen, EU-Richtlinien, Europarecht) der Billigung beider Organe, die ggf. durch ein Vermittlungsverfahren (Art. 294 Abs. 10–12 AEUV) herbeigeführt wird. Hauptrechtsetzungsorgan ist der R. nur noch in den Fällen des besonderen Gesetzgebungsverfahrens, in denen das Europäische Parlament nicht zustimmen muss (z. B. Art. 19 Abs. 1 AEUV: Antidiskriminierungsverfahren), sondern nur angehört wird (z. B. Art. 113 AEUV: Harmonisierung der indirekten Steuern). Als weitere Aufgabe des R.es wird „die Festlegung der Politik und die Koordinierung nach Maßgabe der Verträge“ hervorgehoben (Art. 16 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV). Insoweit gehört zu den bedeutsamsten Aufgaben die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (Art. 121, Art. 119 Abs. 1 AEUV), deren Erfolg entscheidend vom Gelingen der EU als einheitlichem Wirtschaftsraum und insb. (teilweise, derzeit für 19 Mitgliedstaaten) der EWWU abhängt. Als R. „Auswärtige Angelegenheiten“ gestaltet er das auswärtige Handeln der EU entspr. den strategischen Vorgaben des Europäischen Rates. Dabei kommt ihm im Bereich der GASP zusammen mit dem Europäischen Rat eine dominierende Rolle zu (vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV), während er beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge und insb. der Gemeinsamen Handelspolitik mit der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament zusammenwirkt.

4. Beratung und Abstimmung

Wenn der R. über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten (Art. 289 Abs. 3 AEUV) berät und abstimmt, tagt er öffentlich, im Übrigen gemäß seiner Geschäftsordnung grundsätzlich nicht öffentlich. Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Beschlussfassung mit doppelt qualifizierter Mehrheit (55 % der Mitglieder, mindestens 15, die zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der EU ausmachen, Art. 16 Abs. 4 AEUV) zum Regelfall (Art. 16 Abs. 3 EUV). Einstimmigkeit ist nach wie vor in als politisch bes. brisant angesehenen Fällen erforderlich (z. B. Steuern, Art. 113 AEUV; Finanzen der EU, Eigenmittelbeschluss gemäß Art. 311 Abs. 3 AEUV; Vertragsergänzung, Art. 352 Abs. 1 AEUV; sogenannte Brückenklauseln, d. h. Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit, vgl. z. B. Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 AEUV). Die einfache Mehrheit genügt hauptsächlich bei organisatorischen und Verfahrensfragen. Die politische Brisanz von Mehrheitsentscheidungen für überstimmte Mitgliedstaaten zeigte sich in der sogenannten Luxemburger Vereinbarung von 1966 und zuletzt durch den Widerstand gegen Mehrheitsbeschlüsse im Bereich der Asylpolitik (erfolglose Klagen der Slowakei und Ungarns gegen die auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Beschlüsse 2015/1523 und 2015/1601 des R.es hinsichtlich vorläufiger Maßnahmen bei einem Massenzustrom, EuGH C-643/15 und C-647/15, ECLI:EU:C:2017:631). Dies setzt der geplanten Ausweitung des Mehrheitsprinzips in politisch brisanten Bereichen (z. B. Gemeinsame Verteidigungspolitik) Grenzen. Insoweit können Lösungen helfen, die Mehrheitsabstimmungen durch begrenzte Ausnahmen erleichtern (Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EUV: förmliche Enthaltung mit der Folge, an den Beschluss nicht gebunden zu sein; hinsichtlich der Rechtsangleichung im Binnenmarkt Art. 114 Abs. 4–6 AEUV: konditionierte mitgliedstaatliche Abweichungen). Ferner kommt eine verstärkte Zusammenarbeit im kleineren Kreis von Mitgliedstaaten in Betracht (Art. 20 EUV i. V. m. Art. 326–334 AEUV). Hinsichtlich der GASP wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Art. 42 Abs. 6, Art. 46 EUV) durch 25 Mitgliedstaaten 2017 beschlossen. Dieses Europa mehrerer Geschwindigkeiten, das hinsichtlich des Euro (vgl. Art. 139 ff. AEUV) und des Schengen-Raumes (Abbau der Grenzkontrollen; Schengen) auch das Primärrecht vorsieht, ermöglicht zwar ein Vorankommen mit der Chance, dass andere Mitgliedstaaten, denen dies offensteht (Art. 328 AEUV), nachziehen, erfordert aber eine Abstimmung, um eine Spaltung der Union zu verhindern oder deren Gefahren zumindest zu reduzieren.

5. Politische Bewertung

Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Position des R.es im System der EU v. a. durch die Aufwertung des Europäischen Rates (Übertragung bisheriger Befugnisse des R.es auf diesen; Bindung an dessen Vorgaben, Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 EUV; Art. 121 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV) geschwächt, worin letztlich in diesen Bereichen eine Stärkung des intergouvernementalen Ansatzes gesehen werden kann. Durch die Ausweitung der Mehrheitsabstimmung im R. wurde dessen Handlungsfähigkeit gestärkt, was mit der Vetoposition einzelner Mitgliedstaaten verbunden ist und (wie die Mitgliedschaft in der EU generell) deren eigene politische Gestaltungsfreiheit notwendig beschränkt. Dies zu akzeptieren und nach innen zu vermitteln ist eine wichtige politische Aufgabe der Mitgliedstaaten, aber auch der EU. Auch darin zeigt sich die „Scharnierfunktion“ des R.es als Bindeglied zwischen der EU (deren Organ er ist) und den Mitgliedstaaten, aus deren Vertretern er sich zusammensetzt. Wichtig ist daher auch die tatsächliche Realisierung der im Rahmen der in Art. 10 Abs. 2 EUV normierten doppelgleisigen demokratischen Legitimation der EU, die deren Struktur als Union der Bürger und der Staaten entspricht, vorgesehenen Rückbindung dieser Vertreter an die nationalen Parlamente (vgl. dazu hinsichtlich Deutschland Art. 23 Abs. 2–7 GG sowie EUZBBG, EUZBLG und IntVG; hinsichtlich Österreich Art. 23d und Art. 23e B-VG).